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Ich schaute in die Sterne mit ihrer unbegreif-lichen Unendlichkeit, und ich war irgendwie erschrocken. Ich war gerührt und erschrocken gleichzeitig. Ich dachte über die Insekten nach, die jetzt fast sichtbar wurden auf ihrer kleinen, flimmernden Galaxie, und dann drehte ich mich zu Tschick, und er guckte mich an und guckte mir in die Augen und sagte, dass das alles ein Wahnsinn wäre, und das stimmte auch. Es war wirklich ein Wahnsinn.

Und die Grillen zirpten die ganze Nacht. 24 161

Als ich am Morgen erwachte, war ich allein.

Ich guckte mich um. Leichter Nebel lag auf der kleinen Wiese, von Tschick keine Spur.

Aber weil seine Luftmatratze noch da war, machte ich mir erst mal keine allzu großen Gedanken. Ich versuchte, noch ein bisschen weiterzuschlafen, aber irgendwann trieb die Unruhe mich hoch. Ich ging zur Aussichtsplattform und schaute einmal von allen Seiten runter. Ich war der einzige Mensch auf dem Berg. Der Kiosk war noch geschlossen. Die Sonne sah aus wie ein roter Pfirsich in einer Schüssel Milch, und mit den ersten Sonnen-strahlen kam eine Gruppe Fahrradfahrer den Weg raufgefahren, und dann dauerte es keine zehn Minuten, bis auch Tschick den Berg hochgestapft kam. Ich war ziemlich erleichtert. Er war einfach einmal zum Sägewerk runtergelaufen und hatte nach dem Lada geguckt, ob der noch da stand. Er stand noch da.

Wir beratschlagten eine Weile hin und her und entschieden uns schließlich, doch sofort mit dem Auto weiterzufahren, weil dieses Warten irgendwie keinen Sinn machte.

Währenddessen hatten die Radfahrer sich neben uns auf der Mauer breitgemacht, ein Dutzend Jungen und Mädchen in unserem Al-162

ter und ein Erwachsener. Die frühstückten jetzt und redeten leise miteinander, und sie sahen wirklich merkwürdig aus. Für einen Klassenausflug war die Gruppe zu klein, für eine Familie zu groß und für die Tour des Be-hindertenheims zu gut gekleidet. Aber irgendwas stimmte mit denen nicht. Sie trugen alle so Klamotten. Keine Markenklamotten, aber es sah auch nicht billig aus, im Gegenteil.

Sehr teuer und irgendwie behindert. Und sie hatten alle sehr, sehr saubere Gesichter. Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll, aber die Gesichter waren irgendwie sauber. Das Merkwürdigste aber war der Betreuer. Der redete mit denen, als wären sie seine Vorgesetz-ten. Tschick fragte eins der Mädchen, aus wel-chem Heim sie ausgebrochen wären, und das Mädchen sagte: «Aus keinem. Wir sind Adel auf dem Rädel. Wir fahren von Gut zu Gut.»

Sie sagte das sehr ernst und sehr höflich. Vielleicht wollte sie auch einen Witz machen, und es war die Fahrradtour der örtlichen Clownsschule.

«Und ihr so?», fragte sie.

«Wir so?»

«Macht ihr auch eine Radtour?»

«Wir sind Automobilisten», erklärte Tschick.

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Das Mädchen wandte sich an den Jungen neben ihr und sagte: «Du hattest unrecht. Es sind Automobilisten.»

«Und ihr seid was genau? Adel auf dem Ro-del?»

«Was findest du daran so bemerkenswert?

Ist Automobilist weniger bemerkenswert?»

«Ja, aber Adel auf dem Rädel?»

«Ja, und ihr: Proleten auf Raketen?»

Mann, war die drauf. Vielleicht war vor der örtlichen Clownsschule auch gerade eine Ladung Koks ausgekippt worden. Was die Jungs und Mädchen auf dem Berg da wirklich machten, haben wir dann nicht mehr rausgefunden, aber tatsächlich haben wir die ganze Gruppe wenig später auf der Landstraße mit dem Lada überholt, und das Mädchen winkte, und wir winkten auch. Also wenigstens das mit dem Rädel stimmte. Zu diesem Zeitpunkt fühlten wir uns schon wieder wahnsinnig sicher, und ich schlug Tschick vor, wenn wir uns mal mit Decknamen anreden müssten, dann wäre er Graf Lada und ich Graf Koks. 25 164

Aber das eigentliche Problem an diesem Vormittag war, dass wir nichts zu essen hatten.

Wir hatten Konservendosen mitgenommen, aber keinen Dosenöffner. Es gab noch drei Scheiben Knäckebrot, aber keine Butter. Und die sechs Fertigpizzas waren aufgetaut absolut ungenießbar. Ich versuchte noch, ein Stück davon mit dem Feuerzeug zu grillen, aber das ging gar nicht, und am Ende verließen sechs Frisbeescheiben den Lada wie Ufos den bren-nenden Todesstern.

Die Rettung kam ein paar Kilometer weiter: Da zeigte ein gelber Wegweiser nach links auf ein kleines Dorf, und am gleichen Wegweiser hing Werbung: Normet 1 km. Schon aus der Entfernung sah man den riesigen Supermarkt, der wie ein Schuhkarton in der Landschaft stand.

Das Dorf daneben war winzig. Wir fuhren erst einmal ganz durch, parkten vor einer großen Scheune, wo uns keiner sah, und gingen zu Fuß zurück. Obwohl der ganze Ort nur aus ungefähr zehn Straßen bestand, die sich alle an einem Brunnen auf dem Marktplatz trafen, konnten wir von da den Supermarkt nicht mehr entdecken. Tschick wollte nach links.

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Ich wollte schräg geradeaus, und es war keiner auf der Straße, den man fragen konnte.

Wir liefen durch menschenleere Gassen, schließlich kam uns ein Junge auf einem Fahrrad entgegen, einem Holzfahrrad ohne Pedale. Um vorwärtszukommen, musste er die Beine vor- und zurückschleudern. Er war ungefähr zwölf Jahre alt und schätzungsweise zehn Jahre zu alt für dieses Fahrrad. Seine Knie schleiften auf der Erde. Er blieb direkt vor uns stehen und glotzte uns mit riesigen Augen an wie ein großer behinderter Frosch.

Tschick fragte ihn, wo denn hier der Norma wäre, und der Junge lächelte entweder sehr verwegen oder sehr ahnungslos. Er hatte unglaublich viel Zahnfleisch.

«Wir kaufen nicht im Supermarkt», erklärte er bestimmt.

«Interessant. Und wo ist er?»

«Wir kaufen immer bei Froehlich.»

«Ah, bei Froehlich.» Tschick nickte dem Jungen zu wie ein Cowboy, der dem anderen Cowboy nicht wehtun will. «Aber uns würde hauptsächlich interessieren, wo es hier zum Norma geht.»

Der Junge nickte eifrig, hob eine Hand an den Kopf, als würde er sich kratzen wollen, 166

und zeigte mit der anderen unentschlossen in der Gegend rum. Dann fand sein Zeigefinger plötzlich ein Ziel zwischen den Häusern. Da sah man kurz vorm Horizont ein einsames Gehöft zwischen hohen Pappeln. «Da ist Froehlich! Da kaufen wir immer ein.»

«Phantastisch», sagte Tschick. «Und jetzt nochmal ungefähr der Supermarkt?»

Das viele Zahnfleisch machte uns klar, dass wir mit einer Antwort wahrscheinlich nicht mehr rechnen konnten. Es war aber auch sonst niemand auf der Straße, den man hätte fragen können.

«Was wollt ihr denn da?»

«Was wollen wir denn da? Maik, Maiki, was wollten wir nochmal im Supermarkt?»

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