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war zuerst dran, und die hat diesen Quatsch mit der Cóte d'Azur vorgelesen, den Schürmann wahnsinnig toll fand, und dann hat Kevin nochmal das Gleiche vorgelesen, nur dass die Cóte d'Azur jetzt die Nordsee war, und dann kam ich. Mutter auf der Schönheitsfarm.

Die ja nicht wirklich eine Schönheitsfarm war.

Obwohl meine Mutter tatsächlich immer etwas besser aussah, wenn sie von dort zurückkam. Aber eigentlich ist es eine Klinik. Sie ist ja Alkoholikerin. Sie hat Alkohol getrunken, solange ich denken kann, aber der Unterschied ist, dass es früher lustiger war. Normal wird vom Alkohol jeder lustig, aber wenn das eine bestimmte Grenze überschreitet, werden die Leute müde oder aggressiv, und als meine Mutter dann wieder mit dem Küchenmesser durch die Wohnung lief, stand ich mit meinem Vater oben auf der Treppe, und mein Vater hat gefragt: «Wie wär's mal wieder mit der Beautyfarm?» Und so fing der Sommer an, als ich in der Sechsten war.

Ich mag meine Mutter. Ich muss das dazusagen, weil das, was jetzt kommt, vielleicht kein supergutes Licht auf sie wirft. Aber ich hab sie immer gemocht, und ich mag sie noch. Sie ist nicht so wie andere Mütter. Das mochte ich 29

immer am meisten. Sie kann zum Beispiel sehr witzig sein, das kann man ja von den meisten Müttern nicht gerade behaupten.

Und dass das Schönheitsfarm hieß, das war eben auch nur so ein Witz von meiner Mutter.

Früher hat meine Mutter viel Tennis gespielt.

Mein Vater auch, aber nicht so gut. Der eigentliche Crack in der Familie war meine Mutter. Als sie noch fit war, hat sie jedes Jahr die Vereinsmeisterschaften gewonnen. Und auch mit einer Flasche Wodka intus hat sie die noch gewonnen, aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls war ich schon als Kind immer mit ihr auf dem Platz. Meine Mutter hat auf der Vereinsterrasse gesessen und Cocktails getrunken mit Frau Weber und Frau Osterthun und Herrn Schuback und dem ganzen Rest. Und ich hab unterm Tisch gesessen und mit Autos gespielt, und die Sonne hat ge-schienen. In meiner Erinnerung scheint im Tennisclub immer die Sonne. Ich schaue mir den roten Staub auf fünf Paar weißen Tennis-schuhen an, ich sehe die Unterwäsche unter den knappen Tennisröcken, und ich sammle die Kronkorken ein, die von oben runterfallen und in die man mit Kugelschreiber reinmalen kann. Ich darf fünf Eis essen am Tag und zehn 30

Cola trinken und alles beim Wirt anschreiben lassen. Und dann sagt Frau Weber oben:

«Nächste Woche wieder um sieben, Frau Klingenberg?» Und meine Mutter: «Sicher.»

Und Frau Weber: «Da bring ich dann diesmal die Bälle.» Und meine Mutter: «Sicher.»

Und so weiter und so weiter. Immer genau das gleiche Gespräch. Wobei der Witz war, dass Frau Weber nie Bälle mitbrachte, da war sie zu geizig für.

Ab und zu gab es aber auch eine andere Unterhaltung. Die ging so:

«Nächste Woche wieder Samstag, Frau Klingenberg?»

«Kann ich nicht, da fahr ich weg.»

«Aber hat Ihr Mann nicht Medenspiele?»

«Ja, er fährt ja auch nicht weg. Ich fahr weg.»

«Ach, wo fahren Sie denn hin?»

«Auf die Beautyfarm.»

Und dann kam immer, immer, immer von ir-gendwem am Tisch, der das noch nicht kannte, die wahnsinnig geistreiche Bemerkung:

«Das haben Sie doch gar nicht nötig, Frau Klingenberg!»

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Und meine Mutter hat ihren Brandy Alexander runtergekippt und gesagt: «War ein Witz, Herr Schuback. Ist 'ne Entzugsklinik.»

Dann sind wir Hand in Hand vom Tennis-platz nach Hause, weil meine Mutter nicht mehr Auto fahren konnte. Ich hab ihre schwere Sporttasche getragen, und sie hat zu mir gesagt: «Du kannst nicht viel von deiner Mutter lernen. Aber das kannst du von deiner Mutter lernen. Erstens, man kann über alles reden. Und zweitens, was die Leute denken, ist scheißegal.» Das hat mir sofort eingeleuch-tet. Über alles reden. Und scheiß auf die Leute.

Zweifel sind mir erst später gekommen. Keine Zweifel am Prinzip. Aber Zweifel, ob es meiner Mutter wirklich so scheißegal war.

Jedenfalls - diese Beautyfarm. Wie genau das da ablief, weiß ich nicht. Weil ich meine Mutter nie besuchen durfte, das wollte sie nicht.

Aber wenn sie von da zurückkam, hat sie immer verrückte Sachen erzählt. Die Therapie bestand offenbar hauptsächlich aus keinem Alkohol und reden. Und Wasser treten.

Manchmal auch turnen. Aber turnen konnten nicht mehr viele. Meistens haben sie nur geredet und dabei ein Wollknäuel im Kreis rum-32

geworfen. Weil, immer nur wer das Wollknäuel hatte, durfte reden. Ich musste fünfmal nachfragen, ob ich richtig gehört hatte oder ob das ein Witz war mit dem Wollknäuel.

Aber das war kein Witz. Meine Mutter fand das auch gar nicht so witzig oder spannend, aber ich fand das, ehrlich gesagt, wahnsinnig spannend. Das muss man sich mal vorstellen: Zehn erwachsene Menschen sitzen im Kreis und werfen ein Wollknäuel rum. Hinterher war der ganze Raum voll Wolle, aber das war gar nicht der Sinn der Sache, auch wenn man das jetzt erst mal denken könnte. Der Sinn war, dass ein Gesprächsgeflecht entsteht. Wo-ran man schon erkennen kann, dass meine Mutter nicht die Verrückteste in dieser Anstalt war. Da müssen noch deutlich Verrückte-re gewesen sein.

Und wenn jetzt einer glaubt, das Wollknäuel wäre nicht zu toppen, dann hat er vom Pappkarton noch nichts gehört. Jeder in der Klinik hatte nämlich auch einen Pappkarton in seinem Zimmer. Der hing knapp unter der Decke, mit der Öffnung nach oben, und in diesen Karton musste man immer Zettel reinwerfen wie in einen Basketballkorb. Zettel, auf die man vorher seine Sehnsüchte, Wünsche, Vor-33

sätze, Gebete oder was geschrieben hatte.

Immer wenn meine Mutter Wünsche hatte oder Vorsätze oder wenn sie sich Vorwürfe machte, dann hat sie das aufgeschrieben und den Zettel zusammengefaltet und dann praktisch Dirk Nowitzki: Dunking. Und das Irre daran war, dass nie jemand diese Zettel gelesen hat. Das war nicht der Sinn der Sache. Der Sinn der Sache war, dass man das einmal auf-schreibt und dass es dann da ist und dass man sehen kann: Da hängen meine Wünsche und Sehnsüchte und der ganze Kack in diesem Pappkarton da oben. Und weil diese Kartons so wichtig waren, musste man denen auch einen Namen geben. Der wurde mit Filzstift auf den Karton drauf geschrieben, und dann hatte praktisch jeder Alki einen Karton auf seinem Zimmer hängen, der «Gott» hieß und wo seine Sehnsüchte drin waren. Weil, die meisten haben ihren Karton «Gott» genannt. Das war der Vorschlag vom Therapeuten gewesen, dass man den Gott nennen könnte. Man durfte ihn aber nennen, wie man wollte. Eine ältere Frau hat ihn auch «Osiris» genannt und jemand anders «Großer Geist».

Der Karton meiner Mutter hieß «Karl-Heinz», und da ist dann der Therapeut zu ihr 34

gekommen und hat sie gelöchert. Zuerst wollte er wissen, ob das ihr Vater war. «Wer?», hat meine Mutter gefragt, und der Therapeut hat auf den Karton gezeigt. Meine Mutter hat den Kopf geschüttelt. Und da hat der Therapeut gefragt, wer das dann sein soll, dieser Karl-Heinz, und meine Mutter hat gesagt:

«Die Pappschachtel da.» Und dann wollte der Therapeut wissen, wie denn der Vater von meiner Mutter geheißen hätte. «Gottlieb», hat meine Mutter da geantwortet, und der Therapeut hat «Aha!», gesagt, und dieses «Aha»

soll so geklungen haben, als hätte der Therapeut jetzt wahnsinnig Bescheid gewusst. Gottlieb - aha! Meine Mutter wusste aber nicht, worüber der Therapeut Bescheid gewusst hat, und er hat es ihr auch nicht gesagt. Und so soll das immer gewesen sein. Alle haben immer wahnsinnig so ausgesehen, als ob sie Bescheid wüssten, sie hätten's einem aber nie verraten. Als mein Vater das gehört hat, das mit dem Karton, ist er fast vom Stuhl gefallen vor Lachen. Er hat immer gesagt: «Mein Gott, ist das traurig», und dann hat er doch gelacht, und ich musste auch die ganze Zeit lachen, und meine Mutter fand's ja sowieso komisch, jedenfalls im Nachhinein.

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Und das alles hab ich in meinen Aufsatz reingeschrieben. Um das Wort «Rettung» un-terzubringen, hab ich noch die Episode mit dem Küchenmesser dazugenommen, und weil ich gerade so in Fahrt war, auch noch, wie sie morgens die Treppe runtergekommen ist und mich mit meinem Vater verwechselt hat. Das war der längste Aufsatz, den ich je geschrieben hatte, mindestens acht Seiten lang, und ich hätte wahrscheinlich auch noch Teil zwei und Teil drei und Teil vier schreiben können, wenn ich gewollt hätte, aber wie sich dann rausstellte, war Teil eins völlig ausreichend.

Die Klasse ist beim Vorlesen durchgedreht vor Begeisterung. Schürmann hat um Ruhe gebeten und gesagt: «Also schön. Na schön.

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