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«Was ist schon albern?»

«Das ist... na ja. Wir wollten in die Walachei.

Sehen Sie, Sie finden's doch albern.»

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«Ich find's nicht albern, ich hab's nur nicht verstanden. Wohin?»

«In die Walachei.»

«Wo soll das sein?» Er sieht mich interessiert an, und ich spüre, dass ich rot werde.

Wir vertiefen das dann nicht weiter. Zum Schluss geben wir uns noch die Hand wie erwachsene Menschen, und ich bin irgendwie froh, dass ich seine Schweigepflicht nicht überstrapazieren musste.

5 Ich hatte nie einen Spitznamen. Ich meine, an der Schule. Aber auch sonst nicht. Mein Name ist Maik Klingenberg. Maik. Nicht Maiki, nicht Klinge und der ganze andere Quatsch auch nicht, immer nur Maik. Außer in der Sechsten, da hieß ich mal kurz Psycho. Das ist auch nicht der ganz große Bringer, wenn man Psycho heißt. Aber das dauerte auch nicht lang, und dann hieß ich wieder Maik.

Wenn man keinen Spitznamen hat, kann das zwei Gründe haben. Entweder man ist wahnsinnig langweilig und kriegt deshalb keinen, oder man hat keine Freunde. Wenn ich mich für eins von beiden entscheiden müsste, wär's 20

mir, ehrlich gesagt, lieber, keine Freunde zu haben, als wahnsinnig langweilig zu sein.

Weil, wenn man langweilig ist, hat man auto-matisch keine Freunde, oder nur Freunde, die noch langweiliger sind als man selbst.

Es gibt aber auch noch eine dritte Möglichkeit. Es kann sein, dass man langweilig ist und keine Freunde hat. Und ich fürchte, das ist mein Problem. Jedenfalls seit Paul weggezogen ist. Paul war mein Freund seit dem Kindergarten, und wir haben uns fast jeden Tag getroffen, bis seine endbescheuerte Mutter beschlossen hat, dass sie lieber im Grünen wohnen will.

Das war ungefähr zu der Zeit, als ich aufs Gymnasium kam, und das hat alles nicht leichter gemacht. Ich hab Paul dann fast gar nicht mehr gesehen. Das war immer eine halbe Weltreise mit der S-Bahn da raus und dann noch sechs Kilometer mit dem Fahrrad. Außerdem hat Paul sich verändert da draußen.

Seine Eltern hatten sich scheiden lassen, und da ist er dann abgedreht. Ich meine, richtig abgedreht. Paul wohnt jetzt praktisch im Wald mit seiner Mutter und versumpft. Er hatte schon immer diese Tendenz zum Ver-sumpfen. Man musste ihn immer antreiben.

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Aber da draußen hat ihn keiner mehr anget-rieben, und er ist völlig versumpft. Wenn ich mich richtig erinnere, hab ich ihn auch höchstens drei Mal besucht. Es war jedes Mal so deprimierend, dass ich da nie wieder hinwollte. Paul hat mir das Haus gezeigt und den Garten und den Wald und einen Hochsitz im Wald, auf dem hat er immer gesessen, Tiere beobachten. Nur dass es da natürlich gar keine Tiere gab. Alle zwei Stunden flog ein Spatz vorbei. Und darüber hat er auch noch Buch geführt. Das war in dem Frühjahr, als gerade GTAIV rauskam, aber das hat Paul überhaupt nicht mehr interessiert. Nur noch diese Vie-cher. Einen ganzen Tag lang musste ich mit ihm auf seinem Hochsitz sitzen, und dann wurde es selbst mir zu blöd. Ich hab auch einmal heimlich sein Buch durchgeblättert, um zu gucken, was da sonst noch drinstand, weil, da stand noch ziemlich viel anderes Zeug drin. Sachen über seine Mutter standen da drin und Sachen in Geheimschrift, und es gab Zeichnungen von nackten Frauen, ganz schreckliche Zeichnungen. Also nichts gegen nackte Frauen, nackte Frauen sind toll. Aber diese Zeichnungen waren nicht toll, die waren einfach nur endbescheuert, und dazwischen 22

immer in Schönschrift Tierbeobachtungen und Wetterbeobachtungen. Am Ende hatte Paul Wildschweine und Luchse und Wölfe gesehen, Wölfe mit Fragezeichen, und ich hab gesagt: «Das ist hier der Stadtrand von Berlin

- Luchse und Wölfe, bist du dir ganz sicher?»

Und er hat mir das Buch aus der Hand gerissen und mich angeguckt, als ob ich der Bekloppte wäre. Und danach haben wir uns nicht mehr so oft gesehen. Drei Jahre ist das her. Das war einmal mein bester Freund.

Auf dem Gymnasium habe ich dann erst mal niemanden kennengelernt. Ich bin nicht wahnsinnig gut im Kennenlernen. Und das war auch nie das ganz große Problem für mich. Bis Tatjana Cosic kam. Oder bis ich sie bemerkte. Denn natürlich war Tatjana schon immer in meiner Klasse. Aber bemerkt hab ich sie erst in der Siebten. Warum, weiß ich nicht. Aber in der Siebten hatte ich sie auf einmal voll auf dem Schirm, da fing das ganze Elend an. Und ich sollte jetzt wahrscheinlich langsam mal anfangen, Tatjana zu beschreiben. Weil sonst alles, was danach kommt, un-verständlich ist.

Tatjana heißt mit Vornamen Tatjana und mit Nachnamen Cosic. Sie ist vierzehn Jahre alt 23

und 1,65 m groß, und ihre Eltern heißen mit Nachnamen ebenfalls Cosic. Wie sie mit Vornamen heißen, weiß ich nicht. Sie kommen aus Serbien oder Kroatien, jedenfalls kommt der Name daher, und sie wohnen in einem weißen Mietshaus mit vielen Fenstern - bada-bim, badabong. Schon klar: Ich kann hier noch lange rumschwafeln, aber das Erstaunli-che ist, dass ich überhaupt nicht weiß, wovon ich rede. Ich kenne Tatjana nämlich überhaupt nicht. Ich weiß über sie, was jeder weiß, der mit ihr in eine Klasse geht. Ich weiß, wie sie aussieht, wie sie heißt und dass sie gut in Sport und Englisch ist. Und so weiter. Dass sie 1,65 groß ist, weiß ich vom Tag der Schuluntersuchung. Wo sie wohnt, weiß ich aus dem Telefonbuch, und mehr weiß ich praktisch nicht. Und ich könnte logisch noch ihr Aussehen ganz genau beschreiben und ihre Stimme und ihre Haare und alles. Aber ich glaube, das ist überflüssig. Weil, kann sich ja jeder vorstellen, wie sie aussieht: Sie sieht super aus.

Ihre Stimme ist auch super. Sie ist einfach insgesamt super. So kann man sich das vorstellen.

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Und jetzt hab ich immer noch nicht erklärt, warum sie mich Psycho genannt haben. Denn, wie gesagt, für kurze Zeit hieß ich auch Psycho. Keine Ahnung, was das sollte. Also schon klar: Das sollte bedeuten, dass ich sie nicht al-le beisammenhab. Aber da hätten meiner Meinung nach ein paar andere viel eher so heißen können. Frank hätte so heißen können, oder Stöbcke mit seinem Feuerzeug, die sind auf jeden Fall gestörter als ich. Oder der Nazi.

Aber der Nazi hieß schon Nazi, der brauchte keinen Namen mehr. Und natürlich hatte das auch einen speziellen Grund, warum ausgerechnet ich so hieß. Dieser Grund war ein Deutschaufsatz bei Schürmann, sechste Klasse. Thema Reizwortgeschichte. Falls jemand nicht weiß, was das ist, Reizwortgeschichte geht so: Man bekommt vier Wörter, zum Beispiel «Zoo», «Affe», «Wärter» und «Mütze», und dann muss man eine Geschichte schreiben, in der ein Zoo, ein Affe, ein Wärter und eine Mütze vorkommen. Wahnsinnig origi-nell. Der reine Schwachsinn. Die Wörter, die Schürmann sich ausgedacht hatte, waren «Urlaub», «Wasser», «Rettung» und «Gott». Was schon mal deutlich schwieriger war als mit 25

dem Zoo und dem Affen, und die Haupt-schwierigkeit war natürlich Gott. Bei uns gab es nur Ethik, und in der Klasse waren sech-zehn Atheisten inklusive mir, und auch die, die Protestanten waren, die haben nicht wirklich an Gott geglaubt. Glaube ich. Jedenfalls nicht so, wie Leute daran glauben, die wirklich an Gott glauben, die keiner Amei-se was zuleide tun können oder sich riesig freuen, wenn einer stirbt, weil er dann in den Himmel kommt. Oder die mit einem Flugzeug ins World Trade Center krachen. Die glauben wirklich an Gott. Und deshalb war dieser Aufsatz ziemlich schwierig. Die meisten haben sich erst mal an dem Wort Urlaub festgehalten. Da rudert die Kleinfamilie an der Cóte d'Azur rum, und dann geraten sie vollkommen überraschend in einen höllischen Sturm und rufen «O Gott» und werden gerettet und so. Und so was hätte ich natürlich auch schreiben können. Aber als ich über diesem Aufsatz saß, fiel mir als Erstes ein, dass wir die letzten drei Jahre schon nicht mehr in den Urlaub gefahren waren, weil mein Vater die ganze Zeit seinen Bankrott vorbereitete. Was mich nie gestört hatte, so gern bin ich mit 26

meinen Eltern auch wieder nicht in Urlaub gefahren.

Stattdessen hatte ich den ganzen letzten Sommer in unserem Keller gehockt und Bumerangs geschnitzt. Ein Lehrer von mir, einer aus der Grundschule, hat mir das beigebracht.

Das war der totale Fachmann im Bumerang-bereich. Bretfeld hieß der, Wilhelm Bretfeld.

Der hat sogar ein Buch darüber geschrieben.

Sogar zwei Bücher. Das habe ich aber erst mitgekriegt, als ich schon aus der Grundschule raus war. Da hab ich den alten Bretfeld nochmal auf einer Wiese getroffen. Der stand praktisch direkt hinter unserem Haus auf der Kuhwiese und hat seine Bumerangs geworfen, selbstgeschnitzte Bumerangs - und das war auch wieder so eine Sache, wo ich nicht wusste, dass das funktioniert. Wo ich dachte, das gibt's nur im Film, dass die wirklich zu einem zurückkommen. Aber Bretfeld war der Vollprofi, und der hat es mir dann gezeigt. Ich fand das wahnsinnig beeindruckend. Auch dass er seine Bumerangs alle selbst geschnitzt und bemalt hat. «Alles, was vorne rund und hinten spitz ist, fliegt», hat Bretfeld gesagt, und dann hat er mich über seine Brille hinweg angeguckt und gefragt: «Wie heißt du noch-27

mal? Ich kann mich nicht an dich erinnern.»

Was mich aber am meisten umgehauen hat, war dieser Langzeitflugbumerang. Das war ein von ihm selbst entwickelter Bumerang, der konnte minutenlang fliegen, und den hat er erfunden. Überall auf der Welt, wenn heute jemand einen Langzeitflugbumerang wirft und der bleibt fünf Minuten in der Luft, dann wird ein Foto gemacht, und dann steht da: ba-sierend auf einem Design von Wilhelm Bretfeld. Der ist also praktisch weltbekannt, dieser Bretfeld. Und der steht da letzten Sommer auf der Kuhwiese hinter unserem Haus und zeigt mir das. Wirklich ein guter Lehrer. Das hatte ich auf der Grundschule gar nicht bemerkt.

Jedenfalls hab ich die ganzen Sommerferien im Keller gesessen und geschnitzt. Und das waren tolle Sommerferien, viel besser als Urlaub. Meine Eltern waren fast nie zu Hause.

Mein Vater fuhr von Gläubiger zu Gläubiger, und meine Mutter war auf der Beautyfarm.

Und da hab ich dann eben auch den Aufsatz drüber geschrieben: Mutter und die Beautyfarm. Reizwortgeschichte von Maik Klingenberg.

In der nächsten Stunde durfte ich sie vorlesen. Oder musste. Ich wollte ja nicht. Svenja 28

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