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zu retten und tat so, als ob er die Latte aus Frust wie einen Speer fortwerfen wollte. Der Witz war aber alt. Keiner lachte. Als Nächstes feuerten sie Kevin an. Mathegenie Kevin. Aber über eins sechzig kam der auch nicht drüber.

Und dann war nur noch ich drin. Wolkow ließ eins fünfundsechzig auflegen, und ich merkte schon beim Anlauf, das ist mein Tag. Es war der Tag des Maik Klingenberg. Ich hatte dieses Triumphgefühl schon beim Absprung. Ich sprang überhaupt nicht, ich segelte über die Anlage wie ein Flugzeug, ich stand in der Luft, ich schwebte. Maik Klingenberg, der große Leichtathlet. Ich glaube, wenn ich mir mal selber einen Spitznamen gegeben hätte, wäre es Aeroflot gewesen oder so. Oder Air Klingenberg. Der Kondor von Marzahn. Aber leider darf man sich ja selbst keine Spitznamen geben. Als mein Rücken in die weiche Matte sank, hörte ich, wie auf der Jungsseite verhal-ten geklatscht wurde. Auf der Mädchenseite hörte ich nichts. Als die Matte mich wieder hochdrückte, war mein erster Blick zu Tatjana, und Tatjana guckte Frau Beilcke an. Natalie guckte auch Frau Beilcke an. Sie hatten meinen Sprung überhaupt nicht gesehen, die blöden Kühe. Keins von den Mädchen hatte 48

meinen Sprung gesehen. Es interessierte sie nicht, was die psychotische Schlaftablette sich da zusammensprang. Aeroflot mein Arsch.

Das hat mich noch den ganzen Tag fertigge-macht, obwohl es mich ja selbst nicht interessiert hat. Als ob mich der Scheißhochsprung eine Sekunde lang interessieren würde! Aber wenn Andre über eins fünfundsechzig gekommen war oder wenn bei Andre nur eins fünfundsechzig aufgelegt gewesen wären, wären die Mädchen puschelschwenkend über die Tartanbahn gerast. Und bei mir guckte nicht mal eine hin. Ich interessierte niemanden.

Wenn mich irgendetwas interessierte, dann auch nur die Frage: Warum guckt keiner hin, wenn Air Klingenberg Schulrekord fliegt, und warum gucken sie hin, wenn ein Mehlsack unter der Latte durchrutscht? Aber so war das eben. Das war die Scheißschule, und das war das Scheißmädchenthema, und da gab es keinen Ausweg. Dachte ich jedenfalls immer, bis ich Tschick kennenlernte. Und dann änderte sich einiges. Und das erzähle ich jetzt.

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Ich konnte Tschick von Anfang an nicht leiden. Keiner konnte ihn leiden. Tschick war ein Assi, und genau so sah er auch aus. Wagenbach schleppte ihn nach Ostern in die Klasse, und wenn ich sage, er schleppte ihn in die Klasse, dann meine ich das auch so. Erste Stunde nach den Osterferien: Geschichte. Alle saßen auf ihren Stühlen wie festgetackert, weil, wenn einer ein autoritäres Arschloch ist, dann Wagenbach. Wobei Arschloch jetzt eine Übertreibung ist, eigentlich ist Wagenbach ganz okay. Er macht okayen Unterricht und ist wenigstens nicht dumm, wie die meisten anderen, wie Wolkow zum Beispiel. Bei Wagenbach hat man keine Mühe, sich zu kon-zentrieren. Und man tut auch gut daran, weil, Wagenbach kann Leute richtig auseinander-nehmen. Das weiß jeder. Selbst die, die ihn noch nie hatten. Bevor ein Fünftklässler zum ersten Mal das Hagecius-Gymnasium betritt, weiß er schon: Wagenbach, Achtung ! Da ist es mucksmäuschenstill. Bei Schürmann klingelt immer mindestens fünf Mal in der Stunde ein Handy. Patrick hat es sogar mal geschafft, bei Schürmann seinen Klingelton neu einzus-tellen - sechs, sieben, acht Töne hintereinan-der, bis Schürmann um ein wenig mehr Ru-50

he bat. Und auch da hat er sich nicht getraut, Patrick scharf anzugucken. Wenn bei Wagenbach ein Handy klingelt, kann derjenige sicher sein, die große Pause nicht lebend zu er-reichen. Es gibt sogar das Gerücht, dass Wagenbach früher mal einen Hammer dabeihat-te, um Handys zu zerkloppen. Ich weiß nicht, ob das stimmt.

Wagenbach kam also rein in dem schlechten Anzug und mit der braunen Kacktasche unterm Arm wie immer, und hinter ihm her schleppte sich dieser Junge, der wirkte, als wäre er kurz vorm Koma oder so. Wagenbach knallte seine Tasche aufs Pult und drehte sich um. Er wartete mit zusammengezogenen Au-genbrauen, bis der Junge langsam herange-schlurrt war, und sagte dann: «Wir haben hier einen neuen Mitschüler. Sein Name ist Andrej

Und dann schaute er auf seinen Notizzettel, und dann schaute er wieder den Jungen an.

Offenbar sollte der seinen Nachnamen selber sagen. Aber der Junge guckte mit seinen zwei Schlitzaugen durch den Mittelgang ins Nichts und sagte auch nichts.

Und vielleicht ist es nicht wichtig zu erwäh-nen, was ich dachte in diesem Moment, als ich 51

Tschick zum ersten Mal sah, aber ich will es trotzdem mal dazusagen. Ich hatte nämlich einen extrem unguten Eindruck, wie der da neben Wagenbach auftauchte. Zwei Arschlö-cher auf einem Haufen, dachte ich, obwohl ich ihn ja gar nicht kannte und nicht wusste, ob er ein Arschloch war. Er war ein Russe, wie sich dann rausstellte. Er war so mittelgroß, trug ein schmuddeliges weißes Hemd, an dem ein Knopf fehlte, 1o-Euro-Jeans von KiK und braune, unförmige Schuhe, die aussahen wie tote Ratten. Außerdem hatte er extrem hohe Wangenknochen und statt Augen Schlitze.

Diese Schlitze waren das Erste, was einem auffiel. Sah aus wie ein Mongole, und man wusste nie, wo er damit hinguckte. Den Mund hatte er auf einer Seite leicht geöffnet, es sah aus, als würde in dieser Öffnung eine unsichtbare Zigarette stecken. Seine Unterarme waren kräftig, auf dem einen hatte er eine große Narbe. Die Beine relativ dünn, der Schädel kantig.

Niemand kicherte. Bei Wagenbach kicherte sowieso niemand. Aber ich hatte den Eindruck, dass auch ohne Wagenbach keiner gekichert hätte. Der Russe stand einfach da und sah aus seinen Mongolenaugen irgendwohin.

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Und er ignorierte Wagenbach komplett. Das war auch schon eine Leistung, Wagenbach zu ignorieren. Das war praktisch unmöglich.

«Andrej», sagte Wagenbach, starrte auf seinen Zettel und bewegte lautlos die Lippen.

«Andrej Tsch... Tschicha... tschoroff.»

Der Russe nuschelte irgendwas.

«Bitte?»

«Tschichatschow», sagte der Russe, ohne Wagenbach anzusehen.

Wagenbach zog Luft durch ein Nasenloch ein. Das war so eine Marotte von ihm. Luft durch ein Nasenloch.

«Schön, Tschischaroff. Andrej. Willst du uns vielleicht kurz was über dich erzählen? Wo du herkommst, auf welcher Schule du bisher warst?»

Das war Standard. Wenn Neue in die Klasse kamen, mussten sie erzählen, wo sie her waren und so. Und jetzt ging die erste Verände-rung mit Tschick vor. Er drehte den Kopf ganz leicht zur Seite, als hätte er Wagenbach erst in diesem Moment bemerkt. Er kratzte sich am Hals, drehte sich wieder zur Klasse und sagte:

«Nein.» Irgendwo fiel eine Stecknadel zu Boden.

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Wagenbach nickte ernst und sagte: «Du willst nicht erzählen, wo du herkommst?»

«Nein», sagte Tschick. «Mir egal.»

«Na schön. Dann erzähle ich eben etwas über dich, Andrej. Aus Gründen der Höflichkeit muss ich dich schließlich der Klasse vorstellen.»

Er sah Tschick an. Tschick sah die Klasse an.

«Ich nehme dein Schweigen als Zustim-mung», sagte Wagenbach. Und er sagte es in einem ironischen Ton, wie alle Lehrer, wenn sie so was sagen.

Tschick antwortete nicht.

«Oder hast du was dagegen?», fragte Wagenbach. «Beginnen Sie», sagte Tschick und machte eine Handbewegung.

Irgendwo im Mädchenblock wurde jetzt doch gekichert. Beginnen Sie! Wahnsinn. Er beton-te jede Silbe einzeln, mit einem ganz komi-schen Akzent. Und er starrte immer noch die hintere Wand an. Vielleicht hatte er sogar die Augen geschlossen. Es war schwer zu sagen.

Wagenbach machte ein Gesicht, das zur Ruhe aufforderte. Dabei war es schon absolut ruhig.

«Also», sagte er. «Andrej Tschicha... schoff heißt unser neuer Mitschüler, und wie wir an seinem Namen bereits unschwer erkennen, 54

kommt unser Gast von weit her, genau genommen aus den unendlichen russischen Weiten, die Napoleon in der letzten Stunde vor Ostern erobert hat - und aus denen er heute, wie wir sehen werden, auch wieder ver-trieben werden wird. Wie vor ihm Karl XII.

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