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Meine Mutter schrie, ich rappelte mich auf, und mein Vater sah zu meiner Mutter und dann irgendwo in den Raum, und dann sagte er: «Klar. Ganz klar. Ist auch egal. Setz dich.

Ich hab gesagt, setz dich, du Idiot. Und hör genau zu. Du hast nämlich gute Chancen, mit einem blauen Auge davonzukommen. Das weiß ich vom Schuback. Außer du stellst dich so dämlich an wie jetzt und erzählst dem Richter, wie toll du ein Auto kurzschließen kannst mit der Dreißig auf die Fünfzig und 305

holla-holla. Das machen die gern beim Jugendgericht, dass sie das Verfahren gegen einen einstellen, damit er als Zeuge gegen den anderen aussagen muss. Und normal bist du derjenige, gegen den das Verfahren eingestellt wird, außer du bist zu scheißedämlich. Aber verlass dich drauf: Dein assiger Russe ist nicht so dämlich wie du. Der kennt das schon. Der hat schon eine richtige kriminelle Karriere hinter sich, Ladendiebstahl mit seinem Bruder, Schwarzfahren, Betrug und Hehlerei. Ja, da guckst du. Die ganze assige Sippschaft ist so. Hat er dir natürlich nicht erzählt. Und der hat auch kein solches Elternhaus vorzuweisen, der lebt in der Scheiße. In seiner Sieben-Quadratmeter-Scheiße, wo er auch hingehört.

Der kann froh sein, wenn er in ein Heim kommt. Aber die können den auch abschie-ben, sagt der Schuback. Und der wird morgen versuchen, um jeden Preis seine Haut zu retten - ist dir das klar? Der hat seine Aussage schon gemacht. Der gibt dir die ganze Schuld.

Das ist immer so, da gibt jeder Idiot dem anderen die Schuld.»

«Und das soll ich also auch machen?»

«Das sollst du nicht, das wirst du machen.

Weil sie dir nämlich glauben. Verstehst du?

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Du kannst von Glück sagen, dass der Typ von der Jugendgerichtshilfe hier so begeistert war.

Wie der das Haus gesehen hat. Wie der allein den Pool gesehen hat! Das hat er ja auch gleich gesagt, dass das hier ein Elternhaus ist mit den besten Möglichkeiten und allem Pi-papo.» Mein Vater drehte sich zu meiner Mutter um, und meine Mutter linste in ihr Glas.

«Du bist da reingerissen worden von diesem russischen Assi. Und das erzählst du dem Richter, egal, was du der Polizei vorher erzählt hast, capisce? Capisce?»

«Ich erzähl dem Richter, was passiert ist», sagte ich. «Der ist doch nicht blöd.»

Mein Vater starrte mich ungefähr vier Sekunden lang an. Das war das Ende. Ich sah noch das Blitzen in seinen Augen, dann sah ich erst mal nichts mehr. Die Schläge trafen mich überall, ich fiel vom Stuhl und rutschte auf dem Fußboden rum, die Unterarme vorm Gesicht. Ich hörte meine Mutter schreien und umfallen und «Josef!» rufen, und zuletzt lag ich so, dass ich zwischen meinen Armen heraus durchs Terrassenfenster sah. Ich spürte die Fußtritte immer noch, aber es wurden langsam weniger. Mein Rücken tat weh. Ich sah den blauen Himmel über dem Garten und 307

schniefte. Ich sah den Sonnenschirm über der einsamen Liege im Wind. Daneben stand ein brauner Junge und fischte mit einem Kescher die Blätter aus dem Pool. Sie hatten den Inder wieder eingestellt.

«Ach Gott, ach Gott», sagte meine Mutter und hustete.

Den Rest des Tages verbrachte ich im Bett.

Ich lag auf der Seite und zuppelte am Rollo rum, das über mir in der Nachmittagssonne schaukelte. Das Rollo war uralt. Ich hatte es schon gehabt, als ich drei Jahre war. Wir waren fünfmal damit umgezogen, und es war immer da gewesen. Das fiel mir jetzt zum ersten Mal auf, als ich daran rumzuppelte. Ich hörte aus dem Garten die Stimmen meiner Eltern. Der Inder kriegte auch noch was ab.

Wahrscheinlich hatte er irgendein welkes Blatt im Pool übersehen. Es war der große Schreitag für meinen Vater. Später hörte ich die Vögel im Garten, dann setzte die Dämmerung ein, und es wurde ruhig.

Ich lag da, während es immer dunkler wurde, und betrachtete das Rollo und dachte darüber nach, wie lange alles noch so bleiben würde.

Wie lange ich hier noch liegen könnte, wie lange wir noch in diesem Haus leben würden, 308

wie lange meine Eltern noch verheiratet wären.

Und ich freute mich darauf, Tschick wieder-zusehen. Das war das Einzige, worauf ich mich freute. Ich hatte ihn nicht mehr gesehen seit unserem Unfall auf der Autobahn, und das war jetzt schon vier Wochen her. Ich wusste, dass sie ihn in ein Heim gebracht hatten, aber es war ein Heim, wo man erst mal keinen Kontakt haben durfte, nicht mal Briefe bekam man da. 46

Und dann war Gerichtsverhandlung. Ich war logisch tödlich aufgeregt. Allein die Räume im Gericht waren der reine Terror. Riesige Trep-penhäuser, Säulen, Statuen an den Wänden wie in einer Kirche. Das sieht man bei Richte-rin Barbara Salesch auch nicht, dass man erst mal stundenlang wo warten muss, wo man denkt, man ist auf seiner eigenen Beerdigung.

Und genau das dachte ich, während ich da wartete, und ich dachte auch, dass ich in meinem Leben nie wieder ein Kaugummi klauen würde.

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Als ich in den Gerichtssaal reinkam, saß der Richter schon hinter seiner Theke und zeigte mir, wo ich Platz nehmen sollte, an einem Tischchen fast wie in der Schule. Der Richter hatte einen schwarzen Poncho an, und rechts von ihm saß eine Frau und surfte die ganze Zeit im Internet, jedenfalls sah sie so aus. Ab und zu tippte sie ein bisschen, aber sie guckte eine Stunde lang nicht vom Computer auf.

Und ganz links saß noch einer im schwarzen Poncho. Wie sich dann rausstellte, der Staatsanwalt. Die schwarze Kleidung scheint ein wichtiger Bestandteil vom Gericht zu sein.

Auch draußen liefen lauter Schwarzgekleidete rum, und ich musste an die weißen Kittel im Krankenhaus denken und an Pflegeschwester Hanna, und ich war froh, dass man unter dem Schwarz wenigstens keine Unterwäsche sehen konnte.

Tschick war noch nicht da, kam dann aber eine Minute später in Begleitung von einem Mann vom Jugendheim. Wir fielen uns in die Arme, und keiner hatte was dagegen. Viel Zeit zum Unterhalten hatten wir allerdings nicht.

Der Richter legte gleich los, ich musste meinen Namen sagen und wo ich wohne und das alles, und Tschick genauso, und dann stellte 310

der Richter nochmal die ganzen Fragen, die die Polizisten auch schon gestellt hatten.

Warum, weiß ich nicht, denn er kannte unsere Antworten ja schon aus den Akten, und am

«Tatverlauf», wie der Richter das nannte, gab es dann auch keine riesigen Zweifel mehr. Ich erzählte einfach immer mehr oder weniger die Wahrheit, so wie ich sie ja auch schon auf der Polizei erzählt hatte - na ja -, von ein paar winzigen Details abgesehen. Dass wir im Krankenhaus den Namen von Andre Langin angegeben hatten und so einen Quatsch. Das konnte man aber auch gut unter den Tisch fal-lenlassen, das interessierte sowieso keinen.

Was den Richter hauptsächlich interessierte, war, wann wir zum ersten Mal das Auto genommen hatten, wo wir damit überall langge-fahren waren und warum wir das gemacht hatten. Das war die einzig schwierige Frage: Warum? Da hatten die Polizisten auch schon immer nachgehakt, und das wollte der Richter jetzt auch nochmal ganz genau wissen, und da wusste ich wirklich nicht, was ich antworten sollte. Zum Glück hat er uns dann gleich selbst so Antworten angeboten. Zum Beispiel, ob wir einfach Fun hätten haben wollen. Fun.

Na ja, schön, Fun, das schien mir selbst auch 311

das Wahrscheinlichste, obwohl ich das so nicht formuliert hätte. Aber ich hätte ja auch schlecht sagen können, was ich in der Walachei gewollt hatte. Ich wusste es nicht. Und ich war mir nicht sicher, ob sich der Richter stattdessen für meine Geschichte mit Tatjana Cosic interessieren würde. Dass ich diese Zeichnung für sie gemacht hatte und dass ich eine Riesenangst hatte, der größte Langweiler unter der Sonne zu sein, und dass ich einmal im Leben wenigstens kein Feigling sein wollte, und deshalb sagte ich, dass das mit dem Fun schon irgendwie richtig wäre.

Wobei mir einfällt, dass ich in einem Punkt dann doch gelogen hab. Und das war das mit der Sprachtherapeutin. Ich wollte nicht, dass die Sprachtherapeutin wegen uns Schwierigkeiten bekommt, weil sie so wahnsinnig nett gewesen war, und deshalb habe ich sie und ihren Feuerlöscher einfach nie erwähnt. Ich hab dem Richter nur erzählt, was ich auf der Polizei schon erzählt hatte, dass sich nämlich Tschick den Fuß gebrochen hat, als der Lada sich am Steilhang ungefähr fünfmal überschlagen hat, und dass wir danach über das Feld geradewegs ins Krankenhaus gehumpelt sind und keine Sprachtherapeutin und nix.

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Eigentlich eine ganz okaye Lüge, aber schon während ich sie dem Autobahnpolizisten zum ersten Mal auftischte, fiel mir ein, dass sie auffliegen würde. Weil Tschick den Polizisten natürlich ganz was anderes erzählen würde, wenn sie ihn fragten. Und sie würden ihn fragen. Rausgekommen ist das Ganze dann lusti-gerweise nicht, weil Tschick nämlich genau das Gleiche gedacht hat, dass er die Sprachtherapeutin da nicht reinreißen will, und weil das eine so naheliegende Lüge war, das stellte sich jetzt im Gerichtssaal raus, war Tschick bei seiner Vernehmung auch auf genau die gleiche Lösung gekommen wie ich: Fuß beim Überschlag gebrochen, dann übers Feld ins Krankenhaus gehumpelt - und keinem ist aufgefallen, dass da ein logischer Fehler war.

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