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Ein Zettel lag auf dem Tisch: Essen im Kühlschrank. Ich packte meine Sachen aus, guckte kurz in mein Zeugnis, legte die Beyonce-CD

ein und kroch unter meine Bettdecke. Ich 81

konnte mich nicht entscheiden, ob die Musik mich tröstete oder noch mehr deprimierte.

Ich glaube, sie deprimierte mich noch mehr.

Ein paar Stunden später ging ich zurück zur Schule, um mein Fahrrad zu holen. Im Ernst, ich hatte mein Fahrrad vergessen. Mein Schulweg war zwei Kilometer lang, und manchmal ging ich zu Fuß, wenn mir danach war, aber an diesem Tag war ich nicht zu Fuß gegangen. Ich war so in Gedanken gewesen, als Tschick mich angequatscht hatte, dass ich einfach mein Fahrrad auf- und wieder zuge-schlossen hatte und losmarschiert war. Es war wirklich ein Elend.

Zum dritten Mal an diesem Tag führte mich der Weg vorbei an dem großen Sandhügel und an dem Spielplatz, wo das Brachland beginnt.

Da setzte ich mich auf den Indianerturm. Ein riesiger Holzturm, den sie mit einem halben Fort zusammen da hingebaut haben, damit kleine Kinder Cowboy und Indianer spielen könnten, wenn es irgendwo kleine Kinder gä-be. Aber ich habe noch nie ein Kind da gesehen. Auch keine Jugendlichen oder Erwachsenen. Nicht mal Junkies übernachten da.

Nur ich sitz manchmal oben auf dem Turm, wo mich keiner sehen kann, wenn's mir schei-82

ße geht. Im Osten sieht man die Hochhäuser von Hellersdorf, im Norden läuft hinter den Sträuchern die Weidengasse, und etwas dahinter ist noch eine Kleingartenkolonie. Aber rund um den Spielplatz ist nichts, ein riesiges Brachland, das ursprünglich mal Bauland war. Da sollten einmal Einfamilienhäuser ent-stehen, wie man auf einem großen, verwitter-ten Schild noch lesen kann, das umgekippt neben der Straße liegt. Weiße Würfel mit ro-tem Dach, kreisrunde Bäume und daneben die Aufschrift: Hier entste-hen 96 Einfamilienhäuser. Weiter unten ist von hochrentablen Anlageobjekten die Rede, und ganz unten steht irgendwo

auch Immobilien Klingenberg.

Aber eines Tages wurden auf der Wiese drei ausgestorbene Insekten, ein Frosch und ein seltener Grashalm entdeckt, und seitdem pro-zessieren die Naturschützer gegen die Baufirmen und die Baufirmen gegen die Naturschützer, und das Land liegt brach. Die Prozesse laufen seit zehn Jahren, und wenn man meinem Vater glauben darf, werden sie auch noch zehn Jahre laufen, weil gegen diese Öko-faschisten kein Kraut gewachsen ist. Ökofa-schisten ist das Wort von meinem Vater. Mitt-83

lerweile lässt er die Silbe Öko auch weg, weil diese Prozesse ihn ruiniert haben. Ein Viertel des Baulandes hat nämlich ihm gehört, und mit diesem Land hat er sich in die Scheiße prozessiert. Wenn bei uns zu Hause am Mit-tagstisch mal ein Fremder zugehört hätte, der hätte kein Wort verstanden. Jahrelang redete mein Vater immer nur von Scheiße, Wichsern und Faschisten. Wie viel Verlust er bei der Sache gemacht hatte und wie sich das auf uns auswirken würde, war mir lange nicht klar.

Ich dachte immer, mein Vater prozessiert sich aus der Sache auch wieder raus, und vielleicht hat er das auch selbst gedacht, am Anfang.

Aber dann hat er das Handtuch geworfen und seine Anteile verkauft. Da hat er nochmal Rie-senverluste gemacht, aber er war der Meinung, dass die Verluste noch riesiger geworden wären, wenn er weiterprozessiert hätte, und deshalb hat er alles weit unter Wert an die Wichser verkauft. Wobei das jetzt das Wort für seine Kollegen ist. Die Wichser, die weiterprozessiert haben. Das war vor anderthalb Jahren. Und seit einem Jahr ist klar: dass das der Anfang vom Ende war. Um die Verluste aus der Weidengasse aufzufangen, hat mein Vater mit Aktien spekuliert, und jetzt sind wir 84

pleite, der Urlaub ist gestrichen, und das Haus, das uns gehört, gehört uns wahrscheinlich schon lange nicht mehr. Sagt mein Vater.

Und das alles wegen drei Raupen und einem Grashalm.

Das Einzige, was von der ganzen Aktion übrig geblieben ist, ist der Spielplatz, der gleich am Anfang gebaut wurde, um die Kinder-freundlichkeit von Marzahn auszudrücken.

Leider vergeblich.

Und okay, ich gebe zu, es gibt noch einen anderen Grund, warum ich von diesem Spielplatz angefangen hab. Weil man in Wirklichkeit auch zwei weiße Mietshäuser sehen kann von da, von oben vom Turm. Die Mietshäuser stehen hinter der Kleingartenkolonie, irgendwo hinter den Bäumen, und in einem davon wohnt Tatjana. Ich wusste zwar nie, wo ganz genau, aber es gibt ein kleines Fenster oben links, wo in der Dämmerung immer ein grünes Licht angeht, und aus irgendwelchen Gründen hab ich mir eingebildet, dass das Tatjanas Zimmer ist. Und deshalb sitze ich manchmal auf dem Indianerturm und warte auf das grüne Licht. Wenn ich vom Fußballtraining komm oder vom Nachmittagsunter-richt. Dann schau ich zwischen den Brettern 85

durch und schnitze mit meinem Haustür-schlüssel Buchstaben ins Holz, und wenn das Licht aufleuchtet, wird mir immer ganz warm ums Herz, und wenn es nicht leuchtet, ist das jedes Mal eine Riesenenttäuschung.

Aber an diesem Tag war es noch zu früh, und ich wartete nicht, sondern ging den Weg zur Schule. Da stand mein Fahrrad einsam und allein in dem kilometerlangen Fahrradstän-der. Am Fahnenmast hing schlapp die Fahne, und in dem ganzen Gebäude war niemand mehr. Nur der Hausmeister zog weiter hinten zwei Müllcontainer zur Straße. Ein Cabrio mit Türken-Hiphop gondelte vorbei. Und so würde es jetzt für den Rest des Sommers bleiben.

Sechs Wochen keine Schule. Sechs Wochen keine Tatjana. Ich sah mich schon an einem Strick vom Indianerturm baumeln.

Wieder zu Hause, wusste ich nicht, was ich machen sollte. Ich versuchte das Licht an meinem Fahrrad zu reparieren, das schon lange kaputt war, aber ich hatte die Ersatzteile nicht. Ich legte Survivor ein und fing an, die Möbel in meinem Zimmer umzustellen. Ich stellte das Bett nach vorn und den Schreibtisch nach hinten. Dann ging ich wieder runter und versuchte nochmal, das Licht zusam-86

menzuflicken, aber es war aussichtslos, und dann schmiss ich das Werkzeug in die Blumen und ging wieder hoch und warf mich auf mein Bett und schrie. Das war der erste Tag der Ferien, und ich war praktisch schon am Durch-drehen. Irgendwann holte ich die Beyonce-Zeichnung raus. Ich schaute sie lange an, hielt sie mit zwei Händen vor mich hin und fing ganz langsam an, sie zu zerreißen. Als der Riss an Beyonces Stirn war, hörte ich auf und heulte. Was dann war, weiß ich nicht mehr. Ich weiß noch, dass ich irgendwann aus dem Haus rannte und in den Wald rein und den Hügel rauf, und dann fing ich an zu joggen.

Ich joggte nicht wirklich, ich hatte keine Sportsachen an, aber ich überholte ungefähr zwanzig Jogger pro Minute. Ich rannte einfach durch den Wald und schrie, und alle anderen, die durch den Wald rannten, gingen mir wahnsinnig auf die Nerven, weil sie mich hörten, und als mir dann auch noch einer entgegenkam, der mit Skistöcken spazie-ren ging, fehlte wirklich nur ein Hauch, und ich hätte ihm seine Scheißstöcke in den Arsch gekickt.

Zu Hause stand ich stundenlang unter der Dusche. Danach fühlte ich mich etwas besser, 87

etwa so wie ein Schiffbrüchiger, der wochen-lang auf dem Atlantik treibt, und dann kommt ein Kreuzfahrtschiff vorbei und jemand wirft eine Dose Red Bull runter und das Schiff fährt weiter - so ungefähr.

Unten ging die Haustür.

«Was liegt das da draußen rum?», brüllte mein Vater. Ich versuchte, ihn zu ignorieren, aber es war schwierig. «Soll das da liegen bleiben?»

Er meinte das Werkzeug. Also ging ich wieder runter, nachdem ich in den Spiegel geguckt hatte, ob meine Augen noch rot waren, und als ich unten ankam, stand ein Taxifahrer vor der Tür und kratzte sich im Schritt.

«Geh rauf und sag deiner Mutter Bescheid», sagte mein Vater. «Hast du dich überhaupt schon verabschiedet? Du hast nicht mal dran gedacht, oder? Los, geh! Geh!»

Er schubste mich die Treppe rauf. Ich war sauer. Aber mein Vater hatte leider recht. Ich hatte das mit meiner Mutter komplett vergessen. Die letzten Tage hatte ich es immer noch gewusst, aber in der Aufregung heute hatte ich es vergessen. Meine Mutter musste wieder für vier Wochen in die Klinik.

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Sie saß im Schlafzimmer im Pelzmantel vor dem Spiegel, und sie hatte sich nochmal ordentlich aufgetankt. In der Klinik gab es ja nichts. Ich half ihr hoch und trug ihren Koffer runter. Mein Vater trug den Koffer zum Taxi, und kaum war das Taxi weg, telefonierte er ihr gleich hinterher, als ob er sich wahnsinnig Sorgen um sie machen würde. Aber das war nicht der Fall, wie sich bald rausstellte. Meine Mutter war noch keine halbe Stunde weg, da kam mein Vater auf mein Zimmer und hatte dieses Dackelgesicht, und dieses Dackelgesicht bedeutet: Ich bin dein Vater. Und ich muss mit dir über was Wichtiges sprechen.

Was nicht nur dir unangenehm ist, sondern auch mir.

So hatte er mich vor ein paar Jahren angeguckt, als er meinte, mit mir über Sex sprechen zu müssen. So hatte er mich angeguckt, als er wegen einer Art Katzenhaarallergie nicht nur unsere Katze, sondern auch meine beiden Kaninchen im Garten und die Schild-kröte irgendwo versenkte. Und so guckte er auch jetzt.

«Ich erfahre gerade, dass ich einen Geschäftstermin habe», sagte er, als würde ihn das selbst am meisten verwirren. Tiefe Da-89

ckelfurchen auf der Stirn. Er redete ein bisschen rum, aber die Sache war ganz einfach.

Die Sache war, dass er mich vierzehn Tage allein lassen wollte.

Ich machte ein Gesicht, das ausdrücken sollte, dass ich ungeheuer schwer darüber nachdenken musste, ob ich diese Hiobsbotschaft verkraften konnte. Konnte ich das verkraften?

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