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Und nach ihm Hitler.»

Wagenbach zog die Luft wieder durch ein Nasenloch ein. Die Einleitung machte keinen Eindruck auf Tschick. Er rührte sich nicht.

«Jedenfalls ist Andrej vor vier Jahren mit seinem Bruder hier nach Deutschland gekommen, und - möchtest du das nicht lieber selbst erzählen?»

Der Russe machte eine Art Geräusch.

«Andrej, ich spreche mit dir», sagte Wagenbach.

«Nein», sagte Tschick. «Nein im Sinne von ich möchte es lieber nicht erzählen.»

Unterdrücktes Kichern. Wagenbach nickte kantig.

«Na schön, dann werde ich es erzählen, wenn du nichts dagegen hast, es ist schließlich sehr ungewöhnlich.»

Tschick schüttelte den Kopf. «Es ist nicht ungewöhnlich?»

«Nein.»

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«Also, ich finde es ungewöhnlich», beharrte Wagenbach. «Und auch bewundernswert.

Aber um es kurz zu machen - kürzen wir das hier mal ab. Unser Freund Andrej kommt aus einer deutschstämmigen Familie, aber seine Muttersprache ist Russisch. Er ist ein großer Formulierer, wie wir sehen, aber er hat die deutsche Sprache erst in Deutschland gelernt und verdient folglich unsere Rücksicht in gewissen ... na ja, Bereichen. Vor vier Jahren besuchte er zuerst die Förderschule. Dann wurde er auf die Hauptschule umgeschult, weil seine Leistungen das zuließen, aber da hat er es auch nicht lange ausgehalten. Dann ein Jahr Realschule, und jetzt ist er bei uns, und das alles in nur vier Jahren. So weit richtig?»

Tschick rieb sich mit dem Handrücken über die Nase, dann betrachtete er die Hand.

«Neunzig Prozent», sagte er.

Wagenbach wartete einen Moment, ob da noch mehr käme. Aber da kam nichts mehr.

Die restlichen zehn Prozent blieben ungeklärt.

«Na gut», sagte Wagenbach überraschend freundlich. «Und nun sind wir natürlich alle sehr gespannt, was da noch kommt... Leider kannst du nicht ewig hier vorne stehen bleiben, so schön es auch ist, sich mit dir zu un-56

terhalten. Ich würde deshalb vorschlagen, du setzt dich dahinten an den freien Tisch, weil das ja auch der einzige Tisch ist, der frei ist.

Nicht?»

Tschick schlurfte wie ein Roboter durch den Mittelgang. Alle sahen ihm nach. Tatjana und Natalie steckten die Köpfe zusammen.

«Napoleon!», sagte Wagenbach und machte eine Kunstpause, um eine Packung Papierta-schentücher aus der Aktentasche zu ziehen und sich ausführlich zu schnäuzen.

Tschick war mittlerweile hinten angekommen, und aus dem Gang, durch den er gekommen war, wehte ein Geruch rüber, der mich fast umhaute. Eine Alkoholfahne. Ich saß drei Plätze vom Gang weg und hätte seine Getränkeliste der letzten vierundzwanzig Stunden zusammenstellen können. So roch meine Mutter, wenn sie einen schlechten Tag hatte, und ich überlegte, ob das vielleicht der Grund gewesen war, warum er Wagenbach die ganze Zeit nicht angesehen und nicht den Mund aufgemacht hatte, wegen der Fahne.

Aber Wagenbach hatte Schnupfen. Der roch sowieso nichts.

Tschick setzte sich an den letzten freien Tisch ganz hinten. An diesem Tisch hatte zu Beginn 57

des Schuljahrs Kallenbach gesessen, der Klassentrottel. Aber weil bekannt war, dass Kallenbach pausenlos störte, hatte Frau Pechstein ihn noch am selben Tag von da wegge-holt und in die erste Reihe gesetzt, damit sie ihn unter Kontrolle hatte. Und nun saß stattdessen dieser Russe am letzten Tisch, und vermutlich war ich nicht der Einzige, der den Eindruck hatte: dass das aus Sicht von Frau Pechstein keine gute Idee war, statt Kallenbach da den Russen sitzen zu haben. Der war ein ganz anderes Kaliber als Kallenbach, das war offensichtlich, deshalb drehten sich auch alle ständig nach ihm um. Nach diesem Auf-tritt mit Wagenbach wusste man einfach: Da passiert noch was, das wird jetzt richtig spannend.

Aber dann passierte den ganzen Tag lang überhaupt nichts. Tschick wurde von jedem Lehrer neu begrüßt und musste in jeder Stunde seinen Namen buchstabieren, aber ansons-ten war Ruhe. Auch die nächsten Tage blieb es ruhig, es war eine richtige Enttäuschung.

Tschick kam immer im selben, abgewrackten Hemd zur Schule, beteiligte sich nicht am Unterricht, sagte immer «Ja» oder «Nein» oder

«Weiß nicht», wenn er aufgerufen wurde, und 58

störte nicht. Er freundete sich mit niemandem an, und er machte auch keinen Versuch, sich mit jemandem anzufreunden. Nach Alkohol stank er die nächsten Tage nicht mehr, und trotzdem hatte man immer, wenn man in die letzte Reihe guckte, den Eindruck, er wäre irgendwie weggetreten. So zusammengesunken, wie er dasaß mit seinen Schlitzaugen, da wusste man nie: Schläft der, ist der hacke, oder ist der einfach nur sehr lässig?

So ungefähr einmal die Woche roch es dann aber doch wieder. Nicht so schlimm wie am ersten Tag, aber immerhin. Es gab auch bei uns in der Klasse Leute, die schon mal einen Vollrausch gehabt hatten - ich gehörte nicht dazu -, aber dass einer morgens besoffen in die Schule kam, war neu. Tschick kaute dann stinkendes Pfefferminzkaugummi, daran konnte man immer erkennen, was Phase war.

Sonst wusste man nicht viel über ihn. Dass da einer von der Förderschule ins Gymnasium kam, war ja absurd genug. Und dann noch diese Klamotten. Aber es gab auch Leute, die ihn verteidigten, die meinten, dass er in Wirklichkeit gar nicht dumm war. «Jedenfalls garantiert nicht so dumm wie Kallenbach», behauptete ich irgendwann, denn ich war einer 59

von diesen Leuten. Aber ich verteidigte ihn, ehrlich gesagt, auch nur, weil Kallenbach gerade dabeistand, der mir auf die Nerven ging.

Aus Tschicks Redebeiträgen konnte man wirklich nicht schließen, ob er dumm oder klug war oder irgendwas dazwischen.

Und natürlich gab es auch Gerüchte über ihn und seine Herkunft. Tschetschenien, Sibirien, Moskau - war alles im Gespräch. Kevin meinte, Tschick würde mit seinem Bruder irgendwo hinter Hellersdorf in einem Campingwa-gen wohnen, und dieser Bruder wäre ein Waffenschieber. Jemand anders wusste, dass er ein Frauenhändler war, und es war die Rede von einer 40-Zimmer-Villa, in der die Rus-senmafia Orgien feierte, und wieder jemand anders behauptete, Tschick würde in einem dieser Hochhäuser Richtung Müggelsee wohnen. Aber, ehrlich gesagt, das war alles Ge-wäsch, und das kam nur zustande, weil Tschick selbst mit fast niemandem redete.

Und so geriet er langsam wieder in Verges-senheit. Oder jedenfalls so sehr in Vergessen-heit, wie man geraten kann, wenn man täglich in demselben schlimmen Hemd und einer bil-ligen Jeans erscheint und auf dem Platz des Klassentrottels sitzt. Die Schuhe aus toten 60

Tieren immerhin wurden irgendwann durch weiße Adidas ersetzt, von denen auch sofort wieder jemand wusste, dass sie frisch geklaut waren. Und vielleicht waren sie auch frisch geklaut. Aber die Zahl der Gerüchte nahm nicht mehr weiter zu. Man erfand nur noch den Spitznamen Tschick, und für alle, denen das zu einfach war, hieß er

der Förderschüler, und dann war das Russen-thema erst mal durch. Jedenfalls in unserer Klasse.

Auf dem Parkplatz dauerte es etwas länger.

Auf diesem Parkplatz vor der Schule standen morgens die Oberstufenschüler, und da gab es ein paar, die schon Autos hatten, und die fanden diesen Mongolen wahnsinnig interessant.

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