Der Vater und Luise verschwinden im Haus. Dann verschwindet auch das Haus, als würde es weggewischt.
Mutti umarmt Lotte und sagt traurig: »Nun sind wir beide 79
vaterseelenallein.« Plötzlich starrt sie das Kind unsicher an.
»Welches meiner Kinder bist du denn? Du siehst aus wie Lotte!«
»Ich bin ja Lotte!«
»Nein, du siehst aus wie Luise . . . «
»Ich bin doch Luise!«
Die Mutter blickt dem Kind erschrocken ins Gesicht und sagt, seltsamerweise mit Vaters Stimme: »Einmal Locken!
Einmal Zöpfe! Die gleichen Nasen! Die gleichen Köpfe!«
Lotte hat jetzt links einen Zopf, rechts Locken wie Luise.
Tränen rollen ihr aus den Augen. Und sie murmelt trost-los: »Nun weiß ich selber nicht mehr, wer von uns beiden ich bin! Ach, ich arme Hälfte!«
S I E B E N T E S K A P I T E L
Wochen sind vergangen — Peperl hat sich abgefunden —
Palatschinken haben keine Knochen — Alles hat sich verändert, besonders die Resi — Kapellmeister Palffy gibtKlavierstunden — Frau Körner macht sich Vorwürfe —
Anni Habersetzer kriegt Watschen — Ein Wochenende, schönwie nichts auf der Welt!
Wochen sind seit jenem ersten Tag und jener ersten Nacht in der fremden Welt unter fremden Menschen ins Land gegangen. Wochen, in denen jeder Augenblick, jeder Zufall und jede Begegnung Gefahr und Entdeckung mit sich bringen konnten. Wochen mit sehr viel Herzklopfen und man-chem postlagernden Brief, der neue dringende Auskünfte heischte.
Es ist alles gut abgelaufen. Ein bißchen Glück war wohl auch dabei. Luise hat das Kochen »wieder« gelernt. Die Lehrerinnen in München haben sich einigermaßen damit abgefunden, daß die kleine Körner aus den Ferien weniger fleißig, ordentlich und aufmerksam, dafür aber um so lebhafter und »schlagfertiger« zurückgekehrt ist.
Und ihre Wiener Kolleginnen haben rein gar nichts da-gegen, daß die Tochter des Kapellmeisters Palffy neuerdings besser aufpaßt und besser multiplizieren kann. Erst gestern hat Fräulein Gstettner im Lehrerzimmer zu Fräulein Bruckbaur ziemlich geschwollen gesagt: »Die Entwick-lung Luises zu beobachten, liebe Kollegin, ist für jedes päd-agogische Auge ein lehrreiches Erlebnis. Wie sich hier aus Überschwang des Temperaments still wirkende, beherrschte 81
Kraft herausgebildet hat, aus Übermut Heiterkeit und aus naschhaftem Wissensdurst ein stetiger, ins kleinste gehender Bildungswille — also, liebe Kollegin, das ist einzigartig!
Und vergessen Sie eines nicht, diese Verwandlung, diese Metamorphose eines Charakters in eine höhere, gebändigte Form geschah völlig aus sich heraus, ohne jeden erzieheri-schen Druck von außen!«
Fräulein Bruckbaur hat gewaltig genickt und erwidert:
»Diese Selbstentfaltung des Charakters, dieser Eigenwille zur Form zeigt sich auch im Wandel von Luises Schrift!
Ich sag' ja immer, daß Schrift und C h a r a k t e r . . . « Aber wir wollen es uns schenken, anzuhören, was Fräulein Bruckbaur immer sagt!
Vernehmen wir lieber, in rückhaltloser Anerkennung, daß Peperl, der Hund des Hofrats Strobl, seit einiger Zeit den alten Brauch wieder aufgenommen hat, dem kleinen Mädchen am Tisch des Herrn Kapellmeisters grüß Gott zu sagen.
Er hat sich, obwohl es über seinen Hundeverstand geht, damit abgefunden, daß das Luiserl nicht mehr wie das Luiserl riecht. Bei den Menschen ist so vieles möglich, warum nicht auch das? Außerdem, neuerdings ißt die liebe Kleine nicht mehr so oft Palatschinken, statt dessen mit großem Ver-gnügen Fleischernes. Wenn man nun bedenkt, daß P a l a -
tschinken keine Knochen haben, Koteletts hingegen in er-freulicher Häufigkeit, so kann man doppelt verstehen, daß das Tier seine Zurückhaltung überwunden hat.
Wenn Luises Lehrerinnen schon finden, daß sich Luise in erstaunlicher Weise gewandelt hat — was sollten sie erst zu Resi sagen, wenn sie Resi, die Haushälterin, näher kenn-ten? Denn Resi, das steht außer Frage, ist tatsächlich ein 82
völlig anderer Mensch geworden. Sie war vielleicht gar nicht von Grund auf betrügerisch, schlampert und faul? Sondern nur weil das scharfe Auge fehlte, das alles überwacht und sieht?
Seit Lotte im Haus ist und sanft, doch unabwendbar alles prüft, alles entdeckt, alles weiß, was man über Küche und Keller wissen kann, hat sich Resi zu einer »ersten Kraft«
entwickelt.
Lotte hat den Vater überredet, das Wirtschaftsgeld nicht länger der Resi, sondern ihr auszuhändigen. Und es ist einigermaßen komisch, wenn Resi anklopft und ins Kinderzimmer tritt, um sich von dem neunjährigen Kind, das ernst am Pult sitzt und seine Schulaufgaben macht, Geld geben zu 83
lassen. Sie berichtet gehorsam, was sie einkaufen muß, was sie zum Abendbrot auftischen will und was sonst im Haushalt nötig ist.
Lotte überschlägt rasch die Kosten, nimmt Geld aus dem Pult, zählt es Resi hin, schreibt den Betrag in ein Heft, und abends wird dann am Küchentisch gewissenhaft abge-rechnet.
Sogar dem Vater ist es aufgefallen, daß der Haushalt früher mehr gekostet hat, daß jetzt, obwohl er weniger Geld gibt, regelmäßig Blumen auf dem Tisch stehen, auch drüben im Atelier am Ring, und daß es in der Rotenturmstraße richtig heimelig geworden ist. (So, als wäre eine Frau im Haus, hat er neulich gedacht! Und über diesen Gedanken war er nicht schlecht erschrocken!)
Daß er jetzt öfter und länger in der Rotenturmstraße sitzt, ist nun wieder Fräulein Irene Gerlach, der Pralinendame, aufgefallen. Und sie hat den Herrn Kapellmeister deswegen gewissermaßen zur Rede gestellt. Sehr vorsichtig natürlich, denn Künstler sind empfindlich!
» J a , weißt«, hat er gesagt, »neulich komm' ich doch dazu, wie das Luiserl am Klavier sitzt und stillvergnügt auf den Tasten klimpert. Und dazu singt sie ein kleines Liedchen, einfach herzig! Wo sie doch früher nicht ans Klavier gegangen wär', und wenn man sie hingeprügelt hätt'!«
»Und?« hat Fräulein Gerlach gefragt und die Brauen bis an den Haaransatz hinaufgezogen.
»Und?« Der Herr Palffy hat verlegen gelacht. »Seitdem geb' ich ihr Klavierstunden. Es macht ihr höllischen Spaß.
Mir übrigens auch.«