Sinnestäuschungen traten auf. Manche suchten an der Bergwand nach einer Tür, um zu entfliehen, und wollten durch den Fels hindurch. Andre wähnten sich während eines Sturmes zu Schiff und erteilten Befehle an die Matrosen. Andre wieder wichen entsetzt zurück, da sie in den Wolken punische Heerscharen erblickten. Noch andre glaubten bei einem Feste zu sein. Sie sangen.
Viele wiederholten infolge einer seltsamen Geistesstörung immer dasselbe Wort oder dieselbe Gebärde. Wenn sie dann den Kopf erhoben und einander anschauten, erstickten sie beim gegenseitigen Anblick ihrer furchtbar verstörten Gesichter in Tränen. Manche fühlten keine Schmerzen mehr, und um die Zeit zu verbringen, erzählten sie von Gefahren, denen sie entronnen wären.
Allen war der Tod gewiß und nahe. Wie oft hatten sie nicht versucht, sich einen Ausgang zu schaffen! Sollten sie den Sieger um seine Bedingungen bitten! Aber durch welche Vermittlung? Wußte man doch nicht einmal, wo sich Hamilkar befand!
Der Wind blies von der Schlucht her. Rastlos ließ er den Sand in Bächen in das Drahthindernis rieseln. Die Mäntel und das Haar der Barbaren bedeckten sich damit, als ob sich die Erde über sie hinwälze und sie begraben wolle. Nichts rührte sich. Die ewigstarren Berge schienen jeden Morgen noch höher geworden zu sein.
Bisweilen zogen Vogelschwärme raschen Fluges am klaren blauen Himmel über den Eingeschlossenen hin, in der Freiheit der Lüfte. Man schloß die Augen, um sie nicht zu sehen.
Manche verspürten ein Summen in den Ohren. Dann wurden ihre Fingernägel schwarz,
und Kälte ergriff die Brust. Sie legten sich auf die Seite und verschieden ohne Laut.
Am neunzehnten Tage waren zweitausend Asiaten, fünfzehnhundert von den Inseln, achttausend Libyer, die Jüngsten unter den Söldnern und ganze Landsmannschaften tot, –
insgesamt zwanzigtausend Mann, das halbe Heer.
Autarit, der nur noch fünfzig von seinen Galliern hatte, wollte sich schon töten lassen, um allem Leid überhoben zu sein. Da glaubte er, auf einem Saumpfad hoch in den Felsen einen Mann zu erblicken. Er war so weit entfernt, daß er wie ein Zwerg aussah. Trotzdem erkannte Autarit am linken Arm des Mannes einen kleeblattförmigen Schild.
»Ein Karthager!« schrie er.
Im Nu war in dem Talkessel, von der Drahtsperre bis zu den Felsblöcken, alles auf den Beinen.
Der Karthager schritt an den abschüssigen Hängen hin. Die Barbaren sahen ihm von unten aus zu.
Spendius nahm einen Ochsenschädel auf, krönte ihn um die Hörner mit einer Art Diadem, aus zwei Gürteln hergestellt, und befestigte ihn als Symbol friedlicher Gesinnung an einer Stange.
Der Karthager verschwand. Man wartete.
Endlich am Abend fiel plötzlich von der Felswand ein Bandolier herab wie ein losgelöster Stein. Es war aus rotem Leder, mit Stickereien bedeckt und mit drei Diamantsternen besetzt. In der Mitte trug es ein Siegel mit dem Wappen des Großen Rates: ein Roß unter einem Palmbaum. Das war Hamilkars Antwort, der Geleitbrief, den
er ihnen sandte.
Die Söldner hatten im Grunde nichts zu fürchten: jede Änderung ihres Schicksals war
wenigstens das Ende der bisherigen Qual. Maßlose Freude ergriff sie. Sie umarmten einander unter Tränen. Spendius, Autarit und Zarzas, vier Italiker, ein Neger und zwei Spartiaten erboten sich zu Unterhändlern. Man erteilte ihnen unverzüglich Vollmacht.
Allerdings wußten sie noch nicht, wie sie aus der Enge kommen sollten.
Da erscholl ein Krach in der Richtung der Eingangsschlucht. Der oberste Felsblock wankte und rollte über die andern hinab. Während die Blöcke nämlich auf der Seite der Barbaren unerschütterlich waren, da man sie eine schräge Fläche hätte hinaufschieben müssen – zudem waren sie durch die Enge der Schlucht zusammengedrängt – , so genügte
von der andern Seite ein starker Stoß, um sie umzuwerfen. Die Karthager taten dies, und bei Tagesanbruch rollten die Blöcke in die Tiefebene hinunter wie die Stufen einer zerstörten Riesentreppe.
Aber auch so konnten die Barbaren noch nicht ohne weiteres über sie hinweg. Man reichte ihnen Leitern. Alle stürzten sich darauf. Das Geschoß eines schweren Geschützes trieb die Menge zurück. Nur die Zehn wurden durchgelassen.
Sie marschierten zwischen Klinabaren, wobei sie sich mit einer Hand auf den Rücken der Pferde aufstützen durften, sonst hätten sie sich vor Mattigkeit nicht aufrecht halten können.
Nachdem die erste Freude vergangen war, begannen sich die Zehn Sorgen zu machen.
Hamilkars Forderungen würden grausam sein! Doch Spendius beruhigte sie:
»Ich werde schon reden!« Und er rühmte sich zu wissen, was zum Heile des Heeres zu
sagen dienlich sei.
Hinter jedem Busch bemerkte man versteckt aufgestellte Posten. Beim Anblick des Bandoliers, das Spendius über seine Schulter trug, salutierten die Posten.
Im punischen Lager angelangt, wurde die Gesandtschaft von der Menge umdrängt. Man
vernahm Geflüster und Lachen. Eine Zelttür öffnete sich.
Hamilkar saß im Hintergrunde auf einem Schemel neben einem niedrigen Tische, auf dem sein blankes Schwert lag. Offiziere umstanden ihn.
Als er die Unterhändler erblickte, fuhr er zurück. Dann beugte er sich vor, um sie zu betrachten. Ihre Augen waren unnatürlich groß. Breite schwarze Kreise, die bis zu den Ohren reichten, umschatteten sie. Ihre bläulichen Nasen standen spitz und weit ab von den hohlen, tief gefurchten Wangen. Die Haut war für die Körper zu weit geworden und überdies unter einer schiefergrauen Staubkruste kaum zu sehen. Die Lippen klebten an den gelben Zähnen. Ein widerlicher Geruch machte sich bemerkbar, wie aus geöffneten Gräbern, von wandelnden Leichen.
Mitten im Zelt stand auf einer Matte, auf der sich die Offiziere niederlassen sollten, eine Schüssel mit dampfenden Kürbissen. Die Barbaren starrten sie an, am ganzen Leibe schlotternd. Tränen traten ihnen in die Augen. Trotzdem bezwangen sie sich.
Hamilkar wandte sich um, um mit einem der Offiziere zu sprechen. Da stürzten die Zehn über das Gericht her, indem sie sich flach auf den Bauch warfen. Ihre Gesichter tauchten in das Fett, und das Geräusch des Hinterschlingens mischte sich mit dem freudigen Schluchzen, das sie dabei ausstießen. Offenbar mehr aus Verwunderung denn aus Mitleid ließ man sie die Schüssel leeren. Als sie sich wieder erhoben hatten, winkte Hamilkar dem Träger des Bandoliers, zu reden.
Spendius ward ängstlich. Er stotterte.
Hamilkar hörte ihm zu, während er den großen goldnen Siegelring an seinem Finger drehte, mit dem er das Wappen Karthagos auf das Bandolier gedrückt hatte. Er ließ ihn auf die Erde fallen. Spendius hob ihn rasch auf. Vor seinem Herrn und Meister kam sein ehemaliges Sklaventum wieder zum Vorschein. Die andern erbebten vor Entrüstung über
diese freiwillige Demütigung.
Jetzt erhob der Grieche die Stimme, wies auf Hannos Übeltaten hin, den er als Feind des Barkas kannte, und suchte Hamilkar durch eine Schilderung der Einzelheiten ihres Elends und durch den Hinweis auf ihre frühere Ergebenheit zu erweichen. Er sprach lange, in rascher, durchtriebener, bisweilen heftiger Weise. Von seinem Enthusiasmus fortgerissen, vergaß er sich schließlich.
Hamilkar erwiderte, er nehme ihre Entschuldigungen an. Es solle also Friede gemacht