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Ich sah verzweifelt durch die Heckscheibe, und Tschick steuerte auf die Böschung zu, einen 45-Grad-Steilhang aus Kies und Geröll.

«Runter oder was?», rief er, und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Er tippte noch auf die Bremse, dann rauschten wir schon über die Kante - und das war's.

Möglicherweise hätten wir es auch geschafft, wenn wir gerade runtergefahren wären, aber Tschick fuhr seitlich auf die Böschung, und da schmierte der Lada sofort ab. Er kam ins Rut-252

schen, blieb hängen und überschlug sich.

Drei- vier-, fünf-, sechsmal - ich weiß es nicht

-, überschlug sich und blieb dann auf dem Dach liegen. Ich kriegte kaum was mit. Was ich wieder mitkriegte, war: Die Beifahrertür war aufgesprungen, und ich versuchte raus-zukriechen. Was mir nicht gelang. Ich brauchte ungefähr eine halbe Stunde, um zu merken, dass ich nicht gelähmt war, sondern im Sicherheitsgurt festhing. Dann war ich endlich draußen und sah in dieser Reihenfolge: einen grünen Autobahnmülleimer direkt vor mir, einen umgedrehten Lada, unter dessen Motorhaube es dampfte und zischte, und Tschick, der auf allen vieren durchs Gelände kroch. Er rappelte sich auf, taumelte ein paar Schritte, rief «Los!» und fing an zu rennen.

Aber ich rannte nicht. Wohin denn? Hinter uns das Plateau mit der Polizei vermutlich, vor uns die Autobahn, und hinter der Autobahn Felder bis zum Horizont. Nicht gerade das ideale Gelände, um vor einer Polizeistreife davonzulaufen. Rund um den Autobahnpark-platz noch ein paar Bäume und Gebüsch, hinter den Feldern irgendwo ein großer weißer Kasten, wahrscheinlich eine Fabrik.

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«Was ist los?», rief Tschick. «Bist du verletzt?»

War ich verletzt? Nein, schien nicht so. Ein paar blaue Flecken vielleicht.

«Stimmt was mit dir nicht?», fragte er und kam zurück.

Ich wollte gerade zu einer Erklärung anset-zen, warum ich es für lächerlich hielt, zu Fuß vor der Polizei davonzulaufen, da gab es ein Geräusch von brechenden Zweigen und Laub-rascheln. Ein Flusspferd brach vor uns durch die Büsche. Irgendwo in Deutschland, direkt an der Autobahn, in der völligen Einöde, brach ein Flusspferd durchs Gebüsch und rannte auf uns zu. Es hatte einen blauen Hosenanzug an, eine blonde, kräuselige Dauer-welle auf dem Kopf und einen Feuerlöscher in der Hand. Vier bis fünf Fettringe schwabbel-ten über seiner Taille. Mit zwei Walzen, die unten aus dem Hosenanzug rausguckten, stampfte es durch das Gelände, kam vor dem umgedrehten Lada zum Stehen und riss den Feuerlöscher hoch. Nichts brannte.

Ich schaute Tschick an, Tschick schaute mich an. Wir schauten die Frau an. Denn es war ei-ne Frau und kein Flusspferd. Keiner sagte was, und ich weiß noch, dass ich dachte, dass 254

aus diesem Feuerlöscher jetzt ein weißer Strahl rausschiejlen müsste, um uns unter einem Schaumberg zu begraben.

Die Frau wartete noch eine Weile, dass das Auto explodierte, damit sie ihren Feuerlöscher einsetzen konnte, aber der Lada war im To-deskampf genauso müde, wie er zu Lebzeiten gewesen war. Unter der Motorhaube zischte es nur. Ein Hinterrad drehte sich, wurde langsamer und blieb stehen.

«Ist euch was passiert?», fragte die Frau und guckte misstrauisch zur Kühlerhaube. Tschick tippte mit dem Finger gegen den Feuerlöscher. «Brennt's?»

«O mein Gott», sagte die Frau und ließ den Feuerlöscher sinken. «Ist euch was passiert?»

«Nichts», sagte Tschick.

«Bei dir auch alles klar?»

Ich nickte.

«Wo ist euer Vater? Oder eure Mutter? Wer ist denn gefahren?»

«Ich bin gefahren», sagte Tschick.

Die Frau schüttelte den Kopf, der aussah wie ihre Taille.

«Ihr habt einfach das Auto von -»

«Das Auto ist geklaut», sagte Tschick.

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Wenn der Arzt recht hatte, der mich später untersuchte, hatte ich zu dieser Zeit einen Schock. Bei einem Schock geht alles Blut in die Beine, und dadurch hat man kein Blut mehr im Kopf und tickt praktisch nicht mehr richtig. Hat jedenfalls der Arzt gesagt. Und er hat auch gesagt, dass das aus der Steinzeit ist, wo die Neandertaler durch den Wald gelaufen sind, und wenn dann plötzlich von rechts ein Mammut kam, kriegte man einen Schock, und mit dem vielen Blut in den Beinen konnte man besser weglaufen. Denken war da nicht so wichtig. Klingt merkwürdig, aber, wie gesagt, das hat der Arzt gesagt. Und vielleicht hatte Tschick also recht gehabt mit seinem Wegrennen, und ich hatte unrecht mit meinem Stehenbleiben, aber im Nachhinein ist man immer schlauer. Und vor uns stand die Frau mit dem Feuerlöscher und war ebenfalls geschockt. Weil, wenn ich einen Schock hatte und wenn Tschick auch einen Schock hatte, dann hatte die Frau mindestens fünf Schocks.

Vielleicht reichte es schon, dass sie unseren Absturz beobachtet hatte oder dass Tschick ihr erzählte, dass das ein geklautes Auto war, aber sie zitterte wahnsinnig. Sie guckte Tschick an, zeigte auf einen Tropfen Blut, der 256

an seinem Kinn runterlief, und sagte: «0 mein Gott.» Dann fiel ihr der Feuerlöscher aus der Hand und auf Tschicks Fuß. Tschick kippte sofort rückwärts um. Er landete mit dem Rücken im Gras, hielt sein Bein senkrecht nach oben, griff mit den Händen danach und schrie.

«O mein Gott!», rief die Frau noch einmal und kniete sich neben Tschick ins Gras.

«Scheiße», sagte ich. Ich warf einen kurzen Blick den Steilhang rauf: Immer noch keine Polizei.

«Ist er gebrochen?»

«Woher soll ich das wissen?», schrie Tschick und rollte auf dem Rücken rum. 38

Und das war jetzt die Lage: Da waren wir Hunderte Kilometer kreuz und quer durch Deutschland gefahren, auf Baustellengerüsten über den Abgrund gerollt und von Horst Fricke beschossen worden, wir waren eine Piste entlang- und einen Abhang runtergebrettert, hatten uns fünfmal überschlagen und alles mehr oder weniger ohne Schramme über-standen - und dann kam ein Flusspferd aus 257

dem Gebüsch und zerstörte Tschicks Fuß mit einem Feuerlöscher.

Wir beugten uns über den Fuß, wussten aber nicht, ob er gebrochen war oder nur ver-staucht. Jedenfalls konnte Tschick nicht mehr auftreten.

«Das tut mir unendlich leid!», sagte die Frau.

Und es tat ihr unendlich leid, das konnte man sehen. Sie schien fast mehr Schmerzen zu haben als Tschick, jedenfalls dem Gesicht nach zu urteilen, und während in meinem Kopf immer noch vollkommene Leere herrschte und Tschick stöhnend hin- und herrollte, war die Frau die Erste, die die Situation langsam wieder unter Kontrolle kriegte. Sie fingerte nochmal an Tschicks Kinn rum, dann nahm sie seinen Unterschenkel hoch. «Aua, aua», sagte sie, während sie den Knöchel hin und her drehte und Tschick wimmerte.

«Du musst ins Krankenhaus», war ihre Schlussfolgerung.

«Warte», wollte ich sagen - da hatte das Flusspferd schon seine Vorderhufe unter Tschick gewuchtet und hob ihn hoch, als wäre er eine Scheibe Brot.

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