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Aber bis zum Bremsen dauerte es noch eine Weile. Das Bremspedal macht auch der rechte Fuß, und damit kam ich erst mal überhaupt 149

nicht klar. Aus irgendeinem Grund wollten immer beide Füße auf die Bremse. Als ich es dann irgendwann hingekriegt hatte, dass der Wagen rollte, gurkte ich im ersten Gang auf der Wiese rum, und das war Wahnsinn. Der Lada machte, was ich wollte. Als ich schneller wurde, fing der Motor an zu heulen, und Tschick sagte, ich sollte mal drei Sekunden lang voll die Kupplung treten. Ich trat auf die Kupplung, und Tschick legte den zweiten Gang für mich ein.

«Jetzt mehr Gas!», sagte er, und plötzlich schoss ich mit dreißig dahin. Glücklicherweise war die Wiese sehr groß. Ich übte ein paar Stunden. So lange brauchte ich, bis ich es schaffte, den Wagen selbst zu starten, in den dritten Gang hochzuschalten und wieder run-terzuschalten, ohne ihn andauernd abzuwür-gen. Ich war schweißgebadet, aber aufhören wollte ich auch nicht. Tschick lag auf der Luftmatratze am Waldrand und sonnte sich, und den ganzen Tag kamen nur zwei Spazier-gänger vorbei, die keine Notiz von uns nahmen. Irgendwann machte ich eine Vollbrem-sung neben Tschick und fragte, wie das mit dem Kurzschließen eigentlich funktioniert.

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Weil, nachdem ich fahren konnte, wollte ich den Rest natürlich auch noch wissen.

Tschick klappte die Sonnenbrille hoch, setzte sich auf den Fahrersitz und wühlte mit beiden Händen in den Kabeln rum: «Du musst das hier auf Dauerplus legen, die Fünfzehn auf die Dreißig. Da ist die dicke Klemme für. Und die muss dick sein. Damit ist die Zündanlage unter Spannung, und dann machst du die Fünfzig drauf, die führt zum Anlasserrelais - so.

Das Steuerplus.»

«Und das ist bei jedem Auto so?»

«Ich kenn nur den hier. Aber mein Bruder meint, ja. Die Fünfzehn, die Dreißig und die Fünfzig.»

«Und das war's?»

«Du musst noch das Lenkrad totmachen. Der Rest ist pille-palle. Hier mit dem Fuß gegen, und zack. Und die Benzinpumpe überbrücken natürlich.»

Natürlich, die Benzinpumpe überbrücken.

Ich sagte erst mal nichts mehr. In Physik hatten wir einiges über den elektrischen Strom gelernt. Dass es Plus und Minus gab und die Elektronen wie Wasser durch die Leitung rauschten und so weiter. Aber das hatte mit dem, was in unserem Lada vorging, offenbar 151

nichts zu tun. Steuerplus, Dauerplus - das klang, als ob durch dieses Auto ein ganz anderer Strom floss als durch die Kabel im Physik-unterricht, als wären wir in einer Parallelwelt gelandet. Dabei war wahrscheinlich der Phy-sikunterricht die Parallelwelt. Denn dass es funktionierte, zeigte ja, dass Tschick recht hatte. 23

Er steuerte zurück zur Straße. Nachdem wir in einem kleinen Dorf an einer Bäckerei vorbeigekommen waren, kriegten wir beide Kaf-feedurst. Wir parkten den Wagen in einem Gebüsch hinter diesem Dorf und gingen zu Fuß zur Bäckerei zurück. Dort kauften wir Kaffee und belegte Brötchen, und als ich gerade in mein Brötchen beißen wollte, sagte jemand hinter mir: «Klingenberg, was machst du denn hier?»

Lutz Heckel, die Tonne auf Stelzen, saß am Tisch hinter uns. Neben ihm eine große Tonne auf Stelzen und eine nicht ganz so große Tonne auf Säulen.

«Und der Mongole ist auch da», sagte Heckel überrascht, aber auch in einem Ton, der we-152

nig Zweifel daran ließ, was er von Mongolen im Allgemeinen und Tschick im Besonderen hielt.

«Verwandtenbesuch», sagte ich und drehte mich schnell wieder um. Es schien mir nicht die Zeit für Diskussionen.

«Ich wusste gar nicht, dass du Verwandte hier hast?»

«Ich», sagte Tschick und prostete mit dem Kaffeebecher über den Tisch. «In Zwietow ist ein Kanakenauffanglager.»

Ich konnte mich nicht erinnern, Heckel auf Tatjanas Party gesehen zu haben, aber als Nächstes fragte er, wie wir denn hier wären.

Tschick erzählte ihm irgendwas von einer Fahrradtour.

«Klasskamrahn von dir?», hörte ich die große Tonne fragen, und dann hörte ich lange nichts mehr. Irgendwann klimperten am Tisch hinter uns Autoschlüssel, an der Bank wurde gerückt, und Vater Heckel stelzte an uns vorbei in die Bäckerei. Er kam mit einem Armvoll belegter Brötchen wieder raus, packte vier davon auf unseren Tisch und rief: «Ma orndlich was auffe Bruss für unsre tüchgen Fahrafahra!» Dann klopfte er mit den Knö-153

cheln aufs Holz, und die Tonnenfamilie spazierte über den Marktplatz davon.

«Uh», sagte Tschick, und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Wir blieben noch lange vor dieser Bäckerei sitzen. Den Kaffee brauchten wir jetzt. Und die Brötchen auch.

Alle halbe Stunde kurvte ein Reisebus mit Touristen über den Marktplatz. Irgendwo über dem Dorf gab es eine kleine Burg.

Tschick saß mit dem Rücken zur Bushaltestelle, aber ich musste die ganze Zeit auf die Rentner gucken, die aus diesen Bussen quol-len. Denn es waren ausschließlich Rentner.

Sie trugen alle braune oder beige Kleidung und ein lächerliches Hütchen, und wenn sie an uns vorbeikamen, wo es eine kleine Steigung raufging, schnauften sie, als hätten sie einen Marathon hinter sich.

Ich konnte mir immer nicht vorstellen, dass ich selbst einmal so ein beiger Rentner werden würde. Dabei waren alle alten Männer, die ich kannte, beige Rentner. Und auch die Rentnerinnen waren so. Alle waren beige. Es fiel mir ungeheuer schwer, mir auszumalen, dass diese alten Frauen auch einmal jung gewesen sein mussten. Dass sie einmal so alt gewesen waren wie Tatjana und sich abends 154

zurechtgemacht hatten und in Tanzlokale gegangen waren, wo man sie vermutlich als junge Feger oder so was bezeichnet hatte, vor fünfzig oder hundert Jahren. Nicht alle natürlich. Ein paar werden auch damals schon öde und hässlich gewesen sein. Aber auch die Öden und die Hässlichen haben mit ihrem Leben wahrscheinlich mal was vorgehabt, die hatten sicher auch Pläne für die Zukunft. Und auch die ganz Normalen hatten Pläne für die Zukunft, und was garantiert nicht in diesen Plänen stand, war, sich in beige Rentner zu verwandeln. Je länger ich über diese Alten nachdachte, die da aus den Bussen rauska-men, desto mehr deprimierte es mich. Am meisten deprimierte mich der Gedanke, dass unter diesen Rentnerinnen auch welche sein mussten, die nicht langweilig oder öde gewesen waren in ihrer Jugend. Die schön waren, die Jahrgangsschönsten, die, in die alle verliebt gewesen waren, und wo vor siebzig Jahren jemand auf seinem Indianerturm gesessen hat und aufgeregt war, wenn nur das Licht in ihrem Zimmer anging. Diese Mädchen waren jetzt auch beige Rentnerinnen, aber man konnte sie von den anderen beigen Rentnerinnen nicht mehr unterscheiden. Alle hatten 155

sie die gleiche graue Haut und fette Nasen und Ohren, und das deprimierte mich so, dass mir fast schlecht wurde.

«Pst», sagte Tschick und schaute an mir vorbei. Ich folgte seinem Blick und entdeckte zwei Polizisten, die eine Reihe parkender Autos entlanggingen und auf jedes Nummernschild guckten. Wortlos nahmen wir unsere Pappbecher und schlenderten unauffällig zurück zu dem Gebüsch, wo der Lada parkte.

Dann fuhren wir den Weg, den wir morgens gekommen waren, zurück und auf die Landstraße und mit hundert auf und davon. Wir mussten nicht lange darüber diskutieren, was als Nächstes zu tun wäre.

In einem Waldstück fanden wir einen Parkplatz, wo Leute ihre Autos abstellten, um spa-zieren zu gehen. Und es standen glücklicherweise ziemlich viele Autos dort, denn es war gar nicht so leicht, eins zu finden, wo man die Nummernschilder abschrauben konnte. Die meisten hatten überhaupt keine Schrauben.

Was wir schließlich fanden, war ein alter VW

Käfer mit Münchner Kennzeichen. Dem machten wir im Gegenzug unsere Kennzeichen an, in der Hoffnung, dass er's nicht so schnell merken würde.

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Dann rasten wir ein paar Kilometer auf irgendwelchen Schleichwegen durch die Felder, bevor wir in einen riesigen Wald einbogen und den Lada auf einem verlassenen Säge-werksgelände abstellten. Wir packten unsere Rucksäcke und wanderten durch den Wald.

Wir hatten nicht die Absicht, den Lada schon im Stich zu lassen, aber trotz Nummern-schildwechsel war uns nicht ganz wohl bei der Sache. Es schien uns das Klügste, den Wagen erst mal eine Weile aus dem Verkehr zu ziehen. Vielleicht ein, zwei Tage im Wald verbringen und später wieder vorbeigucken, das war der Plan. Wobei - ein richtiger Plan war das auch nicht. Wir wussten ja nicht mal, ob sie wirklich nach uns gesucht hatten. Und ob sie uns in ein paar Tagen nicht mehr suchen würden.

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