«Habt ihr was zu essen?»
«Sehen wir so aus?»
«Ihr seht wie Spastis aus.»
«Du wiederholst dich.»
«Habt ihr Geld?»
«Für dich oder was?»
«Ohne mich hättet ihr die nie gefunden.»
«Hol dir einen drauf runter.»
Tschick und das Mädchen beharkten sich noch, als wir schon fast außer Rufweite waren.
Er drehte sich immer wieder um und brüllte ihr Beleidigungen zu, und sie brüllte von den Müllbergen zurück. Ich hielt mich da lieber raus.
Aber dann kam sie uns auf einmal hinterher-gelaufen. Und irgendwie hatte ich gleich ein komisches Gefühl bei der Sache, als ich sah, wie sie uns hinterherlief. Normalerweise 205
können Mädchen ja nicht laufen, oder nur so schlenkerig. Aber die konnte laufen. Und sie lief mit ihrer Holzkiste im Arm, als ginge es um Leben und Tod. Ich hatte nicht direkt Angst vor ihr, wie sie da auf uns zuschoss.
Aber ein bisschen unheimlich war sie mir schon.
«Ich hab Hunger», sagte sie und blieb heftig atmend vor uns stehen. Dabei sah sie uns in etwa an, als würde sie fernsehen.
«Dahinten sind Brombeeren», sagte ich.
Sie machte mit dem Zeigefinger einen Kreis um ihren Mund und meinte: «Und ich dachte schon, ihr seid Schwuchteln. Wegen hier Lip-penstift.»
Tschick und ich gingen einfach weiter, und Tschick flüsterte mir nochmal zu, dass die nicht ganz richtig tickte.
Aber wir waren noch nicht weit gekommen, da hörten wir sie schon wieder brüllen.
«Hey!», brüllte sie.
«Was hey?»
«Wo sind die? Die Brombeeren, Mann! Wo sind die Brombeeren?» 30 206
Der Rückweg erschien mir deutlich kürzer als der Hinweg. Vielleicht lag es daran, dass das Mädchen pausenlos redete. Sie lief zuerst hinter uns und dann zwischen uns und dann auf der anderen Seite vom Weg. Tschick hielt einmal seine Nase zu und sah mich dabei an, und es stimmte. Sie stank. Das Mädchen stank entsetzlich. Auf der Müllkippe hatte man das nicht so gerochen, weil die ganze Müllkippe roch. Aber es war ein Riesenge-stank, der von ihr ausging. Ein Comiczeichner hätte Fliegen um ihren Kopf schwirren lassen.
Und dazu redete sie pausenlos. Ich erinnere mich nicht genau, was sie alles redete, aber sie fragte zum Beispiel dauernd, wo wir wohnen würden, ob wir zur Schule gingen, ob wir gut in Mathe wären (das war ihr besonders wichtig, ob wir gut in Mathe wären). Und ob wir Geschwister hätten, ob wir Cantors Unend-lichkeitsdingens kennen würden und so weiter. Aber wenn man zurückfragte, warum sie das alles wissen wollte, kam nie eine Antwort.
Auch was sie selbst auf der Müllkippe gesucht hatte - keine Antwort.
Stattdessen redete sie davon, dass sie später mal beim Fernsehen arbeiten wollte. Ihr Traum wäre es, eine Quizsendung zu mode-207
rieren, «weil man da gut aussieht und irgendwas mit Worten macht». Sie hätte eine Cousine, die das machen würde, und das wäre ein
«Superjob» und sie wäre «voll überqualifi-ziert» und man müsste nur nachts arbeiten.
Als sie lange genug übers Fernsehen geredet hatte, kam sie auch nochmal auf den Scherz mit dem Autoklau zurück und meinte, Tschick sei schon ein witziger Typ, irgendwie, und sie hätte innerlich sehr lachen müssen über diesen Witz mit dem Auto, und Tschick kratzte sich am Kopf und sagte, ja, das hätte sie richtig beobachtet, er sei schon ein ziemlich witziger Typ manchmal, und deshalb würde er seinem Vater ja auch einen Schlauch zum Geburtstag schenken.
«Und du bist eher so der Stille», sagte das Mädchen und stupste mich an der Schulter und fragte nochmal, ob ich wirklich zur Schule gehen würde, und ich dachte, hoffentlich kommen die Brombeeren bald, sonst werden wir die nie mehr los.
Ich dachte auch, dass das Mädchen irgendwann von allein zurückgehen würde, aber sie lief wirklich drei oder vier Kilometer weit mit bis zu dieser Brombeerhecke. Mittlerweile hatte ich auch schon wieder Hunger und 208
Tschick auch, und wir stürzten uns zu dritt in die Brombeeren.
«Wir müssen die irgendwie loswerden», flüsterte Tschick, und ich sah ihn an, als hätte er gesagt, wir sollten uns nicht die Füße absägen.
Und dann fing das Mädchen an zu singen.
Ganz leise erst, auf Englisch, und immer unterbrochen von kleinen Pausen, wenn sie Brombeeren kaute.
«Jetzt singt sie auch noch kacke», sagte Tschick, und ich sagte nichts, denn im Ernst sang sie nicht kacke. Sie sang «Survivor» von Beyonce. Ihre Aussprache war absurd. Sie konnte überhaupt kein Englisch, hatte ich den Eindruck, sie machte nur die Worte nach.
Aber sie sang wahnsinnig schön. Ich hielt eine Ranke mit Daumen und Zeigefinger vorsichtig von mir weg und schaute zwischen den Blät-tern durch auf das Mädchen, das da singend und summend und Brombeeren kauend im Gebüsch stand. Dazu dann noch der Brom-beergeschmack in meinem eigenen Mund und die orangerote Dämmerung über den Baumkronen und im Hintergrund immer das Rauschen der Autobahn - mir wurde ganz seltsam zumute.
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«Wir gehen jetzt allein weiter», sagte Tschick, als wir wieder auf dem Weg standen.
«Wieso?»
«Wir müssen nach Hause.»