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»Es genügt doch, daß er eine Hand frei hat!« Sie lachen.

Dann sind Luises Zöpfe fertig, und nun schauen die Kinder mit brennenden Augen in den Spiegel. Die Gesichter strahlen wie Christbäume. Zwei völlig gleiche Mädchen blik-ken in den Spiegel hinein! Zwei völlig gleiche Mädchen blik-ken aus dem Spiegel heraus!

»Wie zwei Schwestern!« flüstert Lotte begeistert.

Der Mittagsgong ertönt.

»Das wird ein Spaß!« ruft Luise. »Komm!« Sie rennen aus dem Waschsaal. Und halten einander an den Händen.

Die anderen Kinder sitzen längst. Nur Luises und Lottes Schemel sind noch leer.

Da öffnet sich die Tür, und Lotte erscheint. Sie setzt sich, ohne zu zaudern, auf Luises Schemel.

»Du!« warnt Monika. »Das ist Luises Platz! Denk an dein Schienbein!«

Das Mädchen zuckt nur die Achseln und beginnt zu essen.

Die Tür öffnet sich wieder, und — ja, zum Donnerwetter!

— Lotte kommt leibhaftig noch einmal herein! Sie geht, ohne eine Miene zu verziehen, auf den letzten leeren Platz zu und setzt sich.

Die anderen Mädchen am Tisch sperren Mund und Nase auf. Jetzt schauen auch die Kinder von den Nebentischen herüber. Sie stehen auf und umdrängen die beiden Lotten.

Die Spannung löst sich erst, als die zwei zu lachen anfangen. Es dauert keine Minute, da hallt der Saal von viel-stimmigem Kindergelächter wider.

Frau Muthesius runzelt die Stirn. »Was ist denn das für ein Radau?« Sie steht auf und schreitet mit königlich stra-fenden Blicken, in den tollen Jubel hinein. Als sie aber die 25

zwei Zopfmädchen entdeckt, schmilzt ihr Zorn wie Schnee in der Sonne dahin. Belustigt fragt sie: »Also, welche von euch ist nun Luise Palffy und welche Lotte Körner?«

»Das verraten wir nicht!« sagt die eine Lotte zwinkernd, und wieder erklingt helles Gelächter.

» J a , um alles in der Welt!« ruft Frau Muthesius in komischer Verzweiflung. »Was sollen wir denn nun machen?«

»Vielleicht«, schlägt die zweite Lotte vergnügt vor, »vielleicht kriegt es doch jemand heraus?«

Steffie fuchtelt mit der Hand durch die Luft. Wie ein Mädchen, das dringend ein Gedicht aufsagen möchte. »Ich weiß etwas!« ruft sie. »Trude geht doch mit Luise in dieselbe Klasse! Trude muß raten!«

Trude schiebt sich zögernd in den Vordergrund des Geschehens, blickt musternd von der einen Lotte zur anderen und schüttelt ratlos den Kopf. Dann aber huscht ein spitz-bübisches Lächeln über ihr Gesicht. Sie zieht die ihr näher stehende Lotte tüchtig am Zopf — und im nächsten Augenblick klatscht eine Ohrfeige!

Sich die Backe haltend, ruft Trude begeistert: »Das war Luise!« (Womit die allgemeine Heiterkeit ihren Höhepunkt erreicht hat.)

Luise und Lotte haben die Erlaubnis erhalten, in den Ort zu gehen. Die »doppelte Lotte« soll unbedingt im Bild fest-gehalten werden. Um Fotos nach Hause zu schicken! Da wird man sich wundern!

Der Fotograf, ein gewisser Herr Eipeldauer, hat, nach der ersten Verblüffung, ganze Arbeit geleistet. Sechs verschiedene Aufnahmen hat er gemacht. In zehn Tagen sollen die Post-karten fertig sein.

Zu seiner Frau meint er, als die Mädchen fort sind:

»Weißt was, am Ende schick' ich ein paar Glanzabzüge an eine Illustrierte oder ein Magazin! Zeitschriften interessieren sich manchmal für so was!«

Draußen vor seinem Geschäft dröselt Luise ihre »dum-men« Zöpfe wieder auf, denn die brave Haartracht beein-trächtigt ihr Wohlbefinden. Und als sie ihre Locken wieder schütteln kann, kehrt auch ihr Temperament zurück. Sie lädt Lotte zu einem Glas Limonade ein. Lotte sträubt sich. Luise sagt energisch: »Du hast zu folgen! Mein Vater hat vor-gestern frisches Taschengeld geschickt. Auf geht's!«

Sie spazieren also zur Försterei hinaus, setzen sich in den Garten, trinken Limonade und plaudern. Es gibt ja so viel zu erzählen, zu fragen und zu beantworten, wenn zwei kleine Mädchen erst einmal Freundinnen geworden sind!

Die Hühner laufen pickend und gackernd zwischen den Gasthaustischen hin und her. Ein alter Jagdhund beschnuppert die beiden Gäste und ist mit ihrer Anwesenheit einverstanden.

»Ist dein Vater schon lange tot?« fragt Luise.

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»Ich weiß es nicht«, sagt Lotte. »Mutti spricht niemals von ihm — und fragen möcht' ich nicht gern.«

Luise nickt. »Ich kann mich an meine Mutti gar nicht mehr erinnern. Früher stand auf Vaters Flügel ein großes Bild von ihr. Einmal kam er dazu, wie ich es mir ansah.

Und am nächsten Tag war es fort. Er hat es wahrscheinlich im Schreibtisch eingeschlossen.«

Die Hühner gackern. Der Jagdhund döst. Ein kleines Mädchen, das keinen Vater, und ein kleines Mädchen, das keine Mutter mehr hat, trinken Limonade.

»Du bist doch auch neun Jahre alt?« fragt Luise.

» J a . « Lotte nickt. »Am 1 4 . Oktober werde ich zehn.«

Luise setzt sich kerzengerade. »Am 1 4 . Oktober?«

»Am 1 4 . Oktober.«

Luise beugt sich vor und flüstert: »Ich auch!«

Lotte wird steif wie eine Puppe.

Hinterm Haus kräht ein Hahn. Der Jagdhund schnappt nach einer Biene, die in seiner Nähe summt. Aus dem offenen Küchenfenster hört man die Förstersfrau singen.

Die beiden Kinder schauen einander wie hypnotisiert in die Augen. Lotte schluckt schwer und fragt, heiser vor Aufregung: »Und — wo bist du geboren?«

Luise erwidert leise und zögernd: » I n Linz an der Donau!«

Lotte fährt sich mit der Zunge über die trockenen Lippen.

»Ich auch!«

Es ist ganz still im Garten. Nur die Baumwipfel bewegen sich. Vielleicht hat das Schicksal, das eben über den Garten hinschwebte, sie mit seinen Flügeln gestreift?

Lotte sagt langsam: »Ich habe ein Foto von . . . von meiner Mutti im Schrank.«

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