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Zehn Minuten später luden wir den Lada voll. Unsere Garage hat direkten Zugang zum Haus, und wir schleppten alles da hin, was irgendwie sinnvoll schien. Zuerst einmal Brot, Knäckebrot und Brotaufstrich und so was und Konservendosen, weil wir dachten, dass wir ja vielleicht auch mal was essen würden. Dafür brauchten wir dann natürlich auch Teller und Messer und Löffel. Wir packten ein Drei-Mann-Zelt ein, Schlafsäcke und Isomatten.

Die Isomatten zogen wir gleich wieder raus und ersetzten sie durch Luftmatratzen. Nach und nach wanderte das halbe Haus ins Auto, und dann fingen wir an, alles wieder rauszu-schmeißen: Das meiste braucht man ja doch nicht. Es war ein großes Hin und Her. Wir stritten, ob man zum Beispiel Rollerblades brauchte oder nicht. Wenn uns mal das Ben-134

zin ausgehen würde, könnte einer damit zur Tankstelle, meinte Tschick, aber ich fand, da hätte man ja gleich das Klapprad einpacken können. Oder eine Fahrradtour machen. Ganz zum Schluss kamen wir noch auf die Idee, einen Kasten Wasser mitzunehmen, und das stellte sich am Ende als die beste Idee von allen raus. Oder die einzige überhaupt. Weil, alles andere war leider reiner Schwachsinn. Fe-derballschläger, ein Riesenstapel Mangas, vier Paar Schuhe, der Werkzeugkoffer von meinem Vater, sechs Fertigpizzas. Was wir jedenfalls nicht mitnahmen, waren Handys. «Damit nicht jeder Schwanzlutscher uns orten kann», sagte Tschick.

Und auch keine CDs. Der Lada hatte zwar riesige Lautsprecher hinten, aber nur einen verfilzten Kassettenrekorder, der unters Handschuhfach geschraubt war. Wobei ich, ehrlich gesagt, ganz froh war, dass ich Beyonce nicht auch noch im Auto hören musste.

Und natürlich nahmen wir auch die zweihundert Euro mit und dann noch alles Geld, das ich hatte, obwohl mir nicht ganz klar war, was wir damit wollten. In meiner Vorstellung fuhren wir durch menschenleere Gegenden, praktisch Wüste. Ich hatte nicht ganz genau ge-135

guckt bei Wikipedia, wie es da Richtung Walachei aussah. Aber dass da unten viel los wä-re, kam mir eher unwahrscheinlich vor. 20

Ich hatte meinen Arm aus dem Fenster gehängt und den Kopf darauf gelegt. Wir fuhren Tempo 30 zwischen Wiesen und Feldern hindurch, über denen langsam die Sonne aufging, irgendwo hinter Rahnsdorf, und es war das Schönste und Seltsamste, was ich je erlebt ha-be. Was daran seltsam war, ist schwer zu sagen, denn es war ja nur eine Autofahrt, und ich war schon oft Auto gefahren. Aber es ist eben ein Unterschied, ob man dabei neben Erwachsenen sitzt, die über Waschbeton und Angela Merkel reden, oder ob sie eben nicht da sitzen und niemand redet. Tschick hatte sich auf seiner Seite auch aus dem Fenster gehängt und steuerte den Wagen mit der rechten Hand eine kleine Anhöhe hinauf. Es war, als ob der Lada von alleine durch die Felder fuhr, es war ein ganz anderes Fahren, eine andere Welt. Alles war größer, die Farben satter, die Geräusche Dolby Surround, und ich hätte mich, ehrlich gesagt, nicht gewundert, 136

wenn auf einmal Tony Soprano, ein Dinosau-rier oder ein Raumschiff vor uns aufgetaucht wäre.

Wir waren auf dem direktesten Weg aus Berlin rausgefahren, den Frühverkehr hinter uns lassend, und steuerten durch die Vororte und über abgelegene Wege und einsame Landstraßen. Wobei sich als Erstes bemerkbar machte, dass wir keine Landkarte hatten. Nur einen Straßenplan von Berlin.

«Landkarten sind für Muschis», sagte Tschick, und da hatte er logisch recht. Aber wie man es bis in die Walachei schaffen sollte, wenn man nicht mal wusste, wo Rahnsdorf ist, deutete sich da als Problem schon mal an.

Wir fuhren deshalb erst mal Richtung Süden.

Die Walachei liegt nämlich in Rumänien, und Rumänien ist im Süden.

Das nächste Problem war, dass wir nicht wussten, wo Süden ist. Schon am Vormittag zogen schwere Gewitterwolken auf, und man sah keine Sonne mehr. Draußen waren mindestens vierzig Grad. Es war noch heißer und schwüler als am Tag davor.

Ich hatte diesen kleinen Kompass am Schlüsselbund, der mal aus einem Kaugummiauto-maten gekommen war, aber in dem Auto zeig-137

te er irgendwie nicht nach Süden, und auch draußen zeigte er, wohin er wollte. Wir hielten extra an, um das rauszufinden, und als ich wieder in den Wagen stieg, merkte ich, dass unter meiner Fußmatte etwas lag - eine Musikkassette. Sie hieß

The Solid

Gold Collectton von Richard Clayderman, und es war eigentlich keine Musik, eher so Klaviergeklimper, Mozart. Aber wir hatten ja nichts anderes, und weil wir auch nicht wussten, was da vielleicht noch drauf war, hörten wir das erst mal. Fünfundvierzig Minuten. Alter Finne. Wobei ich zugeben muss: Nachdem wir ausreichend gekotzt hatten über Rieschah und sein Klavier, hörten wir auch die andere Seite, wo genau das Gleiche drauf war, und es war immer noch besser als nichts. Im Ernst, ich hab's Tschick nicht gesagt, und ich sag's auch jetzt nicht gern: Aber diese Moll-Scheiße zog mir komplett den Stecker. Ich musste immer an Tatjana denken und wie sie mich angeguckt hatte, als ich ihr die Zeichnung geschenkt hatte, und dann kachelten wir mit «Ballade pour Adeline» über die Autobahn.

Tatsächlich hatten wir uns irgendwie auf den Autobahnzubringer verirrt, und Tschick, der 138

zwar einigermaßen fahren konnte, aber so was wie deutsche Autobahn auch noch nicht erlebt hatte, war wild am Rumkurbeln. Als er sich unten einfädeln sollte, legte er eine Vollbrem-sung hin, gab wieder Gas, bremste nochmal und eierte im Schritttempo auf die Standspur, bevor er es endlich nach links rüberschaffte.

Zum Glück rammte uns niemand. Ich hielt die Füße mit aller Kraft vorne gegengestemmt, ich dachte, wenn wir jetzt sterben, liegt das an Rieschah und seinem Klavier. Aber wir star-ben nicht. Das Geklimper setzte zu immer neuen Höhenflügen an, und wir einigten uns darauf, nach der nächsten Ausfahrt nur noch kleine Straßen und Feldwege zu fahren. Ein Problem war auch: Auf der Autobahn war links neben uns ein Mann im schwarzen Mer-cedes aufgetaucht und hatte zu uns reingeguckt und wie wild Handzeichen gemacht. Er hatte irgendwelche Zahlen mit den Fingern angedeutet und sein Handy hochgehalten und so getan, als ob er sich unser Kennzeichen aufschreiben würde. Mir ging wahnsinnig die Muffe, aber Tschick zuckte einfach die Schultern und tat so, als wäre er dem

Mann dankbar, dass er uns darauf aufmerk-139

sam machte, dass wir noch mit Licht fuhren, und dann hatten wir ihn im Verkehr verloren.

Tatsächlich sah Tschick ein bisschen älter aus als vierzehn. Aber keinesfalls wie acht-zehn. Wobei wir ja auch nicht wussten, wie er in voller Fahrt durch die verschmierten Scheiben aussah. Um das zu testen, machten wir auf einem abgelegenen Feldweg erst mal ein paar Versuche. Ich stellte mich an den Straßenrand, und Tschick musste zwanzigmal an mir vorbeifahren, damit ich gucken konnte, wie er am erwachsensten rüberkam. Er legte beide Schlafsäcke als Kissen auf den Fahrersitz, setzte meine Sonnenbrille wieder auf, schob sie ins Haar, steckte eine Zigarette in seinen Mundwinkel und klebte sich zuletzt ein paar Stücke schwarzes Isolierband ins Gesicht, um einen Kevin-Kuranyi-Bart zu simu-lieren. Er sah allerdings nicht aus wie Kevin Kuränyi, sondern wie ein Vierzehnjähriger, der sich Isolierband ins Gesicht geklebt hat.

Am Ende riss er alles wieder runter und pappte sich einen kleinen, quadratischen Klebe-streifen unter die Nase. Damit sah er aus wie Hitler, aber das wirkte aus einiger Entfernung tatsächlich am besten. Und weil wir eh in 140

Brandenburg waren, konnte das auch keine politischen Konflikte geben.

Nur das Problem mit der Orientierung blieb.

Dresden war mal ausgeschildert. Dresden lag ziemlich sicher im Süden, und da nahmen wir erst mal diese Richtung. Aber wenn wir die Wahl hatten zwischen zwei Wegen, fuhren wir nach Möglichkeit den kleineren mit weniger Autos, und da gab es dann bald immer weniger Wegweiser, und die zeigten immer nur bis zum nächsten Dorf und nicht nach Dresden.

Geht es nach Burig Richtung Süden oder nach Freienbink? Wir warfen eine Münze. Tschick fand das mit der Münze toll und sagte, wir fahren jetzt nur noch nach Münze. Kopf für rechts, Zahl für links, und wenn sie auf dem Rand liegen bleibt, geradeaus. Die Münze blieb logischerweise nie auf dem Rand liegen, und wir kamen überhaupt nicht mehr voran.

Deshalb gaben wir das mit der Münze bald wieder auf und fuhren immer rechts-links-rechts-links, was ich vorgeschlagen hatte, aber das war auch nicht besser. Man sollte meinen, wenn man immer abwechselnd rechts und links fährt, könnte man nicht im Kreis fahren, aber wir schafften es. Als wir zum dritten Mal an einem Wegweiser standen, wo es links 141

nach Markgrafpieske und rechts nach Spreenhagen ging, kam Tschick auf die Idee, nur noch Orte anzusteuern, die mit M oder T

anfingen. Aber davon gab es eindeutig zu wenig. Ich schlug vor, nur noch Orte mit einer Primzahl als Kilometerstand zu nehmen, aber bei Bad Freienwalde 51 km bogen wir gleich falsch ab, und als uns das auffiel (drei mal siebzehn), waren wir schon wieder sonst wo.

Endlich kam die Sonne durch. In einem Maisfeld gabelte sich der Weg. Nach schräg links ging es endlos auf Kopfsteinpflaster, nach rechts endlos auf Sand. Wir stritten, welcher Weg mehr nach Süden zeigte. Die Sonne stand nicht ganz in der Mitte. Es war kurz vor elf.

«Süden ist da», sagte Tschick.

«Da ist Osten.»

Wir stiegen aus und aßen ein paar Schokoladenkekse, die schon zur Hälfte geschmolzen waren. Die Insekten im Maisfeld machten einen ungeheuren Krach.

«Du weißt schon, dass man mit einer Uhr die Himmelsrichtung bestimmen kann?» Tschick nahm seine Uhr ab. Ein altes, russisches Mo-dell, noch zum Aufziehen. Er hielt sie zwischen uns hin, aber ich wusste nicht, wie das 142

gehen sollte, und er wusste es auch nicht. Man musste wohl irgendwie einen Zeiger auf die Sonne richten, und dann zeigte der andere nach Norden oder so. Aber um kurz vor elf zeigten beide Zeiger auf die Sonne, da war al-so schon mal eindeutig nicht Norden.

«Vielleicht zeigt er auch nach Süden», sagte Tschick.

«Und um halb zwölf ist Süden dann da?»

«Oder es ist wegen Sommerzeit. Im Sommer funktioniert es nicht. Ich dreh mal eine Stunde zurück.»

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