nem Fahrrad zu. Doch dann guckte er nochmal hoch und entdeckte Tschick. Tschick war in diesem Moment beim Lada angekommen, hatte seine Einkaufstaschen auf die Rückbank gehievt und war im Begriff, sich auf den Fahrersitz zu setzen. Die Hände des Polizisten hörten auf gegeneinanderzureiben. Er schaute starr in die Richtung, machte einen Schritt vorwärts und blieb wieder stehen. Ein Junge, der in ein Auto einsteigt, ist noch nicht unbedingt verdächtig. Auch wenn es die Fahrertür ist. Aber sobald Tschick den Motor starten würde, war klar, was als Nächstes passierte.
Ich musste was tun. Ich umklammerte mit beiden Händen den Kürbis, hob ihn hoch über meinen Kopf und brüllte die Straße runter:«Und vergiss nicht, den Schlafsack mit-zubringen!»
Was Besseres fiel mir nicht ein. Der Polizist drehte sich zu mir um. Tschick hatte sich ebenfalls umgedreht. «Vater sagt, du sollst den Schlafsack mitbringen! Den Schlafsack!», brüllte ich noch einmal, und als der Polizist wieder zu Tschick hinguckte und Tschick zu mir, fasste ich mir schnell an Schädeldecke und Hüfte (Mütze, Pistole), um zu erklären, was dieser Mann von Beruf war. Weil, ohne 179
Mütze und nur mit dieser grünlichen Hose war das nicht leicht zu erkennen. Ich muss ziemlich bescheuert ausgesehen haben, aber ich wusste auch nicht, wie man einen Polizisten sonst darstellt. Und Tschick begriff auch so, was los war. Er verschwand sofort im Auto und kam mit einem Schlafsack in der Hand wieder raus. Dann machte er die Fahrertür hinter sich zu und tat, als würde er abschlie-ßen (Vater hat mir den Schlüssel gegeben, ich musste nur was holen), und ging mit dem Schlafsack beladen auf mich und den Polizisten zu. Doch nur etwa zehn Schritte. Ich war mir nicht hundertprozentig sicher, warum er stehen blieb. Aber etwas im Gesicht des Polizisten musste ihm wohl klargemacht haben, dass unser Täuschungsmanöver nicht die Theatersensation des Jahrhunderts werden würde.
Denn mit einem Mal ging Tschick wieder rückwärts. Er fing an zu rennen, der Polizist rannte hinterher, aber Tschick saß schon am Steuer. Rasend schnell parkte er rückwärts aus, und der Polizist, immer noch vierzig Meter entfernt, beschleunigte wie ein Weltmeister. Nicht, um den Wagen einzuholen vermutlich, das konnte er auf keinen Fall schaffen, 180
aber um das Kennzeichen zu lesen. Heilige Scheiße. Ein Sprintweltmeister als Dorfsheriff. Und ich stand die ganze Zeit wie gelähmt mit diesem Kürbis auf der Straße, als der Lada schon auf den Horizont zuhielt und der Polizist sich endlich zu mir umdrehte. Und was ich dann gemacht hab - frag mich nicht. Normal und mit Nachdenken hätte ich das garantiert nicht gemacht. Aber es war ja schon nichts mehr normal, und so dumm war es dann vielleicht auch wieder nicht. Ich rannte nämlich zum Fahrrad hin. Ich warf den Kürbis weg und rannte zum Fahrrad vom Polizisten. Ich war jetzt deutlich näher dran als der Polizist, schleuderte das Rad am Rahmen herum und sprang in den Sattel. Der Polizist brüllte, aber glücklicherweise brüllte er noch in einiger Entfernung, und ich trat in die Pedale. Bis zu diesem Moment war ich nur wahnsinnig aufgeregt gewesen, aber dann wurde es der reinste Albtraum. Ich trat mit aller Kraft und kam nicht von der Stelle. Die Gangschaltung war im hundertsten Gang oder so, und ich konnte den Hebel nicht finden.
Das Geschrei kam immer näher. Ich hatte Tränen in den Augen, und meine Oberschenkel fühlten sich an, als würden sie vor Ans-181
trengung gleich platzen. Der Polizist brauchte im Grunde nur noch die Hand nach mir aus-zustrecken, und dann kam ich langsam in Fahrt und fuhr ihm davon. 27
Ich schoss über das Kopfsteinpflaster durchs Dorf. Bis zum Marktplatz brauchte ich keine neunzig Sekunden, und ich konnte mir ausrechnen, wie gefährlich das war, weil der Polizist zu diesem Zeitpunkt vielleicht längst am Telefon hing. Wenn er nicht doof war - und er hatte nicht den Eindruck gemacht, als wäre er doof -, rief er einfach jemanden an, der mich am Markt abfangen konnte. Vielleicht gab es hier noch mehr Polizisten. Ich raste mit Höchstgeschwindigkeit zwischen grauen Häusern durch und um die Ecken und endlich auf einem kleinen Weg direkt in die Felder.
In der Dämmerung lag ich im Wald, allein, keuchend und aufgeregt, mit dem Polizeifahr-rad unter einem dichten Gebüsch, und wartete. Und überlegte. Und wurde immer verzweifelter. Was sollte ich machen? Ich war irgendwo hundert oder zweihundert Kilometer südlich oder südöstlich von Berlin in einem 182
Wald, Tschick fuhr gerade mit einem hell-blauen Lada mit Münchner Kennzeichen sämtlichen alarmierten Polizeieinheiten der Umgebung davon, und ich hatte keine Ahnung, wie wir uns jemals wiederfinden sollten. Normalerweise würde man in so einem Fall wahrscheinlich versuchen, sich dort wie-derzutreffen, wo man sich aus den Augen verloren hat. Das ging jetzt aber schlecht: Da stand das Haus des Dorfsheriffs.
Eine andere Möglichkeit wäre vielleicht gewesen, zu Friedemanns Familie zu gehen und dort eine Nachricht zu hinterlassen. Oder zu hoffen, dass Tschick eine für mich hinterlassen würde. Aber aus irgendwelchen Gründen kam mir das sehr unwahrscheinlich vor. Das Dorf war winzig, die Leute kannten sich garantiert alle, und Tschick hätte auf keinen Fall nochmal mit dem Auto ins Dorf reingekonnt.
Er hätte es höchstens nach Anbruch der Nacht zu Fuß versuchen können, auf die Gefahr hin, dass alle im Dorf längst von dem Vorfall wussten. Und das erschien mir auch deshalb so unwahrscheinlich, weil etwas ganz anderes mir auf einmal viel wahrscheinlicher erschien.
Wenn man sich nicht da wiedertreffen kann, wo man sich aus den Augen verloren hat, geht 183
man eben an den letzten sicheren Ort zurück, wo man vorher war: die kleine Aussichtsplattform mit dem Kiosk und den Holunderbüschen.
Das schien mir jedenfalls logisch, während ich da mit dem Gesicht im Dreck lag. Das war die einfachste Lösung, und je länger ich darüber nachdachte, desto überzeugter war ich, dass Tschick da auch draufkommen würde.
Weil ich ja auch draufgekommen war. Außerdem lag die Aussichtsplattform ganz günstig.
Sie war weit genug vom Dorf entfernt, aber nah genug, dass man sie mit dem Fahrrad er-reichen konnte. Und Tschick musste gesehen haben, dass ich mit dem Fahrrad abgehauen war. So verbrachte ich die halbe Nacht in diesem Gebüsch und fuhr dann beim ersten Lichtstrahl mit dem Fahrrad zurück. Ich fuhr einen riesigen Bogen um das Dorf herum und durch den Wald und über die Felder. Der Weg war nicht sehr schwer zu finden, aber es war viel, viel weiter, als ich gedacht hatte. Ich sah die Hügelkette in der Ferne im Nebel, aber sie kam überhaupt nicht näher, und schon nach kurzer Zeit hatte ich großen Durst. Und Hunger hatte ich auch. Rechts auf den Feldern standen ein paar Häuser um eine Backstein-184
kirche herum, und da fuhr ich dann einfach hin. Der Ort bestand aus drei Straßen und einer Bushaltestelle. Die Straßenschilder waren in einer fremden Sprache, und ich dachte einen Moment, dass ich schon in Tschechien wäre oder was, aber das konnte ja wohl nicht sein. So was Ähnliches wie eine Grenze hätte ich doch wohl bemerkt.
Es gab auch einen winzigen Laden. Aber der war geschlossen und sah nicht so aus, als würde er demnächst mal wieder aufmachen.
Die Schaufenster waren fast undurchsichtig vor Schmutz, drinnen lagen ein halbes Brot und verblichene Kaugummi-Packungen auf einem Tisch, dahinter ein Regal voller DDR-Waschmittel.
An der Bushaltestelle stand ein Geisteskranker, der mitten auf die Straße pinkelte und mit seinem Pimmel herumschlackerte, als ob es ihm großen Spaß machen würde. Sonst war niemand auf der Straße, und die flachen Son-nenstrahlen glänzten auf dem Kopfsteinpflaster wie ein roter Lack. Ich überlegte, einfach an einer Haustür zu klingeln und jemanden zu bitten, mir was zu verkaufen. Aber nachdem ich irgendwo geklingelt hatte, wo Licht brannte - der Name auf dem Klingelschild war 185
Lentz, das weiß ich noch genau -, verließ mich sofort der Mut, und ich fragte nur, ob ich vielleicht ein Glas Leitungswasser haben könnte.
Der Mann, der die Tür geöffnet hatte, war halb nackt. Er hatte eine Sporthose an und schwitzte. Jung und durchtrainiert, Bandagen um die Handgelenke. «Ein Glas Leitungswasser!», brüllte er. Er starrte mich an und zeigte dann auf einen Wasserhahn außen am Haus.
Während ich aus der Leitung trank, fragte er, ob mit mir alles in Ordnung sei, und ich erklärte ihm, dass ich eine Fahrradtour machen würde. Er lachte und schüttelte den Kopf und fragte nochmal, ob mit mir alles in Ordnung wäre. Ich zeigte auf seine Bandagen und fragte, ob mit ihm alles in Ordnung wäre. Da wurde er sofort ernst und nickte, und die Unterhaltung war zu Ende.
Als ich auf der Aussichtsplattform ankam, war ich ganz allein auf dem Berg, und es war immer noch früh am Morgen. Hinter dem Sägewerk stand nur ein schwarzes Auto, der Kiosk auf dem leeren Parkplatz war mit einem Vorhängeschloss gesichert. Ich lief zu den Holunderbüschen hinunter, wo noch Müll von uns lag, aber von Tschick keine Spur. Da war ich wahnsinnig enttäuscht.
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Eine Stunde nach der andern saß ich oben auf der Mauer und wartete. Und wurde immer trauriger. Ausflügler kamen und Reisebusse, aber den ganzen Tag kein Lada. Weiter rum-zufahren schien mir nicht klug, weil, wenn Tschick auch rumfuhr, müsste er mich doch irgendwann finden. Und wenn wir beide rum-fuhren, würden wir uns nie finden. Irgendwann war ich sicher, dass sie ihn wahrscheinlich geschnappt hätten, und ich richtete mich darauf ein, auch noch die nächste Nacht unter den Holunderbüschen zu verbringen, als mein Blick auf eine der Abfalltonnen fiel. In dieser Tonne lagen Unmengen von Schokoriegelpa-pier, leere Bierflaschen und Kronkorken, und da fiel mir plötzlich ein, dass wir unseren ganzen Müll der letzten Nacht ja ebenfalls in diese Tonne geworfen hatten. Wir hatten nichts liegengelassen unter den Holunderbüschen.
Wie ein Wahnsinniger rannte ich zurück - und da lag diese eine leere Cola-Flasche. Ich guckte sie mir genauer an, und oben im Flaschen-hals steckte ein kleiner, zusammengerollter Zettel, auf dem stand: «Bin in der Bäckerei, wo Heckel war. Komm um sechs, T.» Der Satz war aber durchgestrichen und ein neuer drun-tergeschrieben: «Graf Lada arbeitet im Säge-187
werk. Bleib hier, ich hol dich bei Sonnenun-tergang.»
Ich saß bis zum Abend glücklich auf der Aussichtsplattform, und dann unglücklich und immer unglücklicher. Tschick kam nicht. Touristen kamen auch nicht mehr, nur ein schwarzes Auto kurvte hinten auf dem Weg herum. Das kurvte da schon seit der Dämmerung, und ich weiß nicht, wie blind man eigentlich sein kann, denn erst als das Auto vor mir hielt und ein Mann mit Hitler-Bärtchen die Tür aufmachte, merkte ich, dass das logischerweise auch ein Lada war. Unser Lada.
Ich umarmte Tschick, und dann boxte ich ihn, und dann umarmte ich ihn wieder. Ich konnte mich überhaupt nicht beruhigen.
«Mann!», schrie ich. «Mann!»
«Wie findest du die Farbe?», fragte Tschick, und dann schossen wir schon mit Vollgas den Hügel hinunter.
Ich erzählte, was ich alles gemacht hatte, seit wir uns verloren hatten, aber was Tschick zu erzählen hatte, war deutlich interessanter. Er war auf seiner Flucht zufällig wieder an der Bäckerei vorbeigekommen, wo wir Heckel getroffen hatten, und nicht weit davon hatte er den Lada erst mal geparkt, weil ihm das Rum-188
fahren auf der Straße zu gefährlich wurde. Er hatte sich vor die Bäckerei gesetzt und den ganzen Tag nur Polizeiautos gesehen.
Schließlich war er zu Fuß zu der Aussichtsplattform gelaufen, die nur ein paar Kilometer entfernt war, und dort hatte er zuerst auf mich gewartet, und weil ich nicht kam, weil ich ja im Wald übernachtete, hatte er schließlich den Zettel mit dem Bäckerei-Satz in die Cola-Flasche gesteckt und war den ganzen Weg zum Lada zurückgelaufen. Dabei war er an einem Baumarkt vorbeigekommen und hatte Klebeband und einen Karton Sprühdo-sen geklaut und war dann damit, als keine Polizei mehr auf der Straße war, wieder zur Aussichtsplattform gefahren. Da hatte er den zweiten Satz auf den Zettel geschrieben und dann in dem Sägewerk angefangen, den Lada umzuspritzen. Und an alles andere hatte er auch gedacht: Am Lada hingen jetzt Cottbuser Kennzeichen.
Als ich Tschick von dem Mann mit den Bandagen erzählte und von dem Mann an der Bushaltestelle, meinte er, das wäre ihm auch schon aufgefallen, dass es hier viele Verrückte gab. Nur was es mit den Beschriftungen in 189
fremder Sprache auf sich hatte, wusste er auch nicht.
«Russisch ist das jedenfalls nicht», sagte er, und wir schauten auf ein paar merkwürdige Schilder, die im Licht der ersten Laternen vorüberglitten.