München. Hauptbahnhof, Bahnsteig 16. Die Lokomotive steht still und ringt nach Luft. In dem Strom der Reisenden haben sich Inseln des Wiedersehens gebildet. Kleine Mädchen umhalsen ihre strahlenden Eltern. Man vergißt vor lauter selig gerührtem Schwadronieren, daß man ja erst auf dem Bahnhof und noch gar nicht daheim ist!
Allmählich wird der Bahnsteig aber doch leer.
Und zum Schluß steht nur noch ein einziges Kind da, ein Kind mit Zöpfen und Zopfschleifen. Bis gestern trug es Locken. Bis gestern hieß es Luise Palffy.
Das kleine Mädchen hockt sich schließlich auf den Koffer und beißt die Zähne fest zusammen. Im Bahnhof einer fremden Stadt auf seine Mutter zu warten, die man nur als Fotografie kennt und die nicht kommt — das ist kein Kinder-spiel!
Frau Luiselotte Palffy, geborene Körner, die sich seit sechs-einhalb Jahren (seit ihrer Scheidung) wieder Luiselotte Körner nennt, ist im Verlag der »Münchner Illustrierten«, wo sie als Bildredakteurin angestellt ist, durch neu eingetroffenes Material für die aktuellen Seiten aufgehalten worden.
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Frau Luiselotte P a l f f y
Endlich hat sie ein Taxi ergattert. Endlich hat sie eine Bahnsteigkarte erkämpft. Endlich hat sie im Dauerlauf Bahnsteig 16 erreicht.
Der Bahnsteig ist leer.
Nein! Ganz, ganz hinten sitzt ein Kind auf einem Koffer! Die junge Frau rast wie die Feuerwehr den Bahnsteig entlang!
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Einem kleinen Mädchen, das auf einem Koffer hockt, zittern die Knie. Ein ungeahntes Gefühl ergreift das Kinderherz. Diese junge, glückstrahlende, diese wirkliche, wir-belnde, lebendige Frau ist ja die Mutter!
»Mutti!«
Luise stürzt der Frau entgegen und springt ihr, die Arme hochwerfend, an den Hals.
»Mein Hausmütterchen«, flüstert die junge Frau unter Tränen. »Endlich, endlich hab' ich dich wieder!«
Der kleine Kindermund küßt leidenschaftlich ihr weiches Gesicht, ihre zärtlichen Augen, ihre Lippen, ihr Haar, ihr schickes Hütchen. J a , das Hütchen auch!
Sowohl im Restaurant, der Schwemme, wie in der Küche des Hotels »Imperial« in Wien herrscht wohlwollende Aufregung. Der Liebling der Stammgäste und der Angestellten, die Tochter des Opernkapellmeisters Palffy, ist wieder da!
Lotte, pardon, Luise, sitzt, wie es alle gewohnt sind, auf dem angestammten Stuhl mit den zwei hohen Kissen und ißt mit Todesverachtung gefüllte Palatschinken.
Die Stammgäste kommen, einer nach dem andern, zum Tisch, streicheln dem kleinen Mädchen über die Locken, klopfen ihm zärtlich auf die Schulter, fragen, wie es ihm im Ferienheim gefallen hat, meinen, in Wien beim P a p a sei's aber doch wohl am schönsten, legen allerlei Geschenke auf den Tisch: Zuckerln, Schokolade, Pralinen, Buntstifte, ja einer holt sogar ein kleines, altmodisches Nähzeug aus der Tasche und sagt verlegen, es sei noch von seiner Großmutter selig — dann nicken sie dem Kapellmeister zu und wandern an ihre Tische zurück. Heute wird ihnen das Essen endlich wieder richtig schmecken, den einsamen Onkeln!
Am besten schmeckt's freilich dem Herrn Kapellmeister selber. Ihm, der sich immer aufs Einsamseinmüssen aller
»wahren Künstlernaturen« so viel zugute getan und der 51
seine verflossene Ehe stets für einen Fehltritt ins Bürger-liche gehalten hat, ihm ist heute höchst »unkünstlerisch«
warm und familiär ums Herz. Und als die Tochter schüchtern lächelnd seine Hand ergreift, als habe sie Angst, der Vater könnte ihr sonst womöglich davonlaufen, da hat er wahrhaftig, obwohl er Beinfleisch und keineswegs Knödel verspeist, einen Kloß im Hals!
Ach, und da kommt der Kellner Franz schon wieder mit einer neuen Palatschinke angewedelt!
Lotte schüttelt die Locken. »Ich kann nimmer, Herr Franz!«
»Aber, Luiserl!« meint der Kellner vorwurfsvoll. »Es ist doch erst die fünfte!«
Nachdem der Herr Franz leicht bekümmert mitsamt der 52
Hofrat Strobl und Peperl
fünften Palatschinke in die Küche zurückgesegelt ist, nimmt sich Lotte ein Herz und sagt: »Weißt du was, Vati — ab morgen esse ich immer das, was du ißt!«
»Nanu!« ruft der Herr Kapellmeister. »Und wenn ich nun Geselchtes esse? Das kannst du doch nicht ausstehen! Da wird dir doch übel!«
»Wenn du Geselchtes ißt«, meint sie zerknirscht, »kann ich ja wieder Palatschinken essen.« (Es ist halt doch nicht ganz so einfach, seine eigene Schwester zu sein!) Und nun?
Und nun erscheint der Hofrat Strobl mit Peperl. Peperl ist ein Hund. »Schau, Peperl!« sagt der Herr Hofrat lächelnd, »wer wieder da ist! Geh hin, und sag dem Luiserl grüß Gott!«
Peperl wedelt mit dem Schwanz und trabt eifrig an Palffys Tisch, um dem Luiserl, seiner alten Freundin, grüß Gott zu sagen.
J a , Kuchen, nein, Hundekuchen! Als Peperl am Tisch angekommen ist, beschnuppert er das kleine Mädchen und zieht sich, ohne grüß Gott, eiligst zum Herrn Hofrat zurück.
»So ein blödes Viech!« bemerkt dieser ungnädig. »Erkennt seine beste Freundin nicht wieder! Bloß weil sie ein paar Wochen am Land war! Und da reden die Leut immer ganz g'schwolln vom untrüglichen Instinkt der Tiere!«
Lottchen aber denkt bei sich: >Ein Glück, daß die Hofräte nicht so gescheit sind wie der Peperl!< Der Herr Kapellmeister und seine Tochter sind, mit den Geschenken der Stammgäste, dem Koffer, der Puppe und 54