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wenn auch nicht so stark. Tschick hatte mitt-lerweise keine Probleme mehr mit der Autobahn, er fuhr wie Hitler in seinen besten Tagen, und Isa saß hinten und quasselte unaufhörlich. Sie war auf einmal ganz aufgekratzt und rüttelte beim Reden an unseren Sitzlehnen. Nicht, dass ich das normal gefunden hät-218

te, aber im Vergleich zu dem Gefluche vorher war es immerhin ein Fortschritt.

Und auch was sie da redete, war gar nicht immer uninteressant. Ich meine, sie war nicht doof auf ihre Weise, und auch Tschick biss sich nach einiger Zeit auf die Lippen und hörte ihr zu und nickte. Ja, das wäre ihm auch schon aufgefallen, dass im Spiegel rechts und links vertauscht wäre, aber nicht oben und unten.

Trotzdem war es zwischen den beiden noch nicht ganz vorbei. Als Isa einmal ihren Kopf durch die Sitze nach vorne steckte, zeigte Tschick auf ihre Haare und sagte: «Da leben Tiere drin», und Isa zog sofort den Kopf zurück und sagte: «Ich weiß», und ein, zwei Kilometer später fragte sie: «Ihr habt nicht zufällig eine Schere? Weil, ich müsste mal Haare schneiden.»

Anhand der Schilder an den Ausfahrten versuchten wir rauszufinden, wo wir überhaupt waren. Aber die Städtenamen kannte kein Mensch. Ich hatte den Verdacht, dass wir überhaupt nicht vorangekommen waren mit unseren Landstraßen und Feldwegen. Aber es war auch ziemlich egal. Mir zumindest. Die Autobahn führte auch schon längst nicht 219

mehr nach Süden, und irgendwann bogen wir ab und fuhren wieder Landstraßen und der Sonne nach.

Isa verlangte, unsere einzige Musikkassette zu hören, und nach einem Lied verlangte sie, wir sollten sie aus dem Fenster werfen. Dann tauchte eine riesige Bergkette vor uns am Horizont auf, wir fuhren genau darauf zu. Ungeheuer hoch und mit Steinzacken obendrauf.

Wir hatten keine Ahnung, was das für Berge waren. Stand auch kein Schild dran. Die Alpen sicher nicht. Aber waren wir überhaupt noch in Deutschland? Tschick schwor, in Ostdeutschland gäbe es keine Berge. Isa meinte, es gäbe schon welche, aber die wären höchstens einen Kilometer hoch. Und ich erinnerte mich, dass wir in Erdkunde zuletzt Afrika durchgenommen hatten. Davor Amerika, davor Südosteuropa, näher waren wir Deutschland nie gekommen. Und jetzt dieses Gebirge, das da nicht hingehörte. Immerhin waren wir uns einig, dass es da nicht hingehörte. Es dauerte noch ungefähr eine halbe Stunde, dann krochen wir langsam die Serpentinen rauf.

Wir hatten uns die kleinste Straße ausge-sucht, und der Lada schaffte die Steigung mit 220

Mühe im ersten Gang. Wie Handtücher auf abschüssigem Gelände lagen die Felder rechts und links. Dann kam der Wald, und als der Wald endete, standen wir über einer Schlucht mit einem glasklaren See drin. Ein winziger See. Zur Hälfte eingefasst von hellgrauen Felsen und zu einer Seite eine Beton- und Eisen-konstruktion, der Rest von einer Staustufe oder so. Und außer uns kein Mensch. Wir parkten den Lada unten am See. Von der Betonsperre aus konnte man ins Tal und über die ganzen Berge sehen. Nur ein paar hundert Meter unter uns lag ein Dorf. Der ideale Platz zum Übernachten.

Zum Baden schien der See zu kalt zu sein. Ich stand am Ufer neben Isa und atmete tief ein -

und Tschick ging noch einmal zum Auto und kam mit etwas zurück, was er unauffällig hinterm Rücken hielt. Offenbar hatten wir genau den gleichen Gedanken gehabt. Auf ein Zeichen von Tschick packten wir Isa und warfen sie ins Wasser.

Eine Fontäne spritzte senkrecht hoch, als sie unterging, und eine zweite, als sie wieder auftauchte und mit den Armen schlug, und erst in dem Moment fiel mir ein, dass wir ja gar nicht wussten, ob sie schwimmen konnte. Sie 221

schrie und planschte erbärmlich - aber dann doch so übertrieben erbärmlich und hunde-paddelnd, ohne nur einen einzigen Millimeter abzusacken, dass man genau sah, dass sie schwimmen konnte. Sie schüttelte die nassen Haare, machte ein paar Brustschwimmzüge und verfluchte uns. Tschick warf ihr eine Flasche Duschdas zu. Und während ich noch überlegte, ob ich das jetzt lustig finden oder Mitleid haben sollte, bekam ich schon einen Stoß in den Rücken und fiel auch in den See.

Es war noch kälter als kalt. Ich tauchte auf und schrie, und Tschick stand am Ufer und lachte, und Isa fluchte und lachte abwechselnd.

Die Betonsperre war zu hoch zum wieder Rausklettern, und wir mussten quer durch den ganzen See bis zur einzigen Stelle mit flacher Böschung schwimmen, und während wir schwammen, beschimpfte Isa mich unaufhörlich und meinte, ich wäre ein noch größerer Volltrottel als mein Homofreund, und versetz-te mir unter Wasser Tritte. Wir gerieten in ei-ne Balgerei. Währenddessen spazierte Tschick zum Auto, zog sich pfeifend eine Badehose an und kam mit einer Zigarette im Mundwinkel 222

und einem Handtuch über der Schulter zurück.

«So badet der Gentleman», sagte er, machte ein vornehmes Gesicht und sprang mit einem Köpper in den See. Wir verfluchten ihn ge-meinsam.

Als wir an Land kamen, zog Isa sofort Shirt und Hose und alles aus und fing an, sich ein-zuseifen. Das war ungefähr das Letzte, womit ich gerechnet hatte.

«Herrlich», sagte sie. Sie stand im knietiefen Wasser, schaute in die Landschaft und schäumte ihre Haare ein, und ich wusste nicht, wo ich hingucken sollte. Ich guckte mal hier-, mal dahin. Sie hatte eine wirklich tolle Figur und eine Gänsehaut. Ich hatte auch eine Gänsehaut. Als Letztes kam Tschick zu der flachen Stelle gekrault, und komischerweise gab es überhaupt keine Diskussionen mehr.

Keiner sagte etwas, keiner fluchte, und keiner machte einen Witz. Wir wuschen uns nur und keuchten vor Kälte und benutzten alle dasselbe Handtuch.

Mit Blick auf Berge und Täler im Abendnebel aßen wir dann einen Kanister Haribo, der noch vom Norma übrig war. Isa hatte ein T-Shirt von mir an und die glänzende Adidas-223

Hose. Ihre stinkenden Sachen lagen hinten am Ufer und blieben dort auch liegen, für immer.

Wir versuchten an diesem Abend noch mehr-fach rauszukriegen, wo sie denn eigentlich herkam und wo sie wirklich hinwollte, aber alles, was sie erzählte, waren wilde Geschichten.

Sie wollte ums Verrecken nicht sagen, was sie auf der Müllkippe gemacht hatte oder was in ihrer Holzkiste drin war, die sie mit sich rum-schleppte. Das Einzige, was sie verriet, war, dass sie Schmidt hieß. Isa Schmidt. Das war jedenfalls das Einzige, was wir ihr glaubten. 33

Früh am nächsten Morgen marschierte Tschick allein los, um im Dorf unten irgendwas zu essen zu kaufen. Ich lag noch im Halb-schlaf auf der Luftmatratze und schaute in die dämmrige Landschaft, und Isa stand in der offenen Heckklappe vom Lada und fragte nochmal, ob wir nicht zufällig eine Schere da-beihätten und ob ich ihr die Haare schneiden könnte.

Tatsächlich fand sich im Verbandskasten ei-ne ganz kleine Schere, aber ich hatte noch nie 224

Haare geschnitten. Das war Isa egal, und sie wollte alles komplett ab, bis auf einen Pony vorne. Sie setzte sich an den Rand der Staustufe, zog ihr T-Shirt aus und sagte: «Fang an.»

Nach einer Weile drehte sie sich zu mir und sagte: «Warum fängst du nicht an? Ich will nicht, dass das T-Shirt voll Haare wird.»

Also fing ich an. Anfangs versuchte ich, Isas Kopf nicht dauernd mit der Hand zu berüh-ren, aber es ist schwer, jemandem mit einer so winzigen Schere einen Skinhead zu verpassen, ohne sich abzustützen. Und noch schwieriger ist es, nicht dauernd auf eine nackte Brust zu gucken, die gerade so vor einem hängt.

«Guck mal, der holt sich einen runter», sagte Isa. Ich sah zum Waldrand hin. Da stand ein alter Mann vor den Bäumen, also nicht mal hinter den Bäumen, sondern davor, die Hose auf die Knie runtergelassen und wedelte sich einen von der Palme.

«O Mann», sagte ich und ließ die Schere sinken.

Isa sprang auf, sammelte blitzschnell ein paar Steine ein und fing an zu rennen. Sie rannte die Böschung hoch und auf den Alten zu und fing schon im Laufen an, mit Steinen 225

zu schmeißen. Sie schmiss die Steine mindestens fünfzig Meter weit wie an der Schnur gezogen durch die Gegend, und es wunderte mich überhaupt nicht. Wer laufen kann, kann logisch auch werfen. Der Mann pumpte erst noch weiter, aber als Isa schon ziemlich nah war, riss er sich plötzlich die Hose hoch und stolperte in den Wald. Isa folgte ihm mit lau-tem Geschrei und wilden, schleudernden Armbewegungen, aber es war zu sehen, dass sie nicht mehr mit Steinen warf. Am Waldrand drehte sie um. Außer Atem kam sie zurück und setzte sich auf ihren alten Platz.

Ich muss eine Weile versteinert dagestanden haben, denn irgendwann tippte sie gegen meinen Oberschenkel und sagte: «Weiter.»

Es fehlte nur noch der Pony. Ich ging vor Isa in die Knie, um eine gerade Linie hinzukrie-gen, und bemühte mich, auch nicht im Ent-ferntesten so auszusehen, als würde ich dabei woanders hingucken als auf diesen Pony. Ich hielt die Schere genau waagerecht und machte einen vorsichtigen ersten Schnitt. Dann beugte ich den Oberkörper zurück wie ein echter Künstler und machte einen zweiten Schnitt.

Die Haarspitzen fielen an den schmalen Augen vorbei nach unten.

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«Muss nicht genau sein», sagte Isa, «der Rest ist doch auch vergurkt.»

«Überhaupt nicht. Sieht super aus», sagte ich. Und tonlos: «Du siehst super aus.»

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