Vor unseren Füßen war die Erde senkrecht weggefräst, mindestens dreißig, vierzig Meter tief, und unten lag eine Mondlandschaft.
Weißgraue Erde, Krater, so groß, dass man Einfamilienhäuser dadrin hätte bauen können. Ein ganzes Stück links von uns begann eine Brücke über den Abgrund. Wobei, Brücke ist wahrscheinlich das falsche Wort. Es war eher so ein Gestell aus Holz und Eisen, wie ein 238
riesiges Baustellengerüst, schnurgerade bis zum anderen Ufer. Vielleicht zwei Kilometer, vielleicht mehr. Die Entfernung war schwer zu schätzen. Was drüben lag, war auch nicht zu erkennen, vielleicht Sträucher und Bäume.
Hinter uns der große Sumpf, vor uns das große Nichts, und wenn man genau hinhörte, hörte man auch genau überhaupt nichts. Kein Grillenzirpen, kein Gräserrascheln, kein Wind, keine Fliege, nichts.
Wir rätselten ein Weile, was das sein sollte, dann machten wir uns zu Fuß auf, um das Gerüst zu besichtigen. Es war breiter, als es aus der Entfernung ausgesehen hatte. Etwa drei Meter und mit dicken Holzbohlen obendrauf.
Einen anderen Weg am Abgrund vorbei schien es nicht zu geben, und weil wir auch nicht zurückfahren wollten, holte Tschick schließlich den Lada. Er rollte ein paar Meter auf das Gestell - oder die Brücke oder den Damm oder was auch immer - und sagte:
«Geht doch.»
Aber ganz geheuer war mir das nicht. Ich stieg wieder ein, und langsamer als mit Schrit-tempo fuhren wir über die Holzbohlen. Das Geräusch, das die Bohlen machten, war so hohl und unheimlich, dass ich schließlich 239
wieder ausstieg, um dem Auto voranzugehen.
Ich hielt Ausschau nach kaputten Planken, trat mit dem Fuß auf verdächtige Stellen und schaute dazwischen dreißig Meter in die Tiefe.
Tschick rollte im Abstand von ein paar Wa-genlängen hinter mir her. Wenn uns jemand entgegengekommen wäre, hätten wir alt ausgesehen. Andererseits war es auch nicht gerade eine Straße mit Durchgangsverkehr.
Als wir so weit gekommen waren, dass wir die Kante, von der wir gestartet waren, kaum noch und das entgegengesetzte Ufer noch nicht wirklich sehen konnten, machten wir ei-ne Pause. Tschick holte Cola aus dem Auto, und wir setzten uns auf den Rand der Holzbohlen oder versuchten es zumindest. Das Holz war so glühend heiß, dass man erst mal eine Weile Schatten auf eine Stelle werfen musste, bevor man sich setzen konnte. Dann starrten wir in die Kraterlandschaft, und als ich lange genug in diese Kraterlandschaft gestarrt hatte, dachte ich an Berlin. Ich hatte plötzlich Schwierigkeiten, mir vorzustellen, dass ich dort einmal gelebt hatte. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass ich da zur Schule gegangen war, und ich konnte mir auch nicht 240
vorstellen, dass ich es einmal wieder tun würde. 36
Auf der anderen Seite dann karge Sträucher und Gräser und so eine Art Dorf. Eine zerbrö-selte Straße wand sich zwischen verfallenen Häusern. Die Fenster hatten größtenteils keine Scheiben, die Dächer waren abgedeckt. Auf den Straßen nirgends Schilder, keine Autos, keine Zigarettenautomaten, nichts. Vor den Gärten waren die Zäune abmontiert vor langer Zeit, Unkraut wucherte aus jeder Ritze.
Wir gingen in ein verlassenes Bauernhaus und durchsuchten die Räume. Verschimmelte Holzregale lehnten an einer Wand. Auf einem Küchentisch eine leere Konservendose und ein Teller, am Boden eine Zeitung von 1995
mit einer Meldung vom Tagebau. Als wir sicher waren, dass in dem ganzen Ort kein Mensch mehr war, durchsuchten wir auch noch zwei andere Häuser, fanden aber nichts Interessantes. Alte Kleiderbügel, kaputte Gummistiefel, ein paar Tische und Stühle. Ich hatte ja mindestens irgendwo eine Leiche er-241
wartet, aber in die ganz dunklen Keller trau-ten wir uns auch nicht.
Wir fuhren weiter durch den Ort. An einer zweistöckigen Ruine waren die Fenster mit Brettern vernagelt, und auf die Bretter hatte jemand mit weißer Farbe Zeichen und Zahlen gemalt. Auch auf dem Weg, den wir fuhren, waren links und rechts Zeichen und Zahlen auf Steine und Zaunpfähle gemalt, und in der Mitte lag plötzlich ein riesiger Bretterhaufen.
Außen rum zog sich eine Wagenspur, und Tschick hielt vorsichtig im ersten Gang darauf zu, als es einen ungeheuren Schlag gab. Es knirschte. Wir guckten uns an. Der Lada stand still, und dann gab es den nächsten Schlag, als ob jemand von außen gegen die Karosserie hämmerte. Oder mit Steinen warf.
Oder schoss. Tschick drehte leicht den Kopf, und da merkte ich, dass die Scheibe hinter uns aussah wie ein Spinnennetz.
Sofort sprang ich aus dem Auto. Ich weiß nicht, warum, aber ich warf mich hinterm Au-to ins Gras, und an die nächsten Sekunden erinnere ich mich nicht wirklich. Ich meine, ich hätte gewinkt. Und was ich auch noch weiß - weil Tschick es mir hinterher erzählt hat -, ist, dass er den Rückwärtsgang einlegte 242
und mich anbrüllte, ich soll wieder einsteigen.
Aber ich war hinter dem Auto entlanggekro-chen und winkte wie blöd mit den Armen über die Kühlerhaube. Ich spähte zu den Ruinen gegenüber, zu den kahlen Fenstern, und dann sah ich, was ich zu sehen erwartet hatte: In einer Fensteröffnung stand jemand mit dem Gewehr im Anschlag. Ich sah noch eine Sekunde in die Mündung, dann hob er das Gewehr und setzte es ab. Ein alter Mann.
Er stand im zweiten Stock des beschrifteten Hauses. Er zitterte, so kam es mir vor, aber nicht, wie ich zitterte. Bei ihm schien es das Alter zu sein. Er schirmte seine Augen mit einer Hand gegen die blendende Sonne ab, während ich wie blöd weiterwinkte.
«Wo willst du hin? Steig ein, steig ein!», rief Tschick, aber ich war aufgestanden und ging, immer noch winkend und händeschwenkend, auf das Gebäude zu.
«Wir wollen nichts! Wir haben uns verfah-ren. Wir fahren sofort zurück!», rief ich.
Der Alte nickte. Er hielt das Gewehr am Lauf in die Luft und brüllte:«Kein Plan! Keine Karte und kein Plan!»
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Ich blieb auf dem Gelände vor seinem Haus stehen und versuchte mit meiner Miene auszudrücken, wie recht er hatte.
«Im Feld nie ohne Plan!», rief er. «Kommt rein! Ich habe Limo für euch. Kommt rein.»
Und logisch war das das Letzte, was ich wollte, da reingehen, aber er beharrte drauf, und es war am Ende keine allzu schwere Entscheidung. Wir standen immer noch in seinem Schussfeld, der Weg um den Bretterhaufen herum war schwierig, und der Alte schien ja auch nicht völlig gestört. Na ja: Ich meine, er redete wie ein normaler Mensch.
Sein Wohnzimmer - wenn man das so nennen kann - war in nicht wesentlich besserem Zustand als die Zimmer der Häuser, die wir durchsucht hatten. Man sah zwar, dass es be-wohnt wurde, aber es war unglaublich düster und dreckig. An einer Wand hingen Unmengen Schwarzweißfotos.
Wir mussten uns auf ein Sofa setzen, und dann holte der Mann mit feierlicher Miene ei-ne halbvolle Fanta hervor und sagte: «Trinkt.
Trinkt aus der Flasche.»
Er saß uns in einem Sessel gegenüber und kippte selbst irgendeinen Fusel aus einem Marmeladenglas. Das Gewehr lehnte zwi-244
schen seinen Knien. Ich hatte erwartet, dass er uns jetzt erst mal zum Lada ausfragen oder wissen wollen würde, wo wir damit hinwollten, aber das kratzte ihn offenbar gar nicht.
Als er rausgefunden hatte, dass wir aus Berlin waren, interessierte ihn hauptsächlich, ob Berlin sich wirklich so verändert hätte und ob man da noch unbehelligt über die Straße gehen könnte. Er bezweifelte das nämlich. Und nachdem wir ungefähr zehnmal versichern mussten, dass uns von Mord und Totschlag an unserer Schule nichts bekannt war, fragte er plötzlich: «Habt ihr denn ein Mädel?»
Ich wollte nein sagen, aber Tschick war schneller.
«Seine heißt Tatjana, und ich bin voll in An-gelina», sagte er, und ich wunderte mich nicht, warum er das sagte. Die Antwort schien den Alten allerdings nicht recht zufriedenzus-tellen.
«Weil, ihr seid zwei ganz hübsche Jungs», sagte er. «Nee, nee», sagte Tschick.