»Hinter uns habe ich sieben gezählt«, antwortete Atréju, »aber sie können nicht vor morgen früh hier sein, vorausgesetzt, daß sie die Nacht durchreiten.«
»Sind sie bewaffnet?« wollte Hýsbald wissen.
»Das konnte ich nicht feststellen«, sagte Atréju, »aber es kommen noch mehr aus anderen Richtungen. Sechs habe ich im Westen gesehen, neun im Osten und zwölf oder dreizehn kommen uns entgegen.«
»Wir werden abwarten, was sie wollen«, meinte Hýdorn.
»Fünfunddreißig oder sechsunddreißig Leute sind nicht mal für uns drei gefährlich, wieviel weniger für Herrn Bastian und Atréju.«
In dieser Nacht band Bastian das Schwert Sikánda nicht ab, wie er es bisher meist getan hatte. Er schlief mit dem Griff in der Faust. Im Traum sah er Mondenkinds Gesicht vor sich. Sie lächelte ihm verheißungsvoll zu.
Mehr wußte er beim Aufwachen nicht mehr, aber der Traum bestärkte ihn in seiner Hoffnung, sie wiederzusehen.
Als er einen Blick aus der Tür der Blockhütte warf, sah er draußen im Morgennebel, der aus dem Fluß aufgestiegen war, undeutlich sieben Gestalten stehen. Zwei von ihnen waren zu Fuß, die anderen saßen auf verschiedenartigen Reittieren. Bastian weckte leise seine Gefährten.
Die Herren gürteten sich ihre Schwerter um, dann traten sie alle gemeinsam aus der Hütte. Als die draußen wartenden Gestalten Bastians ansichtig wurden, stiegen die Reiter ab, und dann ließen sich alle sieben gleichzeitig auf das linke Knie nieder. Sie neigten ihre Köpfe und riefen:
»Heil und Gruß dem Retter Phantásiens Bastian Balthasar Bux!«
Die Ankömmlinge sahen verwunderlich genug aus. Einer von den zweien, die unberitten waren, hatte einen ungewöhnlich langen Hals, auf dem ein Kopf mit vier Gesichtern saß, nach jeder Richtung eines. Das erste hatte einen heiteren Ausdruck, das zweite einen zornigen, das dritte einen traurigen und das vierte einen schläfrigen. Jedes der Gesichter war starr und unveränderlich, doch konnte er jeweils dasjenige Gesicht nach vorne drehen, das seinem augenblicklichen Gemütszustand entsprach. Es handelte sich bei ihm um einen Vier Viertel Troll, mancherorts auch Temperamentnik genannt.
Der andere Läufer war, was man in Phantasien einen Kephalopoden oder Kopffüßler nennt, ein Wesen nämlich, das nur einen Kopf besitzt, der von sehr langen und dünnen Beinen getragen wird, ohne Rumpf und Hände.
Kopffüßler sind ständig auf Wanderschaft und haben keinen festen Wohnort. Meistens ziehen sie in Scharen zu vielen Hundert herum, selten trifft man einen Einzelgänger. Sie ernähren sich von Kräutern. Dieser hier, der nun vor Bastian kniete, sah jung und rotbackig aus. Drei andere Gestalten, die auf Pferden, kaum größer als Ziegen, saßen, waren ein Gnom, ein Schattenschelm und ein Wildweibchen. Der Gnom hatte einen goldenen Reif um die Stirn und war offensichtlich ein Fürst. Der Schattenschelm war schwer zu erkennen, denn er bestand eigentlich nur aus einem Schatten, den niemand warf. Das Wildweibchen hatte ein katzenhaftes Gesicht und lange goldblonde Locken, die es wie ein Mantel einhüllten. Sein ganzer Leib war mit einem ebenso goldblonden zotteligen Fell bedeckt. Es war nicht größer als ein fünfjähriges Kind.
Ein anderer Besucher, der auf einem Ochsen ritt, stammte aus dem Land der Sassafranier, die alt geboren werden und sterben, wenn sie Säuglinge geworden sind. Dieser hier hatte einen langen weißen Bart, eine Glatze und ein Gesicht voller Runzeln, er war also - nach sassafranischen Verhältnissen beurteilt - sehr jung, etwa in Bastians Alter.
Ein blauer Dschinn war auf einem Kamel gekommen. Er war lang und dünn und trug einen riesenhaften Turban. Seine Gestalt war menschlich,
wenn auch sein nackter, muskelstrotzender Oberkörper aussah, als bestünde er aus einem glänzenden blauen Metall. Statt Nase und Mund hatte er einen mächtigen, gekrümmten Adlerschnabel im Gesicht.
»Wer seid ihr und was wollt ihr?« fragte Hýkrion ein wenig barsch. Er schien trotz der zeremoniellen Begrüßung nicht ganz von der Harmlosigkeit dieser Besucher überzeugt und hatte als einziger den Griff seines Schwertes noch nicht losgelassen.
Der Vier Viertel Troll, der bisher sein schläfriges Gesicht gezeigt hatte, drehte nun sein heiteres nach vorn, und sagte zu Bastian gewendet, wobei er Hýkrion überhaupt nicht beachtete:
»Herr, wir sind Fürsten aus sehr verschiedenen Ländern Phantásiens, jeder von uns hat sich aufgemacht, dich zu begrüßen und deine Hilfe zu erbitten. Die Nachricht von deiner Anwesenheit ist von Land zu Land geflogen, der Wind und die Wolken nennen deinen Namen, die Wellen der Meere verkünden deinen Ruhm mit ihrem Rauschen, und jedes Bächlein erzählt von deiner Macht.«
Bastian warf Atréju einen Blick zu, aber der sah ernst und fast streng den Troll an. Nicht das kleinste Lächeln spielte um seine Lippen.
»Wir wissen«, nahm nun der blaue Dschinn das Wort, und seine Stimme klang wie der scharfe Schrei eines Adlers, »daß du den Nachtwald Perelín geschaffen hast und die Farbenwüste Goab. Wir wissen, daß du vom Feuer des Bunten Todes gegessen und getrunken und darin gebadet hast, was niemand sonst in Phantasien lebend bestanden hätte. Wir wissen, daß du den Tempel der Tausend Türen durchwandert hast, und wir wissen, was in der Silberstadt Amargánth geschah. Wir wissen, Herr, daß du alles vermagst. Wenn du ein Wort sprichst, so ist da, was du willst. Darum laden wir dich ein, zu uns zu kommen und uns der Gnade einer eigenen Geschichte teilhaftig werden zu lassen. Denn wir alle haben noch keine.«
Bastian überlegte, dann schüttelte er den Kopf. »Was ihr von mir erwartet, kann ich jetzt noch nicht tun. Später werde ich euch allen helfen. Aber zuerst muß ich die Kindliche Kaiserin treffen. Darum helft mir, den Elfenbeinturm zu finden!«
Die Wesen schienen keineswegs enttäuscht. Nach kurzer Beratung untereinander, erklärten sie sich alle höchst erfreut über Bastians Vorschlag, ihn zu begleiten. Und kurze Zeit später hatte sich der Zug, der nun schon
einer kleinen Karawane glich, in Bewegung gesetzt. Den ganzen Tag über stießen neue Ankömmlinge zu ihnen. Nicht nurdie am Vortage von Atréju angekündigten Sendboten tauchten von allen Seiten auf, sondern noch viel mehr. Man sah bocksbeinige Faune und riesige Nachtalben, Elfen und Kobolde, Käferreiter und Dreibeiner, einen menschengroßen Hahn in Stulpenstiefeln und einen aufrechtgehenden Hirsch mit goldenem Geweih, der eine Art Frack trug. Überhaupt gab es unter den Neuankömmlingen eine Menge Wesen, die keine Ähnlichkeit mit menschlichen Gestalten hatten. Da waren zum Beispiel kupferne Ameisen mit Helmen, bizarr geformte Wanderfelsen, Flötentiere, die auf ihren langen Schnäbeln musizierten, und auch drei sogenannte Pfützler, die sich auf recht erstaunliche Art fortbewegten, indem sie -wenn man so sagen kann - bei jedem Schritt zu einer Pfütze zerflossen und ihre Gestalt ein Stück weiter wieder neu zusammenzogen. Das merkwürdigste der neuangekommenen Wesen war jedoch vielleicht ein Zwie, dessen Vorder-und Hinterteil unabhängig voneinander herumlaufen konnte. Er hatte entfernte Ähnlichkeit mit einem Nilpferd, nur daß er rot und weiß gestreift war. Insgesamt waren es inzwischen schon an die hundert. Und alle waren gekommen, um Bastian, den Retter Phantásiens, zu begrüßen und ihn um eine eigene Geschichte zu bitten. Aber die ersten sieben hatten den neu Hinzugekommenen erklärt, daß die Reise zuerst zum Elfenbeinturm gehe, und alle waren bereit, mitzuziehen.
Hýkrion, Hýsbald und Hýdorn ritten mit Bastian an der Spitze des nunmehr schon ziemlich langen Zuges.
Gegen Abend erreichten sie den Wasserfall. Und bei Einbruch der Nacht hatte der Zug die höher gelegene Ebene verlassen, war einen geschlängelten Bergpfad abwärts gezogen und befand sich nun in einem Wald aus baumgroßen Orchideen. Es waren gefleckte und ein wenig beunruhigend aussehende Riesenblüten. Deshalb wurde beschlossen, für alle Fälle Wachen über Nacht aufzustellen, als man das Lager aufschlug.
Bastian und Atréju hatten Moos, das überall reichlich wuchs, zusammengetragen und sich daraus ein weiches Eager gemacht. Fuchur legte sich in einem Ring um die beiden Freunde herum, den Kopf nach innen, so daß sie für sich und geschützt waren wie in einer großen Strandburg. Die Luft war warm und von einem eigentümlichen Duft erfüllt,
der den Orchideen entströmte und nicht sehr angenehm war. Es lag etwas in ihm, das Unheil verkündete.
20. Die sehende Hand
Tautropfen funkelten an den Blüten und Blättern der Orchideen in der ersten Morgensonne, als die Karawane sich erneut in Bewegung setzte. In der Nacht hatte es keine Zwischenfälle gegeben, außer daß abermals neue Abgesandte zu den bisherigen hinzugekommen waren, so daß die ganze Schar nun schon an die dreihundert ausmachte. Es war wahrhaftig ein sehenswertes Schauspiel, den Zug dieser so verschiedenartigen Wesen zu beobachten. Je weiter sie in den Orchideenwald eindrangen, desto unglaublichere Formen und Farben nahmen die Blüten an. Und bald stellten die Herren Hýkrion, Hýsbald und Hýdorn fest, daß der beunruhigende Eindruck, der sie dazu veranlaßt hatte, Wachen aufzustellen, nicht ganz unbegründet gewesen war. Viele dieser Gewächse waren nämlich fleischfressende Pflanzen, groß genug, ein ganzes Kalb zu verschlingen.
Zwar bewegten sie sich nicht von sich aus insofern waren die Wachen unnötig gewesen - aber wenn man sie berührte, schnappten sie zu wie Schlageisen. Und ein paarmal mußten die Herren von ihren Schwertern Gebrauch machen, um den Arm oder Fuß eines Reisegenossen oder seines Reittiers zu befreien, indem sie die ganze Blüte abhieben und in Stücke schnitten.
Bastian, der auf Jicha ritt, war ständig dicht umdrängt von allen möglichen phantasischen Wesen, die sich ihm bemerkbar zu machen versuchten oder wenigstens einen Blick auf ihn werfen wollten. Aber Bastian ritt schweigend und mit verschlossenem Gesicht. Ein neuer Wunsch war in ihm erwacht, und zum ersten Mal war es einer, der ihn unnahbar und sogar düster erscheinen ließ.
Was ihn an Atréjus und Fuchurs Verhalten am meisten verdroß, trotz der Versöhnung, war die unbezweifelbare Tatsache, daß sie ihn wie ein unselbständiges Kind behandelten, für das sie sich verantwortlich fühlten und das sie gängeln und anleiten mußten. Wenn er es sich recht überlegte,
dann war es schon vom ersten Tag ihres Zusammenseins an so gewesen.
Wie kamen sie eigentlich dazu? Offenbar fühlten sie sich ihm aus irgendeinem Grund überlegen auch wenn sie es dabei gut mit ihm meinten.
Ohne Zweifel hielten Atréju und Fuchur ihn für einen harmlosen, schutzbedürftigen Jungen. Und das paßte ihm nicht, nein, das paßte ihm ganz und gar nicht! Er war nicht harmlos! Das sollten sie noch sehen! Er wollte gefährlich sein, gefährlich und gefürchtet! Einer, vor dem jeder sich in acht nehmen mußte - auch Fuchur und Atréju.Der blaue Dschinn - er hieß übrigens Illuán - bahnte sich einen Weg durch das Gedränge rings um Bastian und verneigte sich mit auf der Brust überkreuzten Armen. Bastian hielt an.
»Was gibt es, Illuán? Rede!«
»Herr«, sagte der Dschinn mit seiner Adlerstimme, »ich habe mich unter unseren neu hinzugekommenen Weggenossen etwas umgehört. Einige von ihnen behaupten, diese Gegend zu kennen und zu wissen, worauf wir uns zubewegen. Sie alle schlottern vor Angst, Herr.« »Weshalb? Was ist es für eine Gegend?«
»Dieser Wald aus fleischfressenden Orchideen, Herr, heißt der Garten Oglais und gehört zum Zauberschloß Hórok, das auch die Sehende Hand genannt wird. Dort wohnt die mächtigste und schlimmste Magierin Phantásiens. Ihr Name ist Xayíde.«
»Es ist gut«, antwortete Bastian, »sage den Ängstlichen, daß sie sich beruhigen sollen. Ich bin bei ihnen.«