Aber es war ziemlich sicher, dass sie mitbe-kam, wo wir hinsteuerten, und es war auch sicher, dass sie uns beim Lada ankommen sah.
Das Dach und die rechte Seite waren einigermaßen eingedetscht. Allerdings nicht so stark, dass man nicht noch bequem drin sitzen konnte. Die Beifahrertür war im Eimer und ließ sich nicht mehr öffnen, aber über die Fahrertür konnte man einsteigen. Im Innenraum sah es aus wie auf einer Müllkippe. Der Unfall, das Umdrehen und Wiederaufrichten hatten alle unsere Vorräte, Konservendosen, Kanister, Papiere, leere Flaschen und Schlafsä-283
cke quer durchs Auto verteilt. Sogar die Richard-Clayderman-Kassette flog noch zwischen den Sitzen rum. Die Kühlerhaube hatte einen leichten Knick, und wo der Lada auf dem Dach gelegen hatte, klebte eine ölver-schmierte Sandkruste. «Ende, aus», sagte ich.
Tschick zwängte sich auf den Fahrersitz, schaffte es aber nicht, den Gips aufs Gaspedal zu stellen, der war zu breit. Er nahm den Gang raus, steckte die Kabel zusammen, drehte sich ein bisschen im Sitz herum und tippte mit der linken Fußspitze aufs Gas. Der Lada sprang sofort an. Tschick rutschte rüber auf den Beifahrersitz, und ich sagte: «Du hast sie doch nicht alle.»
«Du musst nur Gas geben und lenken», sagte er. «Ich schalt die Gänge.»
Ich setzte mich hinters Steuer und erklärte Tschick, dass das nicht ging. Der Tank war halb voll, der Motor im Leerlauf, aber wenn ich nur einen Blick auf die Autobahn warf und wie die da mit zweihundert an uns vorbei-rauschten, dann wusste ich, dass das nicht ging.
«Ich muss dir ein Geheimnis verraten», sagte ich. «Ich bin der größte Feigling unter der Sonne. Der größte Langweiler und der größte 284
Feigling, und jetzt können wir zu Fuß weiter.
Auf einem Feldweg würd ich's versuchen, vielleicht. Aber nicht auf der Autobahn.»
«Wie kommst du denn auf Langweiler?», fragte Tschick, und ich fragte ihn, ob er eigentlich wüsste, warum ich überhaupt mit ihm in die Walachei gefahren wäre. Nämlich weil ich der größte Langweiler war, so langweilig, dass ich nicht mal auf eine Party eingeladen wurde, zu der alle eingeladen wurden, und weil ich wenigstens einmal im Leben nicht langweilig sein wollte, und Tschick erklärte, dass ich nicht alle Tassen im Schrank hätte und dass er sich, seit er mich kennen würde, noch nicht eine Sekunde gelangweilt hätte. Dass es im Gegenteil so ungefähr die aufregendste und tollste Woche seines Lebens gewesen wäre, und dann unterhielten wir uns über die tollste und aufregendste Woche unseres Lebens, und es war wirklich kaum auszuhalten, dass es jetzt vorbei sein sollte.
Und dann sah Tschick mich lange an und sagte, ich solle nicht glauben, dass Tatjana mich nicht eingeladen hätte, weil ich langweilig wäre, oder dass sie mich nicht mögen würde deshalb.
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«Die Mädchen mögen dich nicht, weil sie Angst vor dir haben. Wenn du meine Meinung wissen willst. Weil du sie wie Luft behandelst und weil du nicht so weichgespült bist wie Langin, dieser Schwachkopf. Aber du bist doch kein Langweiler, du Penner. Und Isa mochte dich ja auch sofort. Weil sie nämlich nicht so doof ist, wie sie aussieht. Und weil sie ein paar Eigenschaften hat, wenn du weißt, was ich meine. Im Gegensatz zu Tatjana, die eine taube Nuss ist.»
Ich sah Tschick an, und ich glaube, mein Mund stand offen.
«Ja, ja, du liebst sie. Und sie sieht ja wirklich superporno aus. Aber im Ernst, im Vergleich zu Isa ist das eine taube Nuss. Und ich kann das beurteilen, im Gegensatz zu dir. Weil, soll ich dir auch noch ein Geheimnis verraten?», fragte Tschick und schluckte und sah aus, als hätte man ihm eine Bleikugel im Hals versenkt, und dann kam fünf Minuten nichts, und er meinte, dass er es beurteilen könnte, weil es ihn nicht interessieren würde. Mädchen. Dann wieder lange nichts und dann: Das hätte er noch niemandem gesagt, und jetzt hätte er es mir gesagt, und ich müsste mir keine Gedanken machen. Von mir wollte 286
er ja nix, er wüsste ja, dass ich in Mädchen und so weiter, aber er wäre nun mal nicht so und er könnte auch nichts dafür.
Und man kann jetzt denken von mir, was man will - aber ich war nicht wahnsinnig überrascht. Ich war wirklich nicht wahnsinnig überrascht. Ich hatte es nicht direkt gewusst, aber ich hatte so eine Ahnung gehabt, im Ernst. Als Tschick schon auf der ersten Fahrt mit dem Lada von seinem Onkel in Moskau angefangen hatte und auch die Sache mit der Drachenjacke und wie er Isa die ganze Zeit behandelt hatte - genau gewusst hatte ich's natürlich nicht. Aber im Nachhinein kam's mir vor, als hätte ich so eine Ahnung gehabt.
Tschick war mit dem Kopf auf das Armaturenbrett gesunken. Ich legte eine Hand in seinen Nacken, und dann saßen wir da und hörten «Ballade pour Adeline», und ich dachte einen Moment darüber nach, auch schwul zu werden. Das wäre jetzt wirklich die Lösung aller Probleme gewesen, aber ich schaffte es nicht. Ich mochte Tschick wahnsinnig gern, aber ich mochte Mädchen irgendwie lieber.
Und dann legte ich den ersten Gang ein und rollte los. Es war so traurig gewesen, die Nacht über im Krankenhaus zu sitzen und zu 287
denken, alles wäre vorbei, und es war so phantastisch, wieder durch die Windschutzscheibe vom Lada zu gucken und das Steuer in der Hand zu haben. Ich fuhr eine Proberunde auf dem Parkplatz. Die meisten Probleme machte immer noch das Schalten, aber wenn Tschick das übernahm und ich nur auf Kommando die Kupplung treten musste, ging es, und dann rollten wir mit Schwung auf die Autobahn. Rollten auf die Standspur und blieben stehen.
«Ganz ruhig», sagte Tschick, «ruhig. Wir machen das gleich nochmal.»
Wir warteten die nächste größere Lücke im Verkehr ab, und mit größere Lücke meine ich: kein Auto bis zum Horizont, und dann startete ich wieder und beschleunigte.
«Kupplung!», rief Tschick, und ich trat aufs Pedal, und er legte den zweiten Gang ein.
Ich war klitschnass.
«Alles frei, zieh rüber!» Tschick legte den dritten und dann den vierten Gang ein, und langsam ließ meine Aufregung nach.
Als der erste fette Audi mit fünfhundert Stundenkilometern an uns vorbeiraste, er-schrak ich noch, aber nach einer Weile hatte ich mich beruhigt, und im Grunde war Auto-288
bahn fahren viel einfacher als Kurven fahren und bremsen und schalten und beschleuni-gen. Ich hatte eine Fahrspur für mich allein und musste nur noch geradeaus. Ich sah die weißen Striche wie in der PlayStation auf mich zurasen - was tatsächlich verdammt anders aussieht, wenn man in einem richtigen Auto auf einem richtigen Fahrersitz sitzt, da kann keine Grafikkarte mithalten. Der Schweiß floss in Strömen und klebte meinen Rücken am Sitz fest. Tschick pappte mir zuletzt noch ein Stückchen schwarzes Isolierband auf die Oberlippe, und dann fuhren wir und fuhren.
Clayderman klimperte, und dass er da so klimperte und dazu das eingedetschte Dach, Tschicks zerstörter Fuß und dass wir in einer hundert Stundenkilometer schnellen, fahren-den Müllkippe unterwegs waren, machte ein ganz seltsames Gefühl in mir. Es war ein eu-phorisches Gefühl, ein Gefühl der Unzerstör-barkeit. Kein Unfall, keine Behörde und kein physikalisches Gesetz konnten uns aufhalten.
Wir waren unterwegs, und wir würden immer unterwegs sein, und wir sangen vor Begeisterung mit, soweit man bei dem Geklimper mit-singen konnte.
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Wir fuhren bis zur Dämmerung auf der Autobahn und bogen dann wieder aufs Land ein, irgendwo in der tiefsten Provinz. Ich rollte, ohne zu schalten, im dritten Gang durch die Felder, und alles war ganz still, und der Abend war still, und die Felder waren gelb und grün und braun, und sie wurden immer farbloser.
Tschick hatte seine Ellenbogen bei sich aus dem Fenster gehängt und den Kopf draufge-legt, und auch ich hatte meinen linken Arm aus dem Fenster gehängt wie bei einer Boots-fahrt, wenn man ins Wasser greift. Zweige von Bäumen und Sträuchern streiften meine Hand, und mit der anderen Hand steuerte ich den Lada durch die nächtliche Landschaft.
Der letzte Lichtschein verschwand vom Horizont. Es wurde eine mondlose Nacht, und ich erinnerte mich daran, wann ich zum ersten Mal eine Nacht gesehen hatte oder wann mir zum ersten Mal aufgefallen war, was das eigentlich ist, die Nacht. Was Nacht eigentlich bedeutet. Da war ich acht oder neun, und das hatte ich Herrn Klever zu verdanken. Herr Klever wohnte im Mietshaus gegenüber, und 290
wir wohnten auch noch im Mietshaus, und am Ende der Straße fing ein Gerstenfeld an. In diesem Gerstenfeld hatte ich abends mit Maria gespielt. Wir waren auf allen vieren durch das Feld gekrochen und hatten Gänge gemacht, ein riesiges Labyrinth. Und dann kam Klever, ein alter Mann mit einem Dackel und einer Taschenlampe. Klever wohnte im dritten Stock und hat uns immer angeschrien. Der hatte einen Riesenhass auf Kinder. Und der ist da mit seinem Dackel rumspaziert und hat mit seiner Taschenlampe ins Kornfeld reinge-leuchtet und geschrien, dass wir den Bauern ruinieren. Und dass wir sofort rauskommen sollten und dass er die Polizei ruft und uns anzeigt und dass das Tausende von Euro kos-tet. Da waren wir acht oder neun, wie gesagt, und wussten noch nicht, dass das nur blödes Rentnergeschrei ist, und in unserer Angst sind wir aus dem Feld rausgerannt. Maria war klug und ist zu unserm Block hin, aber ich bin zuerst in die andere Richtung, und dann stand da der Alte mit seinem Dackel und hat mir den Rückweg versperrt. Und der ging da auch nicht weg, der funzelte mit seiner Lampe rum und schrie, ich müsste ihm meinen Namen sagen, damit er mich melden könnte, und als 291
er immer weiter da stehen blieb, bin ich schließlich in die entgegengesetzte Richtung gelaufen.
Ich bin über die Felder und dann Hogenkamp rein, weil ich dachte, ich könnte vielleicht einmal ganz außen rum. Den Weg kannte ich ja von tagsüber. Aber jetzt war der Hogenkamp dunkel und von riesigen Sträuchern zugewachsen. Dahinter der Hogenkamp-Spielplatz, wo wir nie hingegangen sind, weil da immer Große waren, aber jetzt in der Nacht war natürlich alles frei. Die riesige Seil-bahn war frei. Das war ein ganz komisches Gefühl. Ich hätte jetzt alles für mich haben können, ich hätte überhaupt alles machen können, aber ich blieb nicht stehen und rannte und rannte. Und auf dem ganzen Weg kein Mensch. An den kleinen Häusern brannten Lichter vor den Türen, dann im Dauerlauf durch die Lönsstraße, und auch da kein Mensch. Das war ein Riesenumweg, eine Schleife von mindestens vier Kilometern, aber laufen konnte ich damals wie ein Weltmeister.
Und plötzlich gefiel mir das ganz gut, wie ich da durch diese dunkle, menschenleere Welt lief, ich wusste überhaupt nicht mehr, ob ich 292
noch Angst hatte oder nicht, und ich dachte gar nicht mehr an Klever.
Natürlich war ich auch früher schon nachts draußen gewesen, aber das war nicht das Gleiche. Das war immer mit den Eltern oder auf der Autofahrt von Verwandten zurück oder so. Jetzt war es eine ganz neue Welt, eine vollkommen andere Welt als bei Tag, es war, als hätte ich auf einmal Amerika entdeckt. Ich sah auf dem ganzen Weg niemanden, und dann sah ich plötzlich zwei Frauen. Die hockten auf der Treppe vor dem China-Restaurant, und ich begriff nicht, was die da machten. Die eine schluchzte und schrie: «Ich geh da nicht rein! Ich geh da nicht mehr rein!» Und die andere hat versucht, sie zu trösten, aber sie schaffte es nicht. Über ihnen leuchteten die chinesischen Schriftzeichen gelb und rot durch die Nacht, das Haus war überschattet von dunklen Bäumen, und im Vordergrund joggte ein Achtjähriger vorbei. Ich war völlig irritiert. Die Frauen waren wahrscheinlich auch irritiert und haben sich gefragt, was joggt ein Achtjähriger da mitten in der Nacht herum, und wir haben uns einen Moment lang in die Augen gesehen, sie schluchzend und ich laufend, und ich weiß auch nicht, 293