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«Ich hab Hausaufgaben - wo isses denn? Wo isses denn?» Er legte ein Heft auf den Tisch, steckte die anderen zurück und blätterte darin herum.

«Da, da ist es. Soll ich vorlesen?»

«Ich bitte darum.»

«Gut, ich fang dann jetzt an. Die Hausaufgabe war die Geschichte vom Herrn K. Ich be-ginne. Interpretation der Geschichte von Herrn K. Die erste Frage, die man hat, wenn man Prechts Geschichte liest, ist logisch -»

«Brecht», sagte Kaltwasser, «Bert Brecht.»

«Ah.» Tschick fischte einen Kugelschreiber aus der Plastiktüte und kritzelte in seinem Heft. Er steckte den Kugelschreiber zurück in die Plastiktüte.

«Interpretation der Geschichte von Herrn K.

Die erste Frage, die man hat, wenn man 69

Brechts Geschichte liest, ist logisch, wer sich hinter dem rätselhaften Buchstaben K. versteckt. Ohne viel Übertreibung kann man wohl sagen, dass es ein Mann ist, der das Licht der Öffentlichkeit scheut. Er versteckt sich hinter einem Buchstaben, und zwar dem Buchstaben K. Das ist der elfte Buchstabe vom Alphabet. Warum versteckt er sich? Tatsächlich ist Herr K. beruflich Waffenschieber.

Mit anderen dunklen Gestalten zusammen (Herrn L. und Herrn F.) hat er eine Verbre-cherorganisation gegründet, für die die Genfer Konvention nur einen traurigen Witz darstellt. Er hat Panzer und Flugzeuge verkauft und Milliarden gemacht und macht sich längst nicht mehr die Finger schmutzig. Lieber kreuzt er auf seiner Yacht im Mittelmeer, wo die CIA auf ihn kam. Daraufhin floh Herr K. nach Südamerika und ließ sein Gesicht bei dem berühmten Doktor M. chirurgisch verän-dern und ist nun verblüfft, dass ihn einer auf der Straße erkennt: Er erbleicht. Es versteht sich von selbst, dass der Mann, der ihn auf der Straße erkannt hat, genauso wie der Gesichts-chirurg wenig später mit einem Betonklotz an den Füßen in unheimlich tiefem Wasser stand. Fertig.»

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Ich guckte Tatjana an. Sie hatte die Stirn gerunzelt und einen Bleistift im Mund. Dann guckte ich Kaltwasser an. An Kaltwassers Gesicht war absolut nichts zu erkennen. Kaltwasser schien leicht angespannt, aber mehr so interessiert-angespannt. Nicht mehr und nicht weniger. Eine Zensur gab er nicht. An-schließend las Anja die richtige Interpretation, wie sie auch bei Google steht, dann gab es noch eine endlose Diskussion darüber, ob Brecht Kommunist gewesen war, und dann war die Stunde zu Ende. Und das war schon kurz vor den Sommerferien. 12

Aber jetzt muss ich erst mal von Tatjanas Geburtstag erzählen. Mitten in den Sommerferien hatte Tatjana Geburtstag, und da sollte eine Riesenparty stattfinden. Tatjana hatte das schon lange vorher angekündigt. Es hatte geheißen, dass sie ihren vierzehnten Geburtstag in Werder bei Potsdam feiert und dass alle dorthin eingeladen wären mit Übernachtung und so. Sie hatte bei ihren besten Freundin-nen rumgefragt, weil sie sicher sein wollte, dass die auch da sein würden, und weil Nata-71

lie schon am dritten Ferientag mit ihren Eltern in den Urlaub fuhr, musste die ganze Party auf den zweiten Tag vorverlegt werden, und deshalb wurde das alles auch so früh bekannt.

Dieses Haus in Werder gehörte einem Onkel von Tatjana und lag direkt am See, und dieser Onkel wollte Tatjana das Haus praktisch überlassen, es würden außer ihm keine Erwachsenen da sein, es würde die Nacht durchgefeiert, und alle sollten ihre Schlafsäcke mitbringen.

Das war natürlich ein großes Thema in der Klasse, Wochen vorher schon, und ich fing an, mich in Gedanken mit diesem Onkel zu beschäftigen. Ich weiß nicht mehr, warum der mich so faszinierte, aber ich dachte, das müsste ein ziemlich interessanter Typ sein, dass der Tatjana einfach so sein Haus überlässt und dass er auch noch verwandt mit ihr ist, und ich freute mich wahnsinnig darauf, ihn kennenzulernen. Ich sah mich schon immer mit ihm in seinem Wohnzimmer am Kamin stehen und supergepflegt Konversation machen. Dabei wusste ich ja nicht mal, ob es in dem Haus einen Kamin gab. Aber ich war nicht der Einzige, der aufgeregt war wegen dieser Party. Julia und Natalie überlegten 72

schon lange vorher immer, was sie Tatjana schenken sollten, das konnte man auf den Zetteln lesen, die im Unterricht durch die Bänke gereicht wurden. Das heißt, ich konnte es lesen, weil ich in der direkten Verbindungs-linie zwischen Julia und Natalie saß, und ich war natürlich wie elektrisiert von dieser Ge-schenkidee und dachte selbst über nichts anderes mehr nach als darüber, was ich Tatjana zum Geburtstag schenken könnte. Julia und Natalie, das war schon mal klar, würden ihr die neue Beyonce-CD schenken. Julia hatte Natalie eine Liste zum Ankreuzen geschickt, die ungefähr so aussah:

O Beyonce

O Pink

O das Halsband mit den [unleserlich]

O lieber noch mal abwarten

Und Natalie hatte ganz oben ihr Kreuz gemacht. Das war allgemein bekannt, Tatjana fand Beyonce toll. Was ich erst mal ein bisschen problematisch fand, weil ich Beyonce scheiße fand, jedenfalls die Musik. Aber immerhin sah sie phantastisch aus, sie hatte sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit Tatjana, und 73

deshalb fand ich Beyonce dann irgendwann auch nicht mehr ganz so scheiße. Im Gegenteil, ich fing an, Beyonce zu mögen, und auch ihre Musik mochte ich auf einmal. Nein, das stimmt nicht. Ich fand die Musik super. Ich hatte mir die letzten zwei CDs gekauft und hörte sie in Endlosschleife, während ich an Tatjana dachte und daran, mit was für einem Geschenk ich auf dieser Party auflaufen wollte. Irgendwas von Beyonce konnte ich ihr auf keinen Fall schenken. Auf die Idee waren außer Julia und Natalie wahrscheinlich noch dreißig andere gekommen, und dann bekam Tatjana zum Geburtstag dreißig Beyonce-CDs und konnte neunundzwanzig umtauschen. Ich wollte ihr irgendwas Besonderes schenken, aber mir fiel nichts ein, und erst als dieser Zettel zum Ankreuzen bei mir vorbeikam, da fiel es mir ein.

Ich ging zu Karstadt, kaufte eine ziemlich teure Modezeitschrift mit dem Gesicht von Beyonce drauf und fing an zu zeichnen. Mit einem Lineal machte ich Bleistiftstriche senkrecht und waagerecht über das Gesicht, in re-gelmäßigen Abständen, bis kleine Quadrate auf dem ganzen Bild waren. Dann nahm ich ein riesiges Blatt Papier und zeichnete fünf-74

mal so große Quadrate drauf. Das ist eine Me-thode, die ich aus einem Buch kenne. Al-te Meister oder so. Damit kann man aus einem kleinen Bild ein ziemlich großes Bild machen. Man überträgt einfach Quadrat für Quadrat. Man könnte das natürlich auch auf einen Kopierer legen. Aber ich wollte, dass es gezeichnet ist. Wahrscheinlich wollte ich, dass man sieht, dass ich mir Mühe gemacht hab.

Weil, wenn man das mit der Mühe sieht, kann man sich den Rest auch denken. Wochenlang arbeitete ich jeden Tag an dieser Zeichnung.

Ich arbeitete wirklich hart. Nur mit Bleistift, und ich wurde immer aufgedrehter, weil ich beim Zeichnen an nichts anderes mehr denken konnte als an Tatjana und ihren Geburtstag und ihren supersympathischen Onkel, mit dem ich am Kamin unfassbar geistreiche Gespräche führte.

Und wenn ich auch nicht viel kann, zeichnen kann ich. Ungefähr so wie Hochsprung. Wenn Beyoncezeichnen und Hochsprung die wich-tigsten Disziplinen auf der Welt wären, wäre ich ganz weit vorn. Im Ernst. Leider interessiert sich kein Mensch für Hochsprung, und bei der Zeichnerei kamen mir auch so langsam Zweifel. Nach vier Wochen harter Arbeit 75

sah Beyonce fast wie ein Foto aus, eine rie-sengroße Bleistift-beyonce mit Tatjanas Augen, und ich wäre wahrscheinlich der glück-lichste Mensch im Universum gewesen, wenn ich jetzt noch eine Einladung auf Tatjanas Party bekommen hätte. Aber ich bekam keine.

Es war der letzte Schultag, und ich war etwas nervös, weil dieser ganze Partygedanke ja immer im Raum stand, alle redeten unaufhörlich über Werder bei Potsdam, aber es hatte noch keine Einladungen gegeben, oder ich hatte keine gesehen. Und man wusste ja gar nicht, wo genau das sein sollte, so klein ist Werder ja auch wieder nicht. Ich hatte den Stadtplan längst im Kopf. Und deshalb dachte ich, dass Tatjana das am letzten Schultag irgendwie bekanntgeben würde. War aber nicht so.

Stattdessen sah ich in der Federtasche von Arndt, der zwei Reihen vor mir saß, ein kleines grünes Kärtchen. Das war in Mathe. Ich sah, wie Arndt das grüne Kärtchen Kallenbach zeigte, und Kallenbach runzelte die Stirn, und ich konnte sehen, dass in der Mitte vom grünen Kärtchen ein kleiner Straßenplan war.

Und dann bemerkte ich, dass alle diese grünen Kärtchen hatten. Fast alle. Kallenbach 76

hatte auch keins, so blöd wie er guckte, allerdings guckte er ja immer blöd. Er war ja auch blöd. Das war wahrscheinlich auch der Grund, warum er nicht eingeladen worden war. Kallenbach beugte sich tief über die Schrift, er war kurzsichtig und setzte aus irgendeinem Grund nie die Brille auf, und Arndt nahm ihm das Ding wieder weg und steckte es zurück in seine Federtasche. Wie sich später rausstellte, waren Kallenbach und ich nicht die Einzigen ohne Einladung. Der Nazi hatte auch keine, Tschichatschow nicht, und dann noch ein oder zwei. Logisch. Die größten Langweiler und Assis waren nicht eingeladen, Russen, Nazis und Idioten. Und ich musste nicht lange überlegen, was ich in Tatjanas Augen wahrscheinlich war. Weil, ich war ja weder Russe noch Nazi.

Aber sonst war praktisch die ganze Klasse eingeladen, und dann noch die halbe Parallel-klasse und garantiert noch hundert Leute, und ich war nicht eingeladen.

Bis zur letzten Schulstunde und bis nach der Zeugnisverleihung hoffte ich immer noch. Ich hoffte, dass alles ein Irrtum war, dass Tatjana nach dem Klingeln auf mich zukommen und sagen würde: «Psycho, Mann, dich hab ich ja 77

ganz vergessen! Hier ist das grüne Kärtchen!

Ich hoffe, du hast Zeit, es würde mich todun-glücklich machen, wenn ausgerechnet du nicht kommen könntest - und du hast hoffentlich an mein Geschenk gedacht? Ja, auf dich ist Verlass! Also, bis dann, ich freu mich wahnsinnig, dass du kommst! Fast hätte ich dich vergessen, mein Gott!» Dann klingelte es, und alle gingen nach Hause. Ich packte lange und umständlich meine Sachen zusammen, um Tatjana die letzte Gelegenheit zu geben, ihren Irrtum zu bemerken.

Auf den Gängen standen nur noch die Dicken und die Intelligenten und unterhielten sich über ihre Zeugnisse und irgendeinen Stuss, und am Ausgang - zwanzig Meter hinter dem Ausgang - haute jemand auf meine Schulter und sagte: «Übertrieben geile Jacke.» Es war Tschick. Beim Grinsen sah man zwei große Zahnreihen, und die Schlitzaugen waren noch schmaler als sonst. «Kauf ich dir ab. Die Jacke. Bleib mal stehen.»

Ich blieb nicht stehen, aber ich hörte, wie er mir nachlief.

«Lieblingsjacke», sagte ich. «Unverkäuflich.»

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