Lotte
Neuen von der nächsten Bahnstation abholen soll. Wenn der Zug pünktlich eingetroffen ist, müßten sie eigentlich . . .
Da hupt es! »Sie kommen!« Der Omnibus rollt die Straße entlang, biegt vorsichtig in die Einfahrt und hält. Der Chauffeur steigt aus und hebt fleißig ein kleines Mädchen nach dem anderen aus dem Wagen. Doch nicht nur Mädchen, sondern auch Koffer und Taschen und Puppen und Körbe und Tüten und Stoffhunde und Roller und Schirmchen und Thermosflaschen und Regenmäntel und Rucksäcke und ge-rollte Wolldecken und Bilderbücher und Botanisiertrommeln und Schmetterlingsnetze, eine kunterbunte Fracht.
Zum Schluß taucht, mit seinen Habseligkeiten, im Rahmen der Wagentür das zwanzigste kleine Mädchen auf. Ein ernst dreinschauendes Ding. Der Chauffeur streckt bereit-willig die Arme hoch.
Die Kleine schüttelt den Kopf, daß beide Zöpfe schlen-kern. »Danke, nein!« sagt sie höflich und bestimmt und klettert, ruhig und sicher, das Trittbrett herab. Unten blickt sie verlegen lächelnd in die Runde. Plötzlich macht sie große er-staunte Augen. Sie starrt Luise an!
Nun reißt auch Luise die Augen auf. Erschrocken blickt sie der Neuen ins Gesicht!
Die anderen Kinder und Fräulein Ulrike schauen perplex von einer zur anderen. Der Chauffeur schiebt die Mütze nach hinten, kratzt sich am Kopf und kriegt den Mund nicht wieder zu. Weswegen denn?
Luise und die Neue sehen einander zum Verwechseln ähnlich! Zwar, eine hat lange Locken und die andere streng geflochtene Zöpfe — aber das ist wirklich der einzige Unterschied!
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Da dreht sich Luise um und rennt, als werde sie von Löwen und Tigern verfolgt, in den Garten.
»Luise!« ruft Fräulein Ulrike. »Luise!« Dann zuckt sie die Achseln und bringt erst einmal die zwanzig Neulinge ins Haus. Als letzte, zögernd und unendlich verwundert, spaziert das kleine Zopfmädchen.
Frau Muthesius
Frau Muthesius, die Leiterin des Kinderheims, sitzt im Büro und berät mit der alten, resoluten Köchin den Speise-zettel für die nächsten Tage.
Da klopft es. Fräulein Ulrike tritt ein und meldet, daß die Neuen gesund, munter und vollzählig eingetroffen seien.
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»Freut mich. Danke schön!«
»Dann wäre noch eins . . . «
» J a ? « Die vielbeschäftigte Heimleiterin blickt kurz hoch.
»Es handelt sich um Luise Palffy«, beginnt Fräulein Ulrike zögernd. »Sie wartet draußen vor der Tür . . . «
»Herein mit dem Fratz!« Frau Muthesius muß lächeln.
»Was hat sie denn wieder ausgefressen?«
»Diesmal nichts«, sagt die Helferin. »Es ist bloß . . . « Sie öffnet behutsam die Tür und ruft: »Kommt herein, ihr beiden! Nur keine Angst!«
Nun treten die zwei kleinen Mädchen ins Zimmer. Weit voneinander entfernt bleiben sie stehen.
»Da brat' mir einer einen Storch!« murmelt die Köchin.
Während Frau Muthesius erstaunt auf die Kinder schaut, sagt Fräulein Ulrike: »Die Neue heißt Lotte Körner und kommt aus München.«
»Seid ihr miteinander verwandt?«
Die zwei Mädchen schütteln unmerklich, aber überzeugt die Köpfe.
»Sie haben einander bis zum heutigen Tage noch nie gesehen!« meint Fräulein Ulrike. »Seltsam, nicht?«
»Wieso seltsam?« fragt die Köchin. »Wie können s' einander denn g'sehn ham? Wo doch die eine aus München stammt und die andere aus Wien?«
Frau Muthesius sagt freundlich: »Zwei Mädchen, die einander so ähnlich schauen, werden sicher gute Freundinnen werden. Steht nicht so fremd beieinand', Kinder! Kommt, gebt euch die Hand!«
»Nein!« ruft Luise und verschränkt die Arme hinter dem Rücken.
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Frau Muthesius zuckt die Achseln, denkt nach und sagt abschließend: »Ihr könnt gehen.«
Luise rennt zur Tür, reißt sie auf und stürmt hinaus. Lotte macht einen Knicks und will langsam das Zimmer verlassen.
»Noch einen Augenblick, Lottchen«, meint die Leiterin. Sie schlägt ein großes Buch auf. »Ich kann gleich deinen Namen eintragen. Und wann und wo du geboren bist. Und wie deine Eltern heißen.«
»Ich hab' nur noch meine Mutti«, flüstert Lotte.
Frau Muthesius taucht den Federhalter ins Tintenfaß.
»Zuerst also, dein Geburtstag!«
Lotte geht den Korridor entlang, steigt die Treppen hinauf, öffnet eine Tür und steht im Schrankzimmer. Ihr Koffer ist noch nicht ausgepackt. Sie fängt an, ihre Kleider, Hemden, Schürzen und Strümpfe in den ihr zugewiesenen Schrank zu tun. Durchs offene Fenster dringt fernes Kinderlachen.