Sie warf sich den Zaimph um die Schultern, raffte hastig ihren Schleier, ihren Mantel und ihr Schultertuch auf und rief:
»Ich will hin!«
Damit schlüpfte sie hinaus und verschwand.
Zunächst schritt sie durch das Dunkel, ohne jemandem zu begegnen, denn alles eilte zur Brandstätte. Der Lärm ward immer heftiger. Große Flammen röteten den Himmel hinter ihr. Der lange Wall versperrte ihr den Weg.
Ziellos wandte sie sich nach rechts und nach links, suchte eine Leiter, einen Strick, eine Treppe, irgend etwas, was ihr hinaufhelfen könne. Sie hatte Furcht vor Gisgo, und es kam ihr vor, als ob Schreie und Schritte sie verfolgten. Der Morgen dämmerte. Da gewahrte sie einen Fußsteig, der schräg an der Schanze hinaufführte. Sie nahm den Saum ihres Gewandes, der sie behinderte, zwischen die Zähne und gelangte mit drei Sprüngen auf den Wall hinauf.
Ein lauter Ruf erklang unter ihr im Dunkeln, der nämliche, den sie jüngst am Fuße der Galeerentreppe vernommen hatte. Sie beugte sich vor und erkannte den Diener Schahabarims mit den beiden Pferden, die er an den Zügeln hielt.
Er war die ganze Nacht zwischen den beiden Lagern hin und her gestreift. Schließlich
war er, durch die Feuersbrunst beunruhigt, an den Wall herangegangen und hatte versucht, zu erspähen, was in Mathos Lager vorgehe. Da er wußte, daß diese Stelle Mathos Zelt am nächsten lag, so hatte er sie, dem Gebote des Priesters getreu, nicht wieder verlassen.
Er stellte sich aufrecht auf eins der Pferde. Salambo glitt vom Walle zu ihm hinunter.
Dann umritten sie galoppierend das punische Lager, um einen Eingang zu finden.
Matho war in sein Zelt zurückgekehrt. Die qualmende Lampe erhellte es schwach. Er glaubte, Salambo schliefe. Behutsam tastete er mit der Hand über das Löwenfell auf dem Palmenlager. Er rief. Keine Antwort. Da riß er heftig ein Stück aus der Leinwand des Zeltes, damit das Licht eindringe: der Zaimph war verschwunden.
Der Erdboden erbebte unter zahllosen Tritten. Lautes Geschrei, Pferdegewieher und Waffengeklirr scholl durch die Luft. Trompetensignale riefen zu den Alarmplätzen. Wie ein Orkan wirbelte es um den Rebellenführer her. In maßloser Wut griff er nach seinen Waffen nud stürzte hinaus.
In langen Kolonnen stiegen die Barbaren den Hang hinab, während ihnen die punischen
Karrees in schwerfälligem, taktmäßigem Marsche entgegenrückten. Der Nebel war eben von den ersten Sonnenstrahlen zerrissen worden.
Kleine tanzende, allmählich höher fliegende Wölkchen flatterten um die Standarten, Helme und Lanzenspitzen, die mehr und mehr sichtbar wurden. Bei der raschen Bewegung der Truppenmassen schien es, als ob sich ganze Teile des Bodens, die noch im Schatten lagen, mit einem Male verschöben. An andern Stellen war es, als ob sich Gießbäche kreuzten, aus denen unbewegliche stachlige Massen herausragten. Matho konnte die Hauptleute, die Soldaten, die Herolde erkennen, sogar die Troßknechte auf ihren Eseln. Mit einem Male sah er, wie Naravas seine bisherige Stellung, in der er die Flanke des Fußvolks decken sollte, verließ und nach rechts abschwenkte, als wolle er sich von den Puniern in seine eigne Flanke fallen lassen.
Seine Reiter galoppierten über die Elefanten hinaus, die nunmehr langsamer vorrückten.
Die Pferde der Numidier verstärkten ihr Tempo. Mit weit vorgestreckten zügellosen Hälsen stürmten sie in so wilder Fahrt dahin, daß ihre Bäuche die Erde zu berühren schienen. Plötzlich ritt Naravas geradenwegs auf eine der feindlichen Patrouillen los, warf Schwert, Lanze und Wurfspeere von sich und verschwand alsbald unter den Karthagern.
Als der Numidierfürst in das Zelt Hamilkars trat, wies er rückwärts auf seine Schwadronen, die Halt gemacht hatten, und sagte:
»Barkas! Ich führe sie dir zu! Sie sind dein!«
Dann warf er sich zum Zeichen der Unterwürfigkeit vor Hamilkar nieder, und um ihm
seine Treue zu beweisen, erinnerte er ihn an alle Einzelheiten seines Verhaltens seit dem Ausbruche des Krieges.
Nach seiner Behauptung hatte er die Belagerung von Karthago und die
Niedermetzelung der Gefangenen verhindert. Ferner hätte er den Sieg über Hanno nach der Niederlage bei Utika nicht ausgenutzt. Was die tyrischen Städte beträfe, so befänden sie sich ja an den Grenzen seines Reiches. Endlich hätte er sich an der Schlacht am Makar nicht beteiligt, ja, sich absichtlich entfernt, um nicht gegen den Marschall kämpfen zu müssen.
In Wahrheit hatte Naravas sein Reich durch Einfälle in die punischen Provinzen vergrößern wollen und daher die Söldner je nach den Siegesaussichten bald unterstützt, bald im Stiche gelassen. Weil er jetzt aber einsah, daß Hamilkar am Ende doch
triumphieren würde, ging er zu ihm über. Vielleicht lag seinem Abfall auch persönlicher Groll gegen Matho zugrunde, sei es wegen des Oberbefehls oder wegen seiner alten Liebe.
Der Suffet hörte ihn an, ohne ihn zu unterbrechen. Der Mann, der sich derart in ein Heer hineinwagte, dessen Rache er gewärtig sein mußte, war kein zu verachtender
Bundesgenosse. Sofort erkannte Hamilkar die Nützlichkeit des Bündnisses mit ihm für seine großen Pläne. Mit Hilfe der Numidier vermochte er die Libyer in Schach zu halten.
Dann konnte er die westlichen Völker bei der Eroberung Spaniens mit verwenden.
Ohne ihn zu fragen, warum er nicht früher gekommen sei, und ohne eine seiner Lügen
zu widerlegen, küßte er Naravas und umarmte ihn dreimal.
Um eine Entscheidung herbeizuführen, lediglich aus Verzweiflung, hatte er das Lager der Libyer in Brand gesteckt. Die Numidier kamen ihm wie eine von den Göttern gesandte Hilfe. Er verbarg aber seine Freude und erwiderte:
»Mögen die Götter dir gnädig sein! Ich weiß nicht, was die Republik für dich tun wird, aber Hamilkar ist kein Undankbarer!«
Das Getöse nahm zu. Stabsoffiziere traten ein. Während Hamilkar seine Rüstung anlegte, sagte er:
»Rasch! Mache Kehrt! Treibe mit deinen Reitern ihr Fußvolk zwischen deine und meine Elefanten! Vorwärts! Vernichte sie!«
Naravas wollte hinausstürzen, da erschien Salambo. Sie sprang von ihrem Pferde, öffnete ihren weiten Mantel, breitete die Arme aus und entfaltete den Zaimph.
Vom Lederzelt aus, das an den Ecken hochgeschlagen war, übersah man den ganzen Umkreis des von Soldaten erfüllten Gebirgskessels, und da Salambo gleichsam im Mittelpunkte stand, so erblickte man sie von allen Seiten. Ein ungeheurer Lärm brach aus, ein langer Triumph- und Hoffuungsschrei. Die vorrückenden Kolonnen standen still.
Sterbende stützten sich auf ihre Ellbogen auf, schauten hin und segneten sie. Auch alle Barbaren wußten nun, daß sie den Zaimph zurückgeholt hatte. Sie sahen Salambo von ferne oder glaubten sie zu sehen. Von neuem ertönten Rufe, Schreie der Wut und der Rache, dem Jubel der Karthager zum Trotz. So stampften und brüllten fünf Heere aus ihren an den Hängen gestaffelten Stellungen.
Keines Wortes mächtig, dankte Hamilkar mit einem Nicken des Hauptes. Seine Augen
richteten sich bald auf den Zaimph, bald auf seine Tochter. Da bemerkte er, daß ihre Fußkette zerrissen war. Er schauderte zusammen, von furchtbarem Argwohn gepackt.
Doch rasch nahm er seine gleichgültige Miene wieder an und blickte Naravas, ohne den Kopf zu wenden, von der Seite an.