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Mehr sagte ich nicht. Als ich fertig war, wischte Isa die abgeschnittenen Haare weg, und dann saßen wir auf der Staustufe nebe-neinander, schauten in die Landschaft und warteten darauf, dass Tschick zurückkam. Isa hatte ihr T-Shirt noch immer nicht angezogen, und vor uns lagen die Berge mit ihrem blauen Morgennebel, der in den Tälern vorne schwamm, und dem gelben Nebel in den Tälern hinten, und ich fragte mich, warum das eigentlich so schön war. Ich wollte sagen, wie schön es war, oder jedenfalls wie schön ich es fand und warum, oder wenigstens, dass ich nicht erklären konnte, warum, und irgendwann dachte ich, es ist vielleicht auch nicht nötig, es zu erklären.

«Hast du schon mal gefickt?», fragte Isa.

«Was?»

«Du hast mich gehört.»

Sie hatte ihre Hand auf mein Knie gelegt, und mein Gesicht fühlte sich an, als hätte man heißes Wasser draufgegossen.

«Nein», sagte ich.

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«Und?»

«Was und?»

«Willst du? »

«Was will ich?»

«Du hast mich schon verstanden.»

«Nein», sagte ich.

Meine Stimme war ganz hoch und fiepsig.

Nach einer Weile nahm Isa ihre Hand wieder weg, und wir schwiegen mindestens zehn Minuten, von Tschick immer noch keine Spur.

Auf einmal kamen mir die Berge und das alles ziemlich uninteressant vor. Was hatte Isa da gerade gesagt? Was hatte ich geantwortet? Es waren nur ungefähr drei Worte, aber - was bedeuteten sie? Mein Gehirn nahm ungeheuer Fahrt auf, und ich würde schätzungsweise fünfhundert Seiten brauchen, um aufzu-schreiben, was mir in den nächsten fünf Minuten alles durch den Kopf ging. Es war wahrscheinlich auch nicht sehr spannend, es ist nur spannend, wenn man gerade drinsteckt in so einer Situation. Ich fragte mich nämlich hauptsächlich, ob Isa das ernst gemeint hatte, und auch, ob ich das ernst gemeint hatte, als ich gesagt hatte, dass ich nicht mit ihr schlafen will, falls ich das überhaupt gesagt hatte.

Aber tatsächlich wollte ich gar nicht mit ihr 228

schlafen. Ich fand Isa zwar toll und immer toller, aber ich fand es eigentlich auch vollkommen ausreichend, in diesem Nebelmorgen mit ihr dazusitzen und ihre Hand auf meinem Knie zu haben, und es war wahnsinnig deprimierend, dass sie die Hand jetzt wieder weg-genommen hatte. Ich brauchte eine Ewigkeit, bis ich mir einen Satz zurechtgelegt hatte, den ich sagen konnte. Ich übte diesen Satz in Gedanken ungefähr zehnmal, und dann sagte ich mit einer Stimme, die klang, als würde ich gleich einen Herzinfarkt kriegen: «Aber ich fand es schön mit deiner... ähchrrm. Hand auf meinem Knie.»

«Ach?»

«Ja.»

«Und warum?»

Und warum, mein Gott. Der nächste Herzinfarkt.

Isa legte ihren Arm um meine Schulter.

«Du zitterst ja», sagte sie.

«Ich weiß», sagte ich.

«Viel weißt du nicht.»

«Ich weiß.»

«Wir könnten ja auch erst mal küssen. Wenn du magst.» Und in dem Moment kam Tschick 229

mit zwei Brötchentüten durch die Felsen ge-stiegen, und es wurde nichts mit Küssen. 34

Stattdessen ging es rauf auf den Berg. Wir hatten ja nie einen Plan, was wir machen wollten, aber während wir frühstückten, guckten wir die ganze Zeit auf diesen Berg, der aussah wie der höchste Berg überhaupt, und irgendwann war klar, dass wir da mal raufmussten.

Unklar war nur, wie. Isa fand zu Fuß am besten. Das fand ich auch, aber Tschick meinte, zu Fuß wäre ja wohl Schwachsinn. «Wenn du fliegen willst, nimmst du ein Flugzeug, zum Waschen eine Waschmaschine, und wenn du auf den Berg willst, nimmst du das Auto», sagte er. «Wir sind doch nicht in Bangla-desch.»

Wir kurvten also am Berg entlang durch den Wald, aber es war schwierig, die richtige Ab-zweigung nach oben zu finden. Erst hinter dem Berg schlängelte sich eine Straße hinauf, und dann krochen wir durch die Felsen voran bis zu einer kleinen Passhöhe. Von da ging die Straße wieder bergab, und wir mussten doch zu Fuß zum Gipfel.

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Entweder hatten wir die Seite erwischt, wo die Touristen nicht waren, oder wir waren wirklich die Einzigen an diesem Morgen - jedenfalls begegneten wir auf dem ganzen Weg durchs Gelände nur Schafen und Kühen. Zwei Stunden brauchten wir bis ganz nach oben, aber es lohnte sich, und es sah aus wie auf ganz tollen Postkarten. Auf der höchsten Spitze stand ein riesiges Holzkreuz, darunter irgendwo eine kleine Hütte, und die ganze Hütte war bedeckt mit Schnitzereien. Da setzten wir uns hin und lasen Buchstaben und Zahlen.

CKH 23.4.61. Sonny 86. Hartmann 1923.

Das Älteste, was wir finden konnten, war

«Anselm Wail 1903». Uralte Buchstaben in uraltem, dunklem Holz, und dazu der Aus-blick auf die Berge und die heiße Sommerluft und ein Geruch von Heu, der aus dem Tal hochwehte.

Tschick zog sein Taschenmesser raus und fing auch an zu schnitzen. Und während wir uns sonnten, uns unterhielten und Tschick beim Schnitzen zuguckten, musste ich die ganze Zeit darüber nachdenken, dass wir in hundert Jahren alle tot wären. So wie Anselm Wail tot war. Seine Familie war auch tot, seine Eltern waren tot, seine Kinder waren tot, alle, 231

die ihn gekannt hatten, waren ebenfalls tot.

Und wenn er irgendwas in seinem Leben gemacht oder gebaut oder hinterlassen hatte, war es wahrscheinlich auch tot, zerstört, von zwei Weltkriegen verwüstet, und das Einzige, was übrig war von Anselm Wail, war dieser Name in einem Stück Holz. Warum hatte er den da hingeschnitzt? Vielleicht war er auch auf großer Reise gewesen wie wir. Vielleicht hatte er auch ein Auto geklaut oder eine Kut-sche oder ein Pferd oder was sie damals hatten und war herumgeritten und hatte seinen Spaß gehabt. Aber egal, was es war, es würde nie wieder jemanden interessieren, weil nichts übrig war von seinem Spaß und seinem Leben und allem, und nur wer hier auf den Gipfel stieg, erfuhr noch von Anselm Wail. Und ich dachte, dass es mit uns logisch genauso sein würde, und da wünschte ich mir, Tschick hätte unsere vollen Namen ins Holz geritzt. Aber allein für die sechs Buchstaben und zwei Zahlen brauchte er schon fast eine Stunde. Er machte es sehr ordentlich, und dann stand da:

Are sens

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