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«In dem Alter weiß man häufig nicht, wohin der Hase will.»

«Nee», sagte Tschick und schüttelte den Kopf, und auch ich schüttelte den Kopf, ungefähr wie ein ultimativer Lionel-Messi-Fan, der 245

gefragt wird, ob er nicht doch eher Christiano Ronaldo für den Allergrößten hält.

«Dann seid ihr also verliebt, ja?»

Wir sagten wieder ja, und mir wurde etwas mulmig, als ich merkte, wie er auf dem Thema rumritt. Er redete nur noch von Mädeln und von Liebe und dass das Schönste im Leben der Alabasterkörper der Jugend wäre.

«Glaubt mir», sagte er, «ihr schließt ein Mal die Augen und öffnet sie wieder, und welk hängt das Fleisch in Fetzen. Die Liebe, die Liebe! Carpe diem.»

Er ging zwei Schritte zur Wand und zeigte auf eins der vielen kleinen Fotos. Tschick guckte mich stirnrunzelnd an, aber ich stand sofort auf, setzte mein Ich-weiß-was-sich-gehört-Lächeln auf und begutachtete das Fo-to, über dem der runzlige Finger des Alten schwebte. Es war ein Passfoto, auf einer Ecke ein Viertel eines Stempels und ein Viertel Ha-kenkreuz. Es zeigte einen hübschen jungen Mann in Uniform, der einigermaßen trotzig in die Gegend guckte. Offenbar er selbst. Während ich mir das ansah, wanderte der runzlige Finger ein Bild nach rechts.

«Und das ist die Else. Das war mein Mädel.»

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Das Foto zeigte ein scharfgeschnittenes Gesicht, von dem ich auf den ersten Blick nicht hätte sagen können, ob es Junge oder Mädchen war. Aber «Else» trug eine andere Uniform als der Soldat oder Hitlerjunge neben ihr. Insofern war es vielleicht wirklich ein Mädchen.

Er fragte, ob er uns die Geschichte von sich und der Else erzählen sollte, und da er dabei schon wieder das Luftgewehr in die Hand genommen hatte, gedankenverloren allerdings, als wäre es ein Teil seines Körpers oder ein Teil seiner Geschichte, und weil wir ja auch schlecht nein sagen konnten, hörten wir uns das dann an.

Es war allerdings keine richtige Geschichte.

Jedenfalls nicht so eine, wie Leute sie normalerweise erzählen, wenn sie von ihrer großen Liebe erzählen.

«Ich war Kommunist», sagte er. «Die Else und ich, wir waren Kommunisten. Und zwar Ultrakommunisten. Und auch nicht erst nach 45 wie alle andern, wir waren schon immer Kommunisten. Und da haben wir uns auch kennengelernt, in der Widerstandsgruppe Ernst Röhm. Das glaubt heute keiner mehr, aber das war eine andere Zeit. Und ich konnte 247

mit Waffen wie kein Zweiter. Die Else war das einzige Mädel da, eine ganz Feine, aus bestem Haus, und hat ausgesehen wie ein Junge. Die hat die ganzen verbotenen Schriftsteller übersetzt. Die hat den Juden Shakespeare übersetzt. Die hat den Ravage übersetzt. Sie konnte Englisch wie ein Vogel, das konnten ja nicht viele, und ich hab das auf der Schreibmaschi-ne abgetippt ... ja, so war das. Liebe meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Im KZ haben sie die Else dann sofort vergast, und ich bin im Strafbataillon mit meiner Flinte durch den Kursker Bogen gekrochen. Damit konnte ich einem Iwan auf 400 Meter ein Auge ausschie-ßen.»

«Einem Iwan?», fragte Tschick.

«Einem Iwan. Einem Scheißrussen», sagte der Alte und dachte nach. Er sah dabei weder Tschick noch mich an, und wir wechselten einen Blick. Tschick wirkte nicht sonderlich beunruhigt, ich war's eigentlich auch nicht mehr.

«Ich dachte», sagte ich, «Sie wären Kommunist gewesen.»

«Ja.»

«Und - waren die Russen nicht auch so 'ne Art Kommunisten?»

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«Ja.»

Er dachte wieder nach. «Und ich konnte einem auf 400 Meter ein Auge ausschieden!

Horst Fricke, bester Schütze seiner Einheit.

Ich hatte mehr Eichenlaub an meiner Brust als ein verdammter Wald. Wie Tontauben hab ich die weggeknallt. Die waren komplett behämmert. Oder die Kommandanten waren behämmert. Die haben die Horden auf uns zugetrieben. Vorne hat Sinning am MG abge-räumt und hinten Schütze Fricke. Fricke allein gegen den Iwan war das manchmal. Und die hatten ja auch Gewehre. Da musst du erst mal drüber nachdenken, wenn du so blöde Fragen stellst. Wenn du denkst, du kommst jetzt mit Moral und dem ganzen Dreck. Die oder ich! Das war die Frage. Jeden Tag Iwans, jugendliches Fleisch, das auf uns zugetaumelt ist. Ein Ozean aus Fleisch. Die hatten ja zu viel davon. Von wegen Lebensraum im Osten.

Waren viel zu viele Russen da. Bei denen stand einer von der Tscheka hinter jeder Linie und hat jeden abgeknallt, der nicht rauswollte in unser Sperrfeuer. Denkt man immer, die Nazis waren grausam. Aber im Vergleich zum Russen: Fliegenschiss. Und da haben sie uns ja letztlich mit überrollt. Mit Fleisch. Mit Ma-249

schinen hätten sie das nie geschafft. Ein Iwan und noch ein Iwan und noch ein Iwan. Ich hatte zwei Zentimeter Hornhaut auf meinem rechten Zeigefinger. Hier.» Er hielt beide Zeigefinger hoch. Tatsächlich hatte der rechte ei-ne kleine Beule an der Kuppe. Ob die wirklich vom Iwan kam, weiß ich natürlich nicht.

«Das ist doch alles Schwachsinn», sagte Tschick.

Merkwürdigerweise reagierte der Mann nicht wirklich auf diesen Einwand. Er redete noch eine Weile weiter, aber was es mit seiner großen Liebe letztlich auf sich hatte, erfuhren wir nicht.

«Und eins müsst ihr euch merken, meine Täubchen», sagte er zum Schluss. «Alles sinn-los. Auch die Liebe. Carpe diem.»

Dann zog er ein kleines braunes Glasfläschen aus der Hosentasche und überreichte es uns, als wäre es das Kostbarste auf der Welt. Er machte ein großes Gewese drum, wollte aber nicht sagen, was drin war. Das Etikett war vergilbt, und das Fläschchen sah aus, als hätte er es mindestens seit dem Kursker Bogen in seiner Tasche mit sich rumgetragen. Wir sollten es nur aufmachen, wenn wir in Not wären, schärfte er uns ein, wenn die Lage so ernst 250

wäre, dass wir nicht mehr weiterwüssten, und vorher nicht, und dann würde es uns helfen.

Er sagte retten. Es würde uns das Leben retten.

Damit gingen wir zum Auto zurück. Ich hielt das Fläschchen gegens Licht, aber es war nichts zu erkennen. Irgendeine zähe Flüssig-keit, aber auch was Festes mit dabei.

Im Auto versuchte Tschick, die Schatten auf dem Etikett zu entziffern, und als er das Fläschchen schließlich aufmachte, fing es an, wie wahnsinnig nach faulen Eiern zu stinken, und er warf es aus dem Fenster. 37

Die Straße verlor sich kurz hinter dem verlassenen Dorf, und wir mussten querfeldein.

Links lag irgendwo die weggefräste Landschaft, rechts sackte eine riesige, längliche Kiesböschung nach unten, und dazwischen lief eine vierzig bis fünfzig Meter breite Piste, ein schmales Plateau. Als ich mich einmal umdrehte, sah ich in großer Entfernung hinter uns das Dorf, sah das zweistöckige Haus, in dem Schütze Fricke wohnte, und sah - dass vor dem Haus ein Polizeiauto hielt. Ganz win-251

zig, kaum noch zu erkennen, aber doch eindeutig: die Polizei. Sie schienen gerade zu wenden. Ich machte Tschick darauf aufmerk-sam, und wir nagelten mit fast achtzig Stundenkilometern durchs Gelände. Die Piste wurde immer schmaler, die Abhänge rückten näher an uns ran, und schräg vor uns sahen wir irgendwo die Autobahn, die da unten einen Schlenker an der Kiesböschung vorbei-machte. Ich erkannte eine Parkbucht mit zwei Tischchen, einen Mülleimer und eine Notruf-säule, und man hätte da wahrscheinlich einfach auf die Autobahn fahren können - wenn irgendwo ein Weg nach unten geführt hätte.

Aber vom Plateau führte kein Weg hinunter.

Das Scheißplateau war da einfach zu Ende.

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