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Wie lang ist das denn noch? Ach, so lang noch? Das reicht erst mal, würde ich sagen.»

Da brauchte ich den Rest gar nicht mehr zu lesen. In der Pause hat Schürmann mich da-behalten, um das Heft allein anzugucken, und ich hab wahnsinnig stolz neben ihm gestanden, weil das so ein toller Erfolg gewesen war und weil Schürmann den Aufsatz jetzt sogar noch persönlich zu Ende lesen wollte. Maik Klingenberg, der Schriftsteller. Und dann hat Schürmann das Heft zugeklappt und mich an-36

gesehen und den Kopf geschüttelt, und ich hab gedacht, das ist ein anerkennendes Kopfschütteln, so unter dem Motto: Wie kann ein Sechstklässler nur so endgeile Aufsätze schreiben? Aber dann hat er gesagt: «Was grinst du denn so blöd? Findest du das auch noch lustig?» Und da wurde mir langsam klar, dass das ein so toller Erfolg auch wieder nicht war. Jedenfalls nicht bei Schürmann.

Er ist vom Pult aufgestanden und zum Fenster gegangen und hat auf den Pausenhof raus-gesehen. «Maik», hat er gesagt, und dann hat er sich wieder zu mir umgedreht. «Das ist deine Mutter. Hast du da mal drüber nachgedacht?»

Offensichtlich hatte ich einen riesigen Fehler gemacht. Ich wusste zwar nicht, welchen.

Aber es war Schürmann einfach anzusehen, dass ich mit dieser Geschichte einen absolut riesigen Fehler begangen hatte. Und dass er das für den peinlichsten Aufsatz der Weltge-schichte hielt, war auch irgendwie klar. Nur warum das so war, das wusste ich nicht, das hat er mir nicht verraten, und ich weiß es, ehrlich gesagt, bis heute nicht. Er hat nur immer wiederholt, dass es meine Mutter wäre, und ich hab gesagt, das wäre 37

mir klar, dass meine Mutter meine Mutter wäre, und dann wurde er plötzlich laut und hat gesagt, dieser Aufsatz wäre das Widerwär-tigste und Ekelerregendste und Schamloseste, was ihm in fünfzehn Jahren Schuldienst untergekommen sei und so weiter, und ich soll sofort diese zehn Seiten rausreißen aus meinem Heft. Ich war völlig am Boden zerstört und hab natürlich gleich nach meinem Heft gegriffen wie der letzte Trottel, um die Seiten rauszureißen, aber Schürmann hat meine Hand festgehalten und geschrien: «Du sollst es nicht wirklich rausreißen. Kapierst du denn gar nichts? Du sollst

nachdenken. Denk

nach!» Ich dachte eine Minute nach, und, ehrlich gesagt, ich kapierte es nicht. Ich hab es bis heute nicht kapiert. Ich meine, ich hatte ja nichts erfunden oder so.

7 Und danach hieß ich eben Psycho. Fast ein Jahr lang nannten mich alle so. Sogar im Unterricht. Sogar, wenn Lehrer dabei waren.

«Los, Psycho, spiel ab! Du schaffst es, Psycho!

Schön den Ball flachhalten!» Und das hörte 38

erst wieder auf, als Andre in unsere Klasse kam. Andre Langin. Der schöne Andre.

Andre war sitzengeblieben. Er hatte schon am ersten Tag eine Freundin bei uns, und dann hatte er jede Woche eine andere, und jetzt ist er gerade mit einer Türkin aus der Pa-rallelklasse zusammen, die aussieht wie Sahna Hayek. Auch an Tatjana hat er mal kurz rum-gegraben, da wurde mir wirklich anders. Ein paar Tage haben die beiden dauernd miteinander geredet, auf den Gängen, vor der Schule, am Rondell. Aber zusammen waren sie am Ende doch nicht, glaube ich. Das hätte mich umgebracht. Weil, irgendwann haben sie auch nicht mehr miteinander geredet, und kurz danach hab ich gehört, wie Andre Patrick erklärt hat, warum Männer und Frauen nicht zusammenpassen, wahnsinnig wissenschaftli-che Theorien über die Steinzeit, über Säbel-zahntiger und Kinderkriegen und alles. Und auch dafür habe ich ihn gehasst. Ich habe ihn vom ersten Moment an wahnsinnig gehasst, aber das fiel mir nicht ganz leicht. Weil, Andre ist nicht gerade die hellste Kerze im Leuchter, aber er ist auch nicht komplett hohl. Er kann ganz nett sein, und er hat was Lässiges, und er sieht, wie gesagt, ziemlich gut aus. Aber er ist 39

trotzdem ein Arschloch. Zu allem Überfluss wohnt er nur eine Straße weiter von uns, in der Waldstraße 15. Wo übrigens nur Arschlö-cher wohnen. Die Langins haben da ein riesiges Haus. Sein Vater ist Politiker, Stadtrat oder so was. Klar. Und mein Vater sagt: Großer Mann, dieser Langin! Weil er jetzt auch in der FDP ist. Da muss ich strahlkotzen. Tut mir leid.

Aber ich wollte ja was anderes erzählen. Als Andre noch ganz neu bei uns war, waren wir einmal wandern, irgendwo südlich von Berlin.

Der übliche Ausflug in den Wald. Ich lief mit großem Abstand hinter allen anderen her und guckte mir die Natur an. Weil, das war zu einer Zeit, da hatten wir gerade ein Herbarium angelegt, und ich interessierte mich eine Weile lang für die Natur. Für Bäume. Ich wollte vielleicht Wissenschaftler oder so was werden.

Aber auch nicht lange, und das hing wahrscheinlich auch wieder mit diesem Ausflug zusammen, wo ich meilenweit hinter den anderen herwanderte, um mir in aller Ruhe den Blattstand und den Habitus anzugucken. Da fiel mir dann nämlich auf, dass ich mich für Blattstand und für Habitus einen Scheiß interessierte. Vorne wurde gelacht, und ich 40

konnte das Lachen von Tatjana Cosic unterscheiden, und zweihundert Meter dahinter latscht Maik Klingenberg durch den Wald und schaut sich den Scheißblattstand in der Natur an. Die ja nicht einmal eine richtige Natur war, sondern ein mickriges Gehölz, wo alle zehn Meter drei Hinweisschilder standen.

Hölle.

Irgendwann haben wir dann bei einer drei-hundert Jahre alten Weißbuche gehalten, die ein Friedrich der Große da in die Erde gepf-lanzt hatte, und der Lehrer hat gefragt, wer denn jetzt weiß, was das für ein Baum ist. Und keiner wusste es. Außer mir natürlich. Aber ich war auch nicht so bescheuert, dass ich vor allen Leuten zugegeben hätte, dass ich wusste, dass das eine Weißbuche ist. Da hätte ich ja gleich sagen können: Mein Name ist Psycho, und ich habe ein Problem. Allein dass wir jetzt alle um diesen Baum rumstanden und keiner wusste, was das ist, war auch wieder deprimierend. Und jetzt komme ich langsam zum Punkt. Unter dieser Weißbuche hatte Friedrich der Große nämlich noch ein paar Bänke aufgestellt, damit man sich da hinsetzen und picknicken konnte, und genau das haben wir dann auch getan. Ich saß zufällig mit am Tisch 41

von Tatjana Cosic. Mir schräg gegenüber Andre, der schöne Andre, beide Arme rechts und links um die Schultern von Laura und Marie gelegt. Als wäre er mit ihnen dick befreundet, dabei war er mit ihnen überhaupt nicht befreundet. Er war erst höchstens eine Woche in unserer Klasse. Aber die beiden hatten auch nichts dagegen. Im Gegenteil, sie waren wie vor Glück versteinert und bewegten sich keinen Millimeter, als hätten sie Angst, Andres Arme wie scheue Vögel von ihren Schultern zu verscheuchen. Und Andre hat die ganze Zeit nichts gesagt, nur mit seinem Schlafzimmerb-lick schlafzimmerartig in die Gegend geschaut, und dann guckte er auch einmal mich an und sagte nach langem Nachdenken in irgendeine Richtung, aber garantiert nicht in meine: «Wieso heißt der eigentlich Psycho?

Der ist doch total langweilig.» Laura und Marie haben sich weggeschmissen über diesen Spitzenwitz, und weil das so ein großer Erfolg war, hat Andre seinen Satz gleich nochmal wiederholt: «Ja, echt, warum heißt die Schlaftablette eigentlich Psycho?» Und seitdem heiße ich wieder Maik. Und es ist noch schlimmer als vorher.

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Es gibt ziemlich viele Sachen, die ich nicht kann. Aber wenn ich was kann, dann ist das Hochsprung. Ich meine, ich bin kein olym-piamäßiger Crack oder so, aber im Hochsprung und im Weitsprung bin ich fast unschlagbar. Obwohl ich einer der Kleinsten bin, komm ich so hoch wie Olaf, der einen Meter neunzig ist. Im Frühjahr hab ich einen Schulrekord für die Mittelstufe aufgestellt und war wahnsinnig stolz. Wir waren auf der Hochsprunganlage, und die Mädchen saßen nebenan im Gras, wo ihnen Frau Beilcke einen Vortrag gehalten hat. Das ist der Sportun-terricht bei denen: Frau Beilcke hält einen Vortrag, und die Mädchen sitzen um sie rum und kratzen sich an den Fußknöcheln. Sie laufen auch nicht dauernd um den Platz wie bei Wolkow.

Wolkow ist unser Sportlehrer, und natürlich hält der auch gern Vorträge. Alle Sportlehrer, die ich bisher hatte, lassen unglaublich viel Text raus. Bei Wolkow ist das montags immer die Bundesliga, dienstags meistens auch noch Bundesliga, mittwochs die Champions League und freitags kommt schon wieder die Vor-43

freude auf die Bundesliga und die Analyse. Im Sommer kann Wolkow auch mal seine Meinung über die Tour de France äußern, aber das kommt über das Thema Doping dann auch immer schnell zurück zum sehr viel wichtigeren Thema, warum im Fußball schön-erweise nicht gedopt wird. Weil es da nämlich nichts nützt. Das ist Wolkows ehrliche Meinung. Und das hat auch noch nie jemanden interessiert, aber das Problem ist: Wolkow redet nur, während wir um den Platz joggen. Er hat eine Wahnsinnskondition, er ist garantiert schon siebzig oder so, zuckelt aber immer frisch vorneweg und quatscht und quatscht. Und dann sagt er immer: «Männer!» Und dann sagt er zehn Meter nichts und dann: «Dortmund.» Zehn Meter. «Packt es nicht.» Zehn Meter. «Die Heimbilanz.

Stimmt's oder hab ich recht?» Zwanzig Meter.

«Und van Gaal, der alte Fuchs! Das wird kein Spaziergang.» Param, param. «Eure Meinung?» Hundert Meter. Und natürlich sagt keiner was, weil wir schon zwanzig Kilometer gelaufen sind, und nur Hans, der Nazi, der Fußballtrottel, der schwitzend hinterm Feld herkeucht, brüllt manchmal: «Ha-ho-he! Her-tha BSC!» Und dann wird es selbst Wolkow zu 44

viel, Schwafelwolkow, und er dreht eine Ex-traschleife, damit Hans wieder aufschließen kann, und dann hebt er den Zeigefinger und ruft mit zitternder Stimme: «Simunic! Joe Simunic! Kardinalfehler», und Hans ruft von hinten: «Ich weiß, ich weiß!», und Wolkow zieht das Tempo wieder an und murmelt:

«Simunic, mein Gott! Das Bollwerk. Nie verkaufen. Abstieg. Simunic.»

Und allein schon deshalb kann man wahnsinnig froh sein über Hochsprung. Vielleicht haben wir aber auch nur Hochsprung gemacht an diesem Tag, weil Wolkow eine extrem schlimme Halsentzündung hatte und sowieso nicht gleichzeitig joggen und schwafeln konnte, sondern nur joggen. Wenn Wolkow eine mittelschwere Halsentzündung hat, schwafelt er etwas weniger. Wenn Wolkow tot ist, fällt der Unterricht aus. Aber wenn er eine extrem schlimme Halsentzündung hat, joggt er einfach lautlos um den Platz.

Beim Hochsprung hat er dann die ganze Zeit unsere Leistungen in sein schwarzes Notiz-büchlein eingetragen und mit den Daten vom Vorjahr verglichen und uns immer zuge-krächzt, letztes Jahr wären wir aber fünf Zentimeter höher gekommen. Neben der 45

Hochsprunganlage saßen die Mädchen, wie gesagt, und hörten Frau Beilcke zu. In Wahrheit hörten sie natürlich nicht zu, sondern guckten zu uns rüber.

Tatjana hockte mit ihrer besten Freundin Natalie ganz am Rand. Sie hockten da und tu-schelten. Und ich saß wie auf glühenden Koh-len. Ich wollte unbedingt drankommen, bevor Frau Beilcke mit ihrem Sermon zu Ende war.

Tollerweise machte Wolkow auch gleich Wettkampf: Eins zwanzig Höhe, wer nicht drüberkam, war raus. Dann fünf Zentimeter höher und so weiter. An eins zwanzig scheiter-te nur Heckel. Heckel hat einen Fettbauch, hatte er schon in der Fünften, und dazu Streichholzbeine. Es ist nicht die ganz große Überraschung, dass er keinen Zentimeter vom Boden abheben kann. Eigentlich ist er in keinem Fach besonders gut, aber in Sport ist er besonders scheiße. Er ist auch Legastheniker zum Beispiel, was bedeutet, dass in Deutsch seine Rechtschreibung nicht zählt. Da kann er so viele Fehler machen, wie er will. Es zählen nur Inhalt und Stil, weil das eine Krankheit ist und er nichts dafür kann. Aber da frage ich mich schon, was er denn für seine Streichholzbeine kann. Sein Vater ist Busfahrer und 46

sieht genauso aus: eine Tonne auf zwei Stelzen. Genau genommen ist Heckel also auch Hochsprung-Legastheniker, und es dürfte nicht zählen, wie hoch er kommt, sondern nur der Stil. Aber das ist halt keine anerkannte Krankheit, da bleibt es dann bei der Fünf in Sport, und alle Mädchen kichern, wenn der Fettsack mit beiden Händen voran die Latte abwehrt und quiekend aufs Gesicht fällt. Ar-me Sau, einerseits. Andererseits muss ich zugeben, dass es wirklich komisch aussieht.

Denn selbst wenn bei Heckel die Höhe nicht zählen würde, der Stil ist immer noch fünf minus.

Bei eins vierzig lichtete sich langsam das Feld. Bei einsfünfzig waren nur noch Kevin und Patrick dabei, Andre mit großer Mühe und ich natürlich. Olaf war krank. Als Andre sich über die Latte gequält hatte, gab es Mäd-chenjubel, und Frau Beilcke guckte streng. Bei eins fünfundfünfzig rief Natalie: «Das schaffst du, Andre!» Eine extrem blöde Anfeuerung, denn er schaffte es natürlich nicht. Im Gegenteil, er flog geradezu unter der Latte durch, wie so oft beim Hochsprung, wenn man sich zu viel vornimmt. Er krachte hinten über den Rand und versuchte sich dann mit einem Witz 47

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