Typen, die fünfmal sitzengeblieben waren und in der offenen Fahrertür von ihrem Auto lehnten, damit auch jeder sehen konnte, dass sie die Besitzer dieser getunten Schrottkarren waren, und die machten sich über Tschick lustig. «Wieder hacke, Iwan?» Und das jeden Morgen. Besonders ein Typ mit einem gelben Ford Fiesta. Ich wusste lange nicht, ob Tschick das mitkriegte, dass die ihn meinten und dass sie über ihn lachten, aber irgendwann blieb er einmal stehen. Ich war gerade 61
damit beschäftigt, mein Fahrrad anzuschlie-ßen, und ich hörte, wie sie laut Wetten ab-schlossen, ob Tschick die Tür zum Schulge-bäude treffen würde, so wie er schwankte - sie sagten: Wie der Scheißmongole schwankt -, und da blieb Tschick stehen und ging zum Parkplatz zurück und auf die Jungs zu. Die al-le einen Kopf größer und ein paar Jahre älter waren als er und die wahnsinnig grinsten, wie der Russe da jetzt ankam - und an ihnen vorbeiging. Er steuerte gleich auf den Ford-Typen zu, der der Lauteste von allen war, legte die Hand auf die Fahrertür und redete mit ihm so leise, dass niemand sonst ihn hören konnte, und dann verschwand langsam das Grinsen aus dem Gesicht vom Ford-Typen, und Tschick drehte sich um und ging in die Schule. Von dem Tag an riefen sie ihm nichts mehr hinterher.
Ich war natürlich nicht der Einzige, der das beobachtet hatte, und danach verstummten die Gerüchte nicht mehr, dass Tschicks Familie wirklich die russische Mafia wäre oder so was, weil, es konnte sich keiner vorstellen, wie er es sonst geschafft hatte, dem Ford-Spacko mit drei Sätzen komplett den Stecker zu zie-62
hen. Aber logisch war das Quark. Mafia, völliger Quark. Das dachte ich jedenfalls. 1O
Zwei Wochen danach kriegten wir die erste Arbeit in Mathe zurück. Strahl malte immer erst mal den Klassenspiegel an die Tafel, um einem Angst zu machen. Diesmal war eine Eins dabei, das war ungewöhnlich. Strahls Lieblingssatz lautete: Einsen gibt's nur für den lieben Gott. Das Grauen. Aber Strahl war eben Mathelehrer und endgestört. Es gab zwei Zweien, Unmengen Dreien und Vieren, keine Fünf. Und eine Sechs. Ich machte mir ein bisschen Hoffnungen auf die Eins, Mathe war das einzige Fach, in dem ich ab und zu mal einen Treffer landete. Aber dann hatte ich eine Zwei minus. Immerhin. Bei Strahl war eine Zwei minus fast eine Eins. Ich drehte mich unauffällig um, wo der Jubelschrei wegen der Eins zu hören sein würde. Aber niemand ju-belte. Weder Lukas noch Kevin, noch die anderen Mathecracks. Stattdessen nahm Strahl das letzte Heft in die Hand und brachte es persönlich zu Tschichatschow in die letzte Reihe. Tschick saß da und kaute wie verrückt 63
Pfefferminzkaugummi. Er guckte Strahl nicht an und stellte nur das Kauen und Atmen ein.
Strahl beugte sich hinunter, befeuchtete seine Lippen und sagte: «Andrej.»
Es gab fast keine Reaktion. Eine winzige Kopfdrehung wie ein Gangster im Film, der hinter sich das Klicken eines Gewehrhahns hört.
«Deine Arbeit. Ich weiß nicht, was das ist», sagte Strahl und stützte eine Hand auf Tschicks Tisch. «Ich meine, wenn ihr das noch nicht gehabt habt an deiner alten Schule
– du musst das nachholen. Du hast ja überhaupt nicht - du hast es ja nicht mal versucht.
Was da steht», Strahl blätterte das Heft auf und senkte die Stimme, aber man konnte ihn doch noch verstehen, «diese Scherze - ich meine, wenn ihr den Stoff nicht hattet, ich merke mir das natürlich. Ich musste Sechs drunterschreiben, aber die steht sozusagen in Klammern. Ich würde sagen, du wendest dich mal an Kevin oder an Lukas. Lässt du dir von denen das Heft geben. Der Stoff der letzten zwei Monate. Und auch, wenn du Fragen hast.
Weil, so wird das sonst hier nichts.»
Tschick nickte. Er nickte wahnsinnig ver-ständnisvoll, und dann passierte es. Er fiel 64
vom Stuhl, direkt vor Strahls Füße. Strahl zuckte zusammen, und Patrick und Julia sprangen auf. Tschick lag wie tot auf dem Boden.
Wir alle hatten diesem Russen ja einiges zu-getraut, aber nicht, dass er vor Sensibilität vom Stuhl kippt wegen einer Sechs in Mathe.
Wie sich dann schnell rausstellte, war es auch gar nicht die Sensibilität. Er hatte den ganzen Morgen nichts gegessen, und das mit dem Alkohol war offensichtlich. Im Sekretariat kotzte Tschick noch das Waschbecken voll und wurde dann mit Begleitung nach Hause geschickt.
Sein Ruf verbesserte sich dadurch nicht wirklich. Was das für Scherze gewesen waren, die er statt der Mathearbeit in sein Heft gemalt hatte, blieb unklar, und wer die Eins hatte, weiß ich auch nicht mehr. Aber was ich noch immer weiß und wahrscheinlich niemals vergessen werde, das ist Strahls Gesicht, als ihm dieser Russe vor die Füße kippte. Alter Finne.
Das Irritierende an dieser ganzen Geschichte war aber nicht, dass Tschick vom Stuhl kippte oder dass er eine Sechs schrieb. Das Irritierende war, dass er drei Wochen später eine Zwei hatte. Und danach wieder eine Fünf.
Und dann wieder eine Zwei. Strahl drehte fast 65
durch. Er redete irgendwas von «Stoff gut nachgeholt» und «jetzt nicht nachlassen», aber jeder Blinde konnte sehen, dass die Zweien nichts damit zu tun hatten, dass Tschick den Stoff nachgeholt hatte. Es hatte einfach nur was damit zu tun, dass er manchmal hacke war und manchmal nicht.
So langsam kriegten das natürlich auch die Lehrer mit, und ein paarmal wurde Tschick ermahnt und nach Hause geschickt. Es gab auch Gespräche mit ihm hinter den Kulissen, aber die Schule unternahm erst mal nicht viel.
Immerhin hatte Tschick ein schweres Schicksal oder so was, und weil nach dem PISA-Test sowieso jeder beweisen wollte, dass auch assige, besoffene Russen auf einem deutschen Gymnasium eine Chance haben, gab es keine richtige Strafe. Nach einer gewissen Zeit beruhigte sich dann die Lage. Was mit Tschick los war, wusste zwar noch immer keiner. Aber er kam in den meisten Fächern einigermaßen mit. Er kaute immer weniger Pfefferminzkaugummi im Unterricht. Und er störte kaum noch. Wenn er nicht ab und zu seine Ausset-zer gehabt hätte, hätte man vielleicht sogar vergessen, dass er da war.
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«Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: <Sie haben sich gar nicht verändert.> -<Oh>, sagte Herr K. und erbleichte. Das war ja mal eine angenehm kurze Geschichte.» Kaltwasser klappte im Vorbeigehen die Tafel auf, zog das Jackett aus und warf es über seinen Stuhl.
Kaltwasser war unser Deutschlehrer, und er kam immer ohne Begrüßung in die Klasse, oder zumindest hörte man die Begrüßung nicht, weil er schon mit Unterricht anfing, da war er noch gar nicht durch die Tür. Ich muss zugeben, dass ich Kaltwasser nicht ganz begriff. Kaltwasser ist neben Wagenbach der Einzige, der einen okayen Unterricht macht, aber während Wagenbach ein Arschloch ist, also menschlich, wird man aus Kaltwasser nicht schlau. Oder ich werde nicht schlau aus ihm. Der kommt rein wie eine Maschine und fängt an zu reden, und dann geht es 45 Minuten superkorrekt zu, und dann geht Kaltwasser wieder raus, und man weiß nicht, was man davon halten soll. Ich könnte nicht sagen, wie der zum Beispiel privat ist. Ich könnte nicht mal sagen, ob ich ihn nett finde oder nicht. Al-67
le anderen sind sich einig, dass Kaltwasser ungefähr so nett ist wie ein gefrorener Haufen Scheiße, aber ich weiß es nicht. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass er auf seine Weise ganz okay ist, außerhalb der Schule.
«Angenehm kurz», wiederholte Kaltwasser.
«Und da haben sich sicher einige gedacht, so kurz kann ich das auch mit der Interpretation halten. Aber dann dürfte wohl klargeworden sein: So einfach ist das nicht. Oder fand es jemand sehr einfach? Wer will denn mal?
Freiwillige? Na, kommt. Die letzte Reihe lacht mich an.» Wir folgten Kaltwassers Blick zur letzten Reihe. Dort lag Tschick mit dem Kopf auf dem Tisch, und man konnte nicht genau erkennen, ob er in sein Buch schaute oder schlief. Es war die sechste Stunde.
«Herr Tschichatschow, darf ich bitten?»
«Was?» Tschicks Kopf hob sich langsam.
Dieses ironische Siezen. Da ging schon mal das Warnlämpchen an. «Herr Tschichatschow, sind Sie da?»
«Bei der Arbeit.»
«Haben Sie die Hausaufgaben gemacht?»
«Selbstverständlich.»
«Hätten Sie die Güte, sie uns vorzulesen?»
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«Äh ja.» Tschick sah sich kurz auf seinem Tisch um, entdeckte dann seine Plastiktüte auf dem Boden, hievte sie hoch und suchte nach dem Heft. Wie immer hatte er nichts ausgepackt vor der Stunde. Er zog mehrere Hefte raus und schien Mühe zu haben, das richtige zu identifizieren.
«Wenn du keine Hausaufgaben gemacht hast, sag's.»