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«Wollt ihr einholen? Oder nur gucken?», fragte der Junge.

«Gucken? Gehst du in den Supermarkt, um zu gucken oder was?»

«Komm, lass uns weiter», sagte ich, «wir finden den auch so. Wir wollten Essen kaufen.»

Ich hatte den Eindruck, es machte keinen Sinn, den Jungen mit den Froschaugen zu verarschen.

In dem Moment stand eine sehr blasse, sehr große Frau vor einem Haus und rief: «Frie-167

demann! Friedemann, komm rein! Es ist zwölf.»

«Ich komme gleich», antwortete der Junge, und jetzt hatte sich seine Stimme verändert.

Er hatte plötzlich den gleichen Singsang wie seine Mutter.

«Wieso wollt ihr Essen kaufen?», fragte er noch, und da war Tschick schon zu der Frau hin und fragte sie, wo denn hier der Norma wäre.

«Was für ein Norma?»

«Der Supermarkt», erklärte Friedemann.

«Ah, der große Supermarkt», sagte die Frau.

Sie hatte ein ziemlich beeindruckendes Gesicht. Ganz ausgemergelt, aber auch irgendwie vollfit. Sie sagte: «Da kaufen wir nie. Wir kaufen immer bei Froehlich.»

«Wir hörten davon.» Tschick setzte sein höf-lichstes Lächeln auf. Er konnte das sehr gut, dieses höfliche Lächeln. Ich hatte immer den Eindruck, er übertrieb es ein bisschen. Aber andererseits sah er ja auch aus wie der Mon-golensturm, das glich es wieder aus.

«Was wollt ihr denn da?»

Himmel, war denn die ganze Familie so?

Wusste keiner, was man in einem Supermarkt macht? «Einkaufen», sagte ich.

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«Einkaufen», sagte die Frau und verschränkte ihre Arme vor der Brust, als ob sie sie daran hindern wollte, uns zufällig oder gegen ihren Willen den Weg zum Supermarkt zu zeigen.

«Essen! Die wollen Essen kaufen», petzte Friedemann.

Die Frau sah uns misstrauisch an, und dann erkundigte sie sich, ob wir nicht von hier wären - und was wir hier wollten. Tschick erklärte ihr die Sache mit der Fahrradtour, einmal Ostdeutschland quer durch, und die Frau spähte die Straße rauf und runter. Weit und breit kein Fahrrad.

«Und wir haben einen Platten», sagte ich und machte es wie Friedemann und zeigte in eine undefinierbare Richtung. «Aber wir müssten dringend was einkaufen, wir haben praktisch nicht gefrühstückt und -»

Nichts an ihrem Gesichtsausdruck und nichts an ihrer Haltung änderte sich, als sie sagte:

«Um zwölf gibt es Mittag. Ihr seid herzlich eingeladen, ihr jungen Leute aus Berlin. Ihr seid unsere Gäste.»

Dann zeigte sie Zahnfleisch, nicht ganz so viel wie Friedemann, und Friedemann riss mit einem Schrei, der wohl eine Art Begeisterung ausdrücken sollte, sein Rollerfahrrad rum und 169

schleuderte auf das Haus zu. Dort standen mittlerweile drei oder vier kleinere Kinder vor der Tür und starrten uns durch große Froschaugen an.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und Tschick wusste es auch nicht.

«Was gibt's denn?», fragte er schließlich, und es stellte sich raus, dass es Risi-Pisi gab. Was immer das sein mochte. Ich kratzte mich hinterm Ohr, und Tschick ließ seinen letzten großen Kracher los. Er machte die Mongolen-schlitze auf, beugte sich ein wenig vor und sagte: «Klingt phantastisch, gnä' Frau.»

Das zog mir endgültig den Stecker. Deutsch für Aussiedler, zweite Lektion.

«Warum hast du das gemacht?», flüsterte ich, während wir hinter der Frau hergingen, und Tschick wedelte hilflos mit den Armen, als wollte er sagen: Was sollte ich denn machen?

Aber bevor wir noch der Frau ins Haus folgen konnten, nickte sie schon Friedemann zu, und Friedemann nahm uns an den Händen und führte uns ums Haus rum in den Garten. Mir war nicht wohl dabei. Es beruhigte mich nur, dass Tschick sich noch einmal schnell mit 170

dem Zeigefinger an die Stirn tippte, als Friedemann nicht guckte.

Im Garten stand ein großer weißer Holztisch mit zehn Stühlen. Vier davon waren schon be-setzt durch Friedemanns Geschwister. Die Älteste war ein vielleicht neunjähriges Mädchen, der Jüngste ein Sechsjähriger, und alle mit dem gleichen Aussehen. Die Mutter brachte das Essen in einem riesigen Topf, und es gab Reis mit Pampe. Das war offensichtlich Risi-Pisi: Reis mit Pampe. Die Pampe war gelblich, und es schwammen kleine Bröckchen drin und grüne Kräuter. Die Mutter tat allen mit der Suppenkelle auf, aber niemand rührte das Essen an. Stattdessen hoben alle wie auf Kommando ihre Arme und fassten sich an den Händen, und weil uns die ganze Familie anguckte, hoben wir auch die Hände. Ich bekam die von Tschick und Friedemann zu fassen, und die Mutter sagte mit schiefgelegtem Kopf:

«Na ja, vielleicht müssen wir das auch nicht unbedingt heute. Begrüßen wir zur Feier des Tages doch einfach unsere weitgereisten Gäste, danken für alles, was uns beschert wurde und - guten Appetit.»

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Dann wurden die Hände geschüttelt, und es wurde gegessen, und da kann man sagen, was man will, die Pampe schmeckte phantastisch.

Als wir fertig waren, schob Tschick seinen leeren Teller mit zwei Händen von sich weg und erklärte in Richtung der Hausfrau, dass das ja ein bonfortionöses Mahl gewesen wäre, und ich stimmte ihm zu. Die Frau reagierte mit einer gerunzelten Stirn. Ich kratzte mich hinterm Ohr und wiederholte, dass ich schon seit Ewigkeiten nichts so Gutes mehr gegessen hätte, und Tschick ergänzte, es wäre super-bonfortionös gewesen. Die Frau zeigte ein bisschen Zahnfleisch und räusperte sich in ihre Faust, und Friedemann guckte uns mit großen Froschaugen an. Und dann kam der Nachtisch. Alter Finne.

Am liebsten würde ich das ja gar nicht erzählen. Ich erzähl's aber trotzdem. Florentine, die Neunjährige, brachte den Nachtisch auf einem Tablett heraus. Es war irgendwas Schaumiges, Weißes mit Himbeeren drauf, abgefüllt in acht Schälchen. Acht unterschiedlich große Schälchen. Mir war sofort klar, dass es jetzt Streit geben würde um das größte Schälchen - aber da hatte ich mich getäuscht.

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Die acht Schälchen standen zusammenged-rängt in der Mitte vom Tisch, und niemand rührte sie an. Alle rutschten nur auf ihren Stühlen rum und guckten die Frau an.

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