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«Nein.»

«Ich meine, sich den Fuß brechen, nachts um vier Anrufe faken, und du klingst, als wärst du höchstens dreizehn. Du bist in Schwierigkeiten. Oder ihr seid es.»

«Ja, na ja.»

«Und kannst natürlich nicht sagen, in welchen. Also nochmal: Brauchst du Hilfe?»

«Nein.»

«Sicher? Mein letztes Angebot.»

«Nein.»

«Okay. Dann hör ich einfach zu», sagte der Mann.

«Jedenfalls, wenn du uns mit dem Auto abholen könntest», sagte ich verwirrt.

«Wenn du nicht willst.» Er kicherte. Und das brachte mich endgültig aus dem Konzept.

Wenn er aufgelegt hätte oder rumgeschrien, 279

das hätte ich noch verstanden, nachts um vier.

Aber dass er sich die ganze Zeit amüsierte und uns seine Hilfe anbot - alter Finne. Seit ich klein war, hatte mein Vater mir beigebracht, dass die Welt schlecht ist. Die Welt ist schlecht, und der Mensch ist auch schlecht.

Trau keinem, geh nicht mit Fremden und so weiter. Das hatten mir meine Eltern erzählt, das hatten mir meine Lehrer erzählt, und das Fernsehen erzählte es auch. Wenn man Nach-richten guckte: Der Mensch ist schlecht.

Wenn man Spiegel TV guckte: Der Mensch ist schlecht. Und vielleicht stimmte das ja auch, und der Mensch war zu 99 Prozent schlecht.

Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich auf unserer Reise fast ausschließlich dem einen Prozent begegneten, das nicht schlecht war. Da klingelt man nachts um vier irgend-wen aus dem Bett, weil man gar nichts von ihm will, und er ist superfreundlich und bietet auch noch seine Hilfe an. Auf so was sollte man in der Schule vielleicht auch mal hinwei-sen, damit man nicht völlig davon überrascht wird. Ich war jedenfalls so überrascht, dass ich nur noch rumstotterte.

«Und ... in zwanzig Minuten, gut, ja. Du holst uns ab. Gut.» Zum krönenden Abschluss der 280

Performance wandte ich mich wieder an die Krankenschwester und fragte: «Wie heißt das Krankenhaus nochmal?»

«Falsche Frage!», zischte der Mann sofort.

Die Krankenschwester runzelte die Stirn.

Mein Gott, war ich blöd.

«Virchow-Klinik», sagte sie langsam. «Das ist das einzige Krankenhaus im Umkreis von fünfzig Kilometern.»

«Allerdings», sagte der Mann.

«Ah... sagt sie auch gerade!», sagte ich und zeigte auf den Telefonhörer.

«Und aus der Gegend seid ihr auch nicht», sagte der Mann. «Ihr habt ja richtig Scheiße am Hacken. Ich hoffe, ich les wenigstens morgen in der Zeitung, was los war.»

«Ja, hoffe ich auch», sagte ich. «Mit Sicherheit. Wir warten dann.»

«Alles Gute euch.»

«Ihn. ..dir auch!»

Der Mann lachte nochmal, und ich legte auf.

«Hat sie gelacht?», fragte die Krankenschwester.

«Ist nicht das erste Mal, dass wir ihr Kummer bereiten», sagte Tschick, der nur die Hälfte verstanden hatte. «Die kennt das schon.»

281

«Und das findet sie lustig?»

«Sie ist cool», erwiderte Tschick, und er be-tonte das Wort cool so, dass klar war, dass nicht alle Anwesenden in diesem Raum cool waren.

Eine Weile standen wir noch ums Telefon, dann sagte die Krankenschwester: «Ihr seid vielleicht zwei Früchtchen», und ließ uns gehen. 41

Wir stellten uns vor den Krankenhausein-gang und hielten Ausschau nach Tante Mona.

Als wir sicher waren, dass uns keiner beobachtete, rannten wir los. Das heißt, ich rannte und Tschick nicht so. Vor dem Feld stand einer kleiner Zaun. Tschick schmiss die Krücken rüber, dann sich selbst. Nach ein paar Metern auf dem Acker blieb er stecken. Das Feld war frisch gepflügt, und die Krücken ver-sanken darin wie heiße Nadeln in Butter, das ging gar nicht. Er fluchte, ließ die Krücken stecken und humpelte an meiner Schulter weiter. Als wir schätzungsweise ein Drittel vom Acker hatten, drehten wir uns zum ersten Mal um. Die Landschaft hinter uns war blau.

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Die noch vom Krankenhaus verdeckte Sonne schickte Licht durch Nebel und Baumkronen.

Die Krücken, eine etwas umgesunken, standen am Feldrand wie ein barmherziges Kreuz, und im Obergeschoss vom Krankenhaus sahen wir an einem der Fenster, vielleicht sogar an dem Fenster, von dem aus wir den Ab-schleppkran gesehen hatten, eine weißbekit-telte Gestalt, die uns nachschaute. Wahrscheinlich die Krankenschwester, die sich den Kopf darüber zerbrach, was für Bekloppte sie da gerade verarztet hatte. Hätte sie gewusst, wie bekloppt wir in Wirklichkeit waren, hätte sie vermutlich weniger ruhig dagestanden.

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