"Unleash your creativity and unlock your potential with MsgBrains.Com - the innovative platform for nurturing your intellect." » » Das doppelte Lottchen - Erich Kästner read Deutsch Books A2 online for free

Add to favorite Das doppelte Lottchen - Erich Kästner read Deutsch Books A2 online for free

Select the language in which you want the text you are reading to be translated, then select the words you don't know with the cursor to get the translation above the selected word!




Go to page:
Text Size:

»Ich werd' sogar zurückwinken, Luiserl!«

Dann klingelt das Telefon. Am anderen Ende redet eine weibliche Stimme. Der Vater antwortet ziemlich einsilbig.

Aber wie er den Hörer aufgelegt hat, hat er es dann doch ziemlich eilig. Er muß noch ein paar Stunden allein sein, ja, und komponieren. Denn schließlich ist er nicht nur Kapellmeister, sondern auch Komponist. Und komponieren kann er nun einmal nicht zu Hause. Nein, dafür hat er sein Atelier in der Ringstraße. Also . . .

»Morgen mittag auf Wiedersehen im >Imperial<!«

»Und ich darf dir in der Oper zuwinken, Vati?«

»Natürlich, Kind. Warum denn nicht?«

Kuß auf die ernste Kinderstirn! Hut auf den kantigen Künstlerkopf!

56

Die Tür schlägt zu.

Das kleine Mädchen geht langsam zum Fenster und denkt bekümmert über das Leben nach. Die Mutter darf nicht zu Hause arbeiten. Der Vater kann nicht zu Hause arbeiten.

Man hat's schwer mit den Eltern!

Aber da sie, nicht zuletzt dank der mütterlichen Erziehung, ein resolutes und praktisches Persönchen ist, gibt sie sehr bald das Nachdenken auf, bewaffnet sich mit ihrem Oktavheft und beginnt an Hand von Luises Angaben syste-matisch, Zimmer für Zimmer, die schöne Altwiener Wohnung für sich zu entdecken.

Nachdem sie die Forschungsreise hinter sich hat, setzt sie sich aus alter Gewohnheit an den Küchentisch und rechnet in dem herumliegenden Haushaltsbuch der Reihe nach die Ausgabenspalten durch.

Dabei fällt ihr zweierlei auf. Erstens hat sich Resi, die Haushälterin, auf fast jeder Seite verrechnet. Und zweitens hat sie das jedesmal zu ihren Gunsten getan!

» J a , was soll denn das heißen?« Resi steht in der Küchen-tür.

»Ich hab' in deinem Buch nachgerechnet«, sagt Lotte leise, aber bestimmt.

»Was sind denn das für neue Moden?« fragt Resi böse.

»Rechne du in der Schule, wo's hingehört!«

»Ich werd' jetzt immer bei dir nachrechnen«, erklärt das Kind sanft und hüpft vom Küchenstuhl. »Wir lernen in der Schule, aber nicht für die Schule, hat die Lehrerin gesagt.«

Damit stolziert sie aus der Tür.

Resi starrt verblüfft hinterdrein.

57

Wertgeschätzte kleinere und größere Leserinnen und Leser!

Jetzt wird es, glaube und fürchte ich, allmählich Zeit, daß ich euch ein wenig von Luises und Lottes Eltern berichte, vor allem darüber, wie es seinerzeit zu der Scheidung zwischen ihnen kam. Sollte euch an dieser Stelle des Buchs ein Erwachsener über die Schulter blicken und rufen: »Dieser Mensch! Wie kann er nur, um alles in der Welt, solche Sachen den Kindern erzählen!« dann lest ihm, bitte, das Fol-gende vor:

»Als Shirley Temple ein kleines Mädchen von sieben, acht Jahren war, war sie doch schon ein auf der ganzen Erde berühmter Filmstar, und die Firmen verdienten viele Millionen Dollars mit ihr. Wenn Shirley aber mit ihrer Mutter in ein Kino gehen wollte, um sich einen Shirley-Temple-Film an-58

zuschauen, ließ man sie nicht hinein. Sie war noch zu jung.

Es war verboten. Sie durfte nur Filme drehen. Das war er-laubt. Dafür war sie alt genug.«

Wenn der Erwachsene, der euch über die Schulter guckt, das Beispiel von Shirley Temple und den Zusammenhang mit Luises und Lottes Eltern und ihrer Scheidung nicht verstanden hat, dann richtet ihm einen schönen Gruß von mir aus, und ich ließe ihm sagen, es gäbe auf der Welt sehr viele geschiedene Eltern, und es gäbe sehr viele Kinder, die darunter litten! Und es gäbe sehr viele andere Kinder, die darunter litten, daß die Eltern sich nicht scheiden ließen! Wenn man aber den Kindern zumutete, unter diesen Zuständen zu leiden, dann sei es doch wohl allzu zartfühlend und außerdem verkehrt, nicht mit ihnen darüber in verständiger und verständlicher Form zu sprechen!

Also, der Herr Kapellmeister Ludwig Palffy ist ein Künstler, und Künstler sind bekanntlich seltsame Lebewesen.

Er trägt zwar keinen Kalabreser und keine flatternde Kra-watte, im Gegenteil, er ist ganz manierlich gekleidet, sauber und beinahe elegant.

Aber sein Innenleben! Das ist kompliziert! Oh! Sein Innenleben, das hat es in sich! Wenn er einen musikalischen Einfall hat, muß er, um ihn zu notieren und kompositorisch auszugestalten, auf der Stelle allein sein. Und so einen Einfall hat er womöglich auf einer großen Gesellschaft! »Wo ist denn Palffy hin?« fragt dann der Hausherr. Und irgend jemand antwortet: »Es wird ihm wohl wieder etwas ein-gefallen sein!« Der Hausherr lächelt sauersüß, bei sich aber denkt er: >Flegel! Man kann doch nicht bei jedem Einfall weglaufen!< Doch der Kapellmeister Palffy, der kann!

59

Der lief auch aus der eigenen Wohnung fort, als er noch verheiratet war, damals, blutjung, verliebt, ehrgeizig, selig und verrückt in einem! Und als dann gar die kleinen Zwillinge in der Wohnung Tag und Nacht krähten und die Wiener Philharmoniker sein Erstes Klavierkonzert uraufführten, da ließ er einfach den Flügel abholen und in ein Atelier am Ring bringen, das er in künstlerischer Verzweiflung gemietet hatte!

Und da er damals sehr viele Einfälle hatte, kam er nur noch sehr selten zu seiner Frau und den brüllenden Zwillingen.

Luiselotte Palffy, geb. Körner, kaum zwanzig Jahre alt, fand das nicht sehr fidel. Und als ihr zu den kaum zwanzig-jährigen Ohren kam, daß der Herr Gemahl in seinem Atelier nicht nur Noten malte, sondern auch mit Opern-sängerinnen, die ihn sehr nett fanden, Gesangsrollen stu-dierte, da reichte sie empört die Scheidung ein!

Nun war der um seine schöpferische Einsamkeit so besorgte Herr Kapellmeister fein heraus. Nun konnte er so viel allein sein, wie er wollte. Den ihm nach der Scheidung verbliebenen Zwilling versorgte in der Rotenturmstraße ein tüchtiges Kindermädchen. Um ihn selber, im Atelier am Ring, küm-merte sich, wie er sich's so sehnlich gewünscht hatte, kein Aas!

Das war ihm nun mit einem Male auch nicht recht. O diese Künstler! Sie wissen wirklich nicht, was sie wollen! Immerhin, er komponierte und dirigierte fleißig und wurde von Jahr zu Jahr berühmter. Außerdem konnte er ja, wenn ihn der Katzenjammer packte, in die andere Behausung gehen und mit Luise, dem Töchterchen, spielen.

60

Sooft in München ein Konzert war, bei dem neue Werke von Ludwig Palffy aufgeführt wurden, kaufte sich Luiselotte Körner ein Billett, saß dann mit gesenktem Kopf in einer der letzten billigen Reihen und entnahm der Musik ihres geschiedenen Mannes, daß er kein glücklicher Mensch geworden war. Trotz seiner Erfolge. Und trotz seiner Einsamkeit.

61

SECHSTES K A P I T E L

Wo ist das Geschäft der Frau Wagenthaler? — Aber! Kochenverlernt man doch nicht! — Lotte winkt in der Oper —

Es regnet Pralinen — Die erste Nacht in München und dieerste Nacht in Wien — Der merkwürdige Traum, worinFräulein Gerlach als Hexe auftritt — Eltern dürfen alles —

Vergißmeinnicht München 18!

Frau Luiselotte Körner hat ihre Tochter gerade noch in die winzige Wohnung in der Max-Emanuel-Straße bringen können. Dann muß sie, sehr ungern und sehr schnell, wieder in den Verlag fahren. Arbeit wartet auf sie. Und Arbeit darf nicht warten.

Luise — ach nein! — Lotte hat sich studienhalber kurz in der Wohnung umgesehen. Dann hat sie die Schlüssel, das Portemonnaie und ein Netz genommen. Und nun macht sie Einkäufe.

Beim Metzgermeister Huber an der Ecke Prinz-Eugen-Straße ersteht sie ein halbes Pfund Rindfleisch, Querrippe, schön durchwachsen, mit etwas Niere und ein paar K n o -

chen. Und jetzt sucht sie krampfhaft das Viktualiengeschäft der Frau Wagenthaler, um Suppengrün, Nudeln und Salz zu besorgen.

Und Anni Habersetzer wundert sich nicht wenig, daß ihre Mitschülerin Lotte Körner mitten auf der Straße steht und angestrengt in einem Oktavheft blättert.

Are sens