Da rollt das Bett gehorsam zum Fenster. Die Fensterflügel springen auf. Das Bett schwebt zum Fenster hinaus.
Es fliegt über eine große Stadt dahin, über einen Fluß, über Hügel, Felder, Berge und Wälder. Dann senkt es sich wieder zur Erde herab und landet in einem mächtigen, ur-waldähnlichen Baumgewirr, in dem es von unheimlichem Vogelgekrächz und vom Gebrüll wilder Tiere schauerlich widerhallt. Die beiden kleinen Mädchen sitzen, von Furcht gelähmt, im Bett.
Da knackt und prasselt es im Dickicht!
Die Kinder werfen sich zurück und ziehen die Decke über die Köpfe. Aus dem Gestrüpp kommt jetzt die Hexe hervor.
Es ist aber nicht die Hexe von der Opernbühne, sondern sie ähnelt viel eher der Pralinendame aus der Loge. Sie blickt durch ihr Opernglas zu dem Bettchen hinüber, nickt mit dem Kopf, lächelt sehr hochmütig und klatscht dreimal in die Hände.
Wie auf Kommando verwandelt sich der dunkle Wald in eine sonnige Wiese. Und auf der Wiese steht ein aus Kon-fektschachteln gebautes Haus, mit einem Zaun aus Schoko-ladetafeln. Vögel zwitschern lustig, im Gras hüpfen Hasen aus Marzipan, und überall schimmert es von goldenen Ne-stern, in denen Ostereier liegen. Ein kleiner Vogel setzt sich aufs Bett und singt so hübsch Koloratur, daß sich Lotte und Luise, wenn auch zunächst nur bis zu den Nasenspitzen, unter ihrer Decke hervortrauen. Als sie nun die Wiese mit den Osterhasen, die Schokoladeneier und das Pralinenhaus sehen, klettern sie schnell aus dem Bett und laufen zum Zaun.
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Dort stehen sie nun in ihren langen Nachthemden und staunen. »Spezialmischung!« liest Luise laut vor. »Und Krokant!
Und Nougatfüllung!«
»Und bittere Sonderklasse!« ruft Lotte erfreut. (Denn sie ißt auch im Traum nicht gerne Süßes.) Luise bricht ein großes Stück Schokolade vom Zaun.
»Mit Nuß!« meint sie begehrlich und will hineinbeißen.
Da ertönt Hexenlachen aus dem Haus! Die Kinder erschrecken! Luise wirft die Schokolade weit weg!
Und schon kommt Mutti mit einem großen Handwagen voller Brote über die Wiese gekeucht. »Halt, Kinder!« ruft sie angstvoll. »Es ist alles vergiftet!«
»Wir hatten Hunger, Mutti.«
»Hier habt ihr Brot! Ich konnte nicht früher aus dem Verlag weg!« Sie umarmt ihre Kinder und will sie fortziehen.
Doch da öffnet sich die Pralinentür. Der Vater erscheint mit einer großen Säge, wie Holzhauer sie haben, und ruft: » L a s -
sen Sie die Kinder in Ruhe, Frau Körner!«
»Es sind meine Kinder, Herr Palffy!«
»Meine auch«, schreit er zurück. Und während er sich nähert, erklärt er trocken: »Ich werde die Kinder halbieren!
Mit der Säge! Ich kriege eine halbe Lotte und von Luise eine Hälfte, und Sie auch, Frau Körner!«
Die Zwillinge sind zitternd ins Bett gesprungen.
Mutti stellt sich, mit ausgebreiteten Armen, schützend vor das Bett. »Niemals, Herr Palffy!«
Aber der Vater schiebt sie beiseite und beginnt, vom Kopf-ende her, das Bett durchzusägen. Die Säge kreischt so, daß man friert, und sägt das Bett Zentimeter auf Zentimeter der Länge nach durch.
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»Laßt euch los!« befiehlt der Vater.
Die Säge kommt den ineinandergefalteten Geschwister-händen immer näher, immer näher! Gleich ritzt sie die Haut!
Mutti weint herzzerbrechend.
Man hört die Hexe kichern.
Da endlich geben die Kinderhände nach.
Die Säge schneidet zwischen ihnen das Bett endgültig auseinander, bis zwei Betten, jedes auf vier Füßen, daraus geworden sind.
»Welchen Zwilling wollen Sie haben, Frau Körner?«
»Beide, beide!«
»Bedaure«, sagt der Mann. »Gerechtigkeit muß sein. Na, wenn Sie sich nicht entschließen können — ich nehm' die da! Mir ist es eh gleich. Ich kenn' sie ja doch nicht auseinander.« Er greift nach dem einen Bett. »Welche bist du denn?«
»Das Luiserl!« ruft diese. »Aber du darfst das nicht tun!«
»Nein«, schreit Lotte. »Ihr dürft uns nicht halbieren!«
»Haltet den Mund!« erklärt der Mann streng. »Eltern dürfen alles!« Damit geht er, das eine Kinderbett an einer Schnur hinter sich herziehend, auf das Pralinenhaus zu. Der Schokoladenzaun springt von selber auf. —
Luise und Lotte winken einander verzweifelt zu.
»Wir schreiben uns!« brüllt Luise.
»Postlagernd!« schreit Lotte. »Vergißmeinnicht München Nr. 18!«