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Da sagte Tschick erst mal nichts mehr. Glauben konnte er das noch immer nicht. Aber dass mir der Name vom Gesetz eingefallen war, hat ihm den Wind aus den Segeln genommen. Ich hab ihm noch erklärt, dass die Kommunalkraft noch stärker ist als die Er-danziehungskraft und alles, aber hauptsächlich, um uns Mut zu machen und weil ich nicht wollte, dass die Reise schon zu Ende war. Weil, gesehen hatte ich das mit dem Schlauch auch noch nie.

Wir aßen noch ein Magnum und dann noch eins, und als wir dann immer noch keine bessere Idee hatten, beschlossen wir, es wenigstens mal zu versuchen. 29

Problem war natürlich, dass wir keinen Schlauch hatten. Wir suchten zuerst das Gelände hinter der Tankstelle ab, dann das Unterholz, dann einen Acker, dann immer weiter weg. Wir fanden Radkappen, Plastikplanen, Pfandflaschen, Unmengen Bierdosen und am Ende sogar einen Fünf-Liter-Kanister ohne Verschluss, aber irgendwas Schlauchähnliches fanden wir nicht. Wir suchten fast zwei Stun-195

den und riefen uns immer neue Pläne zu, wie wir von hier wieder wegkommen könnten. Die Pläne wurden immer absurder, und das drückte auf die Stimmung. Kein Scheiß-schlauch nirgendwo, kein Rohr, kein Kabel.

Dabei sah man so Zeug doch sonst ständig rumliegen, wenn man es nicht brauchte.

Tschick ging in den Tankstellenshop und guckte beim Autozubehör und überall, aber Schläuche hatten sie nicht. Dafür kam er mit einer Handvoll Strohhalme wieder raus. Wir versuchten, diese Strohhalme zu einem langen Halm zusammenzustecken, und spätestens beim Anblick dieses knickrigen Gebildes wäre auch einem Dreijährigen mit Hirnschaden klargeworden, dass wir so nicht tanken konnten.

Und dann fiel Tschick doch noch was ein.

Und zwar, dass da eine Müllkippe auf unserem Weg gewesen war. Ich konnte mich an keine Müllkippe erinnern, aber Tschick war sich ganz sicher. Auf der rechten Seite, nur ein paar Kilometer vor der Raststätte, da wären riesige Müllberge gewesen. Und wenn es irgendwo Schläuche gab, dann doch garantiert da.

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Wir liefen immer an der Leitplanke entlang auf einem kleinen Trampelpfad und dann wieder durch den Wald und über Felder und Zäune, immer in Sichtweite zur Autobahn. Es war so heiß geworden wie an den Tagen zuvor, und am Waldrand hingen Insekten wie Nebel-schwaden. Wir liefen über eine Stunde, ohne einem Müllberg zu begegnen, und ich hatte schon keine Lust mehr und wollte die Sache mit dem Schlauch aufgeben. Aber jetzt war Tschick auf einmal von der Schlauchidee rest-los überzeugt und wollte auf keinen Fall ohne Schlauch zurück, und während wir noch dis-kutierten, tauchte am Wegrand ein riesiges Brombeergebüsch auf. Das ging über fast hundert Meter, und die meisten Brombeeren waren noch nicht reif, aber da, wo die pralle Sonne draufschien, waren auch viele reife, und die schmeckten phantastisch. Ich weiß nicht, ob ich es schon erwähnt habe, aber ich mag nichts auf der Welt lieber als Brombeeren. Da blieben wir dann erst mal und pflück-ten jeder hundert Kilo, und hinterher sahen wir aus wie geschminkt, das ganze Gesicht li-la.

Danach ging es mir wieder blendend, und ich hatte nichts dagegen, noch stundenlang wei-197

terzulaufen auf der Suche nach einem Schlauch. Und tatsächlich brauchten wir noch fast zwei Stunden, bis die Müllberge in Sicht kamen. Riesige Berge, ganz von Wald und Autobahn umgeben, und wir waren nicht die Einzigen, die da rumkraxelten. Irgendwo ganz hinten lief ein alter Mann gebückt herum und sammelte Elektrokabel ein. Und ein Mädchen in unserem Alter war auch da, ganz verdreckt.

Und zwei Kinder. Aber die schienen nicht zu-sammenzugehören.

Ich hatte einen Berg mit Haushaltsmüll zu fassen und sammelte zwei Fotoalben ein, die ich Tschick zeigen wollte. In dem einen war eine Familie, lauter Aufnahmen von Vater, Mutter, Sohn und Hund, und auf jedem Bild strahlten sie alle, sogar der Hund. Ich blätterte das Album durch, aber am Ende warf ich es doch wieder weg, weil es mich deprimierte.

Ich musste an meine Mutter denken und wie schlecht es ihr ging und welchen Kummer ich ihr wahrscheinlich verursachte, wenn das alles hier rauskam. Dann rutschte ich auf einer schmierigen Holzplanke aus und fiel in einen Haufen mit vergammeltem Obst.

Tschick war auf einen anderen Berg gestie-gen und hatte einen großen braunen Plastik-198

kanister mit Einfüllstutzen gefunden. Er trommelte mit der Faust darauf und schwenkte ihn über seinem Kopf. Der Kanister war natürlich super. Aber Schläuche - Fehlanzeige.

Ich hielt besonders Ausschau nach Waschmaschinen, aber bei allen Waschmaschinen, die ich fand, war aus irgendeinem Grund die Trommel ausgebaut und der Schlauch abmontiert. Als der gebückt gehende Mann an mir vorbeischlich, fragte ich, ob er zufällig wüsste, warum bei allen Waschmaschinen die Schläuche fehlten, aber er hob kaum den Blick und zeigte nur auf seine Ohren, als ob er taub wä-re. Auch das verdreckte Mädchen kletterte einmal wie ein kleines, schnelles Tier an mir vorbei, ohne mich anzusehen. Sie lief barfuß, ihre Beine waren schwarz bis zum Knie. Darüber trug sie eine hochgekrempelte Army-Hose und ein versifftes T-Shirt. Sie hatte schmale Augen, wulstige Lippen und eine platte Nase. Und ihre Haare sahen aus, als wäre beim Schneiden die Maschine kaputtge-gangen. Ich sprach sie lieber gar nicht erst an.

Unterm Arm hielt sie eine Holzkiste, und ich war mir nicht sicher, ob sie die hier gefunden hatte oder ob sie darin etwas aufbewahrte oder was sie überhaupt hier suchte.

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Am Ende traf ich mich mit Tschick auf dem größten Berg, und wir beide hatten nichts gefunden außer dem Zehn-Liter-Kanister. Aber was nützte der uns? Dieser Müllberg war ein Müllberg ohne Schläuche. Wir hockten ganz oben auf einer entkernten Waschmaschine, und die Sonne hing schon knapp über den Baumkronen. Das Rauschen der Autobahn war leiser geworden, der gebückte Mann und die kleinen Kinder waren nicht mehr zu sehen. Nur das dreckige Mädchen saß uns noch auf einem anderen Berg gegenüber. Ihre Beine hingen aus der offenen Tür einer alten Wohnzimmerschrankwand. Sie rief irgendwas in unsere Richtung.

«Was?», rief ich.

«Ihr Schwachköpfe!», rief sie.

«Bist du bescheuert?»

«Du hast mich gehört, Schwachkopf! Und dein Freund ist auch ein Schwachkopf!»

«Was ist denn das für eine Fotze?», sagte Tschick.

Lange sah man von dem Mädchen nur die Beine, die aus der Schrankwand baumelten.

Dann setzte sie sich auf und fing an, ein Paar Stiefel anzuziehen, die neben ihr in einem Fach standen. Dabei guckte sie zu uns rüber.

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«Ich hab was!», brüllte sie, womit sie offensichtlich nicht die Stiefel meinte. «Habt ihr auch was?»

«Geht dich einen Scheißdreck an!», brüllte Tschick zurück.

Sie hörte ein paar Sekunden auf, an den Stie-feln herumzuknoten. Dann beugte und streckte sie ihre Füße und rief: «Ihr seid doch zum Ficken zu blöd!»

«Steck dir 'n Finger in' Arsch und halt's Maul!»

«Russenschwuchtel!»

«Ich komm gleich rüber.»

«Der böse Mann will rüberkommen! Und was willst du machen, wenn du hier bist? Na los, komm doch. Komm her, Pussy. Ich fürchte mich jetzt schon.»

«Die tickt doch nicht sauber», sagte Tschick.

Die Kluft zwischen den Müllbergen war so steil, dass man mindestens drei Minuten gebraucht hätte, um rüberzuklettern.

Es blieb eine Weile still, dann rief sie wieder:

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