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«Und was soll das ändern? In einer Stunde wandert der Zeiger einmal rum. Die Himmelsrichtung dreht sich doch nicht dauernd.»

«Aber wenn der Kompass sich dreht - vielleicht ist es ein Kreiselkompass.»

«Ein Kreiselkompass!»

«Hast du noch nie vom Kreiselkompass gehört?»

«Ein Kreiselkompass hat aber nichts mit Kreiseln zu tun. Der kreiselt nicht», sagte ich.

«Der hat was mit Alkohol zu tun. Da ist Alkohol drin.»

«Du verarschst mich.»

«Das weiß ich aus einem Buch, wo die auf dem Schiff kentern, und dann bricht ein Mat-143

rose den Kompass auf, weil er Alkoholiker ist, woraufhin sie komplett die Orientierung ver-lieren.»

«Hört sich nicht gerade wie ein Fachbuch an.»

«Stimmt aber. Das Buch hieß, glaube ich, Der Seebär. Oder Der Seewolf.»

«Du meinst Steppenwolf. Da geht es auch um Drogen. So was liest mein Bruder.»

«Steppenwolf ist zufällig eine Band», sagte ich.

«Also, ich würde sagen, wenn wir nicht genau wissen, wo Süden ist, fahren wir einfach Sandpiste», sagte Tschick und band die Uhr wieder um. «Da ist weniger los.»

Und wie immer hatte er recht. Es war eine gute Entscheidung. Eine Stunde lang begegnete uns kein Auto mehr. Wir waren jetzt irgendwo, wo es nicht mal mehr Häuser am Horizont gab. Auf einem Feld lagen Kürbisse, so groß wie Medizinbälle. 21

Wind kam auf, der Wind legte sich wieder.

Erneut verschwand die Sonne hinter dunklen Wolken, und zwei Regentropfen fielen auf die 144

Windschutzscheibe. Die Tropfen waren so groß, dass fast die ganze Scheibe nass wurde.

Tschick fuhr schneller, hohe Bäume bogen sich unter dem Wind, und plötzlich zerrte eine Böe unser Auto fast auf die andere Straßensei-te. Tschick bog in einen holprigen Feldweg zwischen zwei Weizenfeldern ein. Das Klaviergeklimper wurde dramatisch, und nach einem Kilometer hörte der Weg mitten im Feld auf.

«Ich fahr doch jetzt nicht zurück», sagte Tschick und rumpelte, ohne zu bremsen, geradeaus. Die Halme prasselten auf das Blech und gegen die Türen. Tschick ließ den Wagen im Weizenfeld ausrollen, schaltete runter und gab Gas. Der Motor zog langsam an, und wie ein Schneepflug teilte die Kühlerhaube das Meer aus gelbem Weizen. Obwohl der Lada seltsame Geräusche machte, schaffte er den Acker fast mühelos. Nur die Orientierung war schwierig, man konnte nicht richtig über die Halme hinaussehen. Kein Horizont. Ein dritter Regentropfen fiel auf unsere Scheibe. Das Feld ging leicht bergauf. Wir fuhren kleine Kurven und Schnörkel und stießen auf eine Schneise, die wir eine Minute zuvor selbst gepflügt hatten. Ich schlug vor, Tschick sollte 145

versuchen, unsere Namen in den Weizen zu schreiben, sodass man sie von einem Hubschrauber aus lesen konnte oder später bei Google Earth. Schon beim Querbalken vom T

verloren wir die Übersicht. Wir fuhren einfach nur herum, krochen immer weiter einen Hügel hinauf, und als wir ganz oben waren, war das Feld plötzlich zu Ende. Tschick bremste in letzter Sekunde. Mit der hinteren Hälfte standen wir noch im Korn, mit der Schnauze guckte der Lada in die Landschaft hinaus.

Sattgrün und steil abfallend erstreckte sich eine Kuhweide vor uns und gab den Blick frei auf endlose Felder, Baumgruppen und kleine Straßen, Hügel und Hügelketten und Berge und Wiesen und Wald. Auf dem Horizont türmten sich die Wolken. Man sah Wetter-leuchten über einem fernen Kirchturm, aber es war totenstill. Der vierte Regentropfen klatschte auf die Scheibe. Tschick stellte den Motor ab. Ich drehte Clayderman aus.

Minutenlang schauten wir einfach nur. Kleinere, hellere Wolken flogen unter den schwarzen hindurch. Blaugraue Schleier liefen über die entfernten Hügelketten, über die näheren Hügelketten. Die Wolken hoben sich und kamen wie eine Walze auf uns zu.

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«Independence Day», sagte Tschick.

Wir holten Brot, Cola und Marmelade raus, und während wir noch damit beschäftigt waren, ein Picknick in unserem Auto aufzubauen, wurde es finster. Es war früher Nachmittag, aber es wurde finster wie die Nacht. Kurz danach sah ich, wie auf einer Weide eine Kuh umfiel. Ich dachte erst, ich hätte mich getäuscht, aber Tschick hatte es auch gesehen.

Alle anderen Kühe hatten sich mit dem Arsch in den Wind gedreht, aber die eine war einfach umgekippt. Und dann hörte der Wind so plötzlich auf, wie er gekommen war. Eine Minute passierte nichts, man konnte jetzt nicht mal mehr die Aufschrift auf der Cola-Flasche lesen. Dann klatschte ein Eimer Wasser auf unsere Frontscheibe, und es kam runter wie eine Wand.

Stundenlang. Es krachte und donnerte und goss. Ein armdicker Ast mit Laub dran flog durchs Tal, als ob ein Kind Drachen steigen ließ. Als am Abend der Regen endlich aufhör-te und wir aus dem Wagen kletterten, war das ganze Weizenfeld platt, und die Wiesen vor uns hatten sich in Sumpf verwandelt. Es war unmöglich weiterzufahren, wir wären stecken geblieben. Und deshalb verbrachten wir unse-147

re erste Nacht auf dem Hügel, auf den Auto-sitzen schlafend. Wahnsinnig bequem war das nicht, aber wir hatten auch keine großen Al-ternativen in dem Schlamm da draußen. 22

Ich schlief kaum, und das Gute daran war, dass ich beim ersten Lichtstrahl schon den Bauern sah, der auf einem Traktor durch das Tal karriolte. Ob er uns wirklich gesehen hatte, weiß ich nicht, aber ich weckte Tschick, der sofort den Wagen startete. Wir rutschten mehr rückwärts durch das Weizenfeld den Hügel runter, als dass wir fuhren, und dann ging's zurück auf die Straße und ab.

Die Schokoladenkekse waren mittlerweile wieder essbar, und nachdem wir sie gefrühstückt hatten, versuchte Tschick, mir auf einer Wiese am Waldrand das Fahren beizubringen.

Ich war zuerst nicht wahnsinnig wild drauf, aber Tschick meinte, es wäre albern, Autos zu klauen, wenn man nicht fahren könnte. Außerdem behauptete er, ich hätte bloß Angst, und das stimmte.

Tschick drehte eine Proberunde für mich, und ich achtete darauf, was er da eigentlich 148

machte, welche Pedale er trat und wie er schaltete. Das hatte ich zwar schon oft bei meinen Eltern gesehen, aber ich hatte nie richtig hingeguckt. Ich wusste nicht mal genau, welches Pedal welches war.

«Links ist Kupplung. Die lässt du ganz langsam kommen und gibst auch Gas und - siehst du? Siehst du?»

Natürlich sah ich gar nichts. Kommen lassen? Gas geben? Tschick erklärte es mir.

Zum Starten legt man den ersten Gang ein.

Dabei muss man die Kupplung treten und mit dem rechten Fuß ein bisschen aufs Gaspedal tippen und gleichzeitig die Kupplung loslassen. Das ist das Schwierigste, das Starten. Da brauchte ich zwanzig Anläufe, bis der Lada sich endlich mal in Bewegung gesetzt hatte, und dann war ich gleich so überrascht, dass ich beide Füße hochnahm - das Auto machte einen Satz, und der Motor ging aus.

«Einfach wieder auf die Kupplung, dann kannst du ihn nicht abwürgen. Auch beim Bremsen: Immer gleichzeitig die Kupplung, sonst würgst du ihn ab.»

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