«Oh!», sagte Wagenbach und hob den Zettel auf. Andre machte nicht den geringsten Versuch, ihn zu verteidigen.
«Geheime Botschaften!», rief Wagenbach und hielt den Zettel hoch, und die Klasse lachte. Sie lachten, weil sie wussten, was jetzt kam, und ich wusste es auch. In diesem Moment wünschte ich mir, ich hätte Horst Frickes Gewehr gehabt.
Wagenbach holte die Lesebrille raus und las:
«Maik - Tatjana. Tatjana - Maik.» Er sah zuerst Tatjana an und dann mich.
«Ich schätze eure rege Beteiligung am Unterricht. Aber wenn ihr Verständnisfragen zur Bismarck'schen Außenpolitik habt, könnt ihr euch doch einfach melden», sagte er. «Ihr müsst eure Fragen nicht auf winzige Zettel schreiben, in der Hoffnung, dass ich sie zufällig finde.»
Diesen Witz machte er nicht zum ersten Mal.
Er machte diesen Witz jedes Mal. Der Klasse war es egal. Sie fanden dieses Affentheater immer wahnsinnig toll.
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Und man durfte sich keine Hoffnungen machen, dass es damit zu Ende war. Es gab Lehrer, die zerrissen Zettel einfach nur, es gab welche, die warfen sie in den Mülleimer oder steckten sie ein, aber es gab auch Wagenbach.
Und Wagenbach war ein Arschloch. Er war der einzige Lehrer an der ganzen Schule, der imstande war, aus konfiszierten Handys den kompletten SMS-Speicher vorzulesen. Da änderte es nichts, wenn man bettelte oder heulte, Wagenbach las alles vor.
Er faltete feierlich den Zettel auseinander, und ich hoffte, es würde irgendein Wunder geschehen und ein Meteorit vom Himmel fallen, der Wagenbach den Arsch spaltete. Oder dass es wenigstens zur Pause klingelte, das hätte gereicht. Aber natürlich klingelte es nicht, und natürlich fiel auch kein Meteorit vom Himmel. Wagenbach ließ seinen Blick einmal über die Klasse schweifen und stellte sich in Positur. Ich glaube, er wäre wahnsinnig gern Schauspieler geworden oder Kabaret-tist. Aber es hatte nur zum Arschloch gereicht.
Und ich meine - wenn es ein-
fach irgendein Zettel gewesen wäre mit irgendeinem Quark drauf. Aber es waren die ersten ernstgemeinten Worte in meinem Leben, die 322
ich mit Tatjana wechselte - und vielleicht auch die letzten -, und Wagenbach hatte kein Recht der Welt, sie vorzulesen.
«Da schreibt also das Fräulein Cosic», sagte Wagenbach und zeigte mit dem Kinn in Richtung Tatjana, als wäre sie uns allen nicht bekannt, «unsere bezaubernde Nachwuchsliteratin Fräulein Cosic schreibt: Mein Gott!» Die letzten beiden Worte in einem mäuschenhaf-ten Piepsen.
Ein Riesenknaller. Gelacht wurde bei Wagenbach ja sonst nicht, aber wenn er selbst die Witze machte, dann schon. Auch wenn es rein beknackte Witze waren. Dass er zum Beispiel
«Nachwuchsliteratin» sagte, war so einer von diesen beknackten Witzen.
«Mein Gott!»,
piepste Wagenbach wei-
ter. «Was ist denn mit dir passiert?»
«Arsch», sagte ich halblaut, es ging im Jubel unter. Tatjana starrte auf die Tischplatte vor sich. Und da starrte sie noch die ganze Zeit hin. Wagenbach drehte sich zu mir um.
«Und was antwortet der Herr Klingenberg?»
Er senkte das Kinn auf die Brust und sagte mit einer Stimme wie ein geistig behinderter Zeichentrickbär: «Och, nöchts Bösondörös.»
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Die Klasse brüllte. Selbst Olaf, der alles ver-bockt hatte durch seine Blödheit, fing an mit-zulachen. Das war kaum auszuhalten.
«Ein geschliffener Dialog», sagte Wagenbach. «Doch wird das wissbegierige Fräulein Cosic sich mit dieser Antwort zufriedengeben?
Oder verlangt es sie nach mehr?»
Mäuschenhaftes Piepsen: «Jetzt sag schon!
Es interessiert mich wirklich.»
Geistig behinderter Zeichentrickbär: «Ol-xo. Dös worso.»
Wagenbach kniff die Augen hinter der Lesebrille zusammen, als könnte er selbst nicht fassen, was jetzt kam. Tatjana hob leicht den Kopf, weil sie meine Antwort ja auch noch nicht kannte, und ich sah aus dem Fenster und überlegte, was Tschick jetzt gemacht hätte an meiner Stelle. Ein ausdrucksloses Gesicht vermutlich. Er konnte das aber auch besser als ich.
Wagenbach war in seiner Bärennummer mittlerweile so drin, dass er erst gar nicht mitkriegte, was er da vorlas. «Tschöcfe ond öch sönt möt dorn Auto höromgöfohrön. Oi-göntlöch wolltön wör ön dö Wolochai, obor donn hobön wör onsfönf Mol öborschlogön, nochdöm einör auf ons geschossön hottö.»
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Wagenbach stutzte und fuhr mit normaler Stimme fort: «Dann Verfolgungsjagd mit der Polizei, Krankenhaus. Ich bin später noch in einen Laster gekracht mit lauter Schweinen drin, und mir hat's die Wade zerrissen, aber na ja - alles nicht so schlimm.»
Einige lachten immer noch. Hauptsächlich die drei Leute, die nicht auf Tatjanas Party gewesen waren. Die, die Tschick und mich mit dem Lada gesehen hatten, waren mehr oder weniger verstummt.
«Sieh mal an», sagte Wagenbach. «Der saubere Herr Klingenberg! Unfälle, Verfolgungsjagden, Schießereien. Und in einen Mord ist er nicht verwickelt? Na, man kann nicht alles haben.»
Er glaubte offensichtlich kein Wort von dem, was er da vorgelesen hatte. Klang ja auch nicht sehr glaubwürdig. Und ich war nicht wahnsinnig wild darauf, ihn aufzuklären.
«Was mich allerdings am meisten begeistert an Herrn Klingenbergs aufregendem Leben, ist nicht diese Räuberpistole hier. Dass er sich Verfolgungsjagden geliefert haben will mit einem - wenn ich mich nicht irre -, mit einem Auto und Herrn Tschichatschow zusammen, nein ... Am meisten begeistert mich na-325
türlich seine Formulierungskunst. Wie knapp, wie anschaulich! Denn wie lautet nochmal sein Fazit des ganzen Schwerverbrechens?»
Er sah zuerst mich an und dann die Klasse und rief: «Ollö's noch so schlämm!»