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Alles geschah wie in der vorhergehenden Nacht. Und in der darauffolgenden, als sie sich alle wiederum im Lehrsaal versammelt hatten, nahm Jisipu, der Sohn der Klugheit, das Wort: »Auch diesmal haben wir über deine Lehre nachgedacht, Großer Wissender. Und wiederum stehen wir ratlos vor einer neuen Frage. Wenn unsere Welt Phantasien eine Unendliche Geschichte ist, und wenn diese Unendliche Geschichte in einem kupferfarbenen Buch stehtwo befindet sich dann dieses Buch?«

Und nach kurzem Schweigen antwortete Bastian:

»Auf dem Speicher eines Schulhauses.«

»Großer Wissender«, versetzte Jisipu, der Fuchsköpfige, »wir zweifeln nicht an der Wahrheit dessen, was du uns sagst. Und doch wollen wir dich bitten, uns diese Wahrheit sehen zu lassen. Kannst du das?«

Bastian überlegte, dann sagte er:

»Ich glaube, ich kann es.«

Atréju blickte Bastian überrascht an. Auch Xayíde hatte einen fragenden Ausdruck in ihren verschiedenfarbigen Augen.

»Wir wollen uns morgen nacht um dieselbe Stunde wiedertreffen«, sagte Bastian, »aber nicht hier im Lehrsaal, sondern draußen auf den Dächern des Sternenklosters Gigam. Und ihr müßt aufmerksam und ohne Unterlaß den Himmel betrachten.«

In der darauffolgenden Nacht - sie war ebenso sternenklar wie die drei vorhergehenden standen alle Mitglieder der Bruderschaft, einschließlich der drei Tief Sinnenden, zur festgesetzten Stunde auf den Dächern des Klosters und blickten mit zurückgebeugten Köpfen in den Nachthimmel empor.

Auch Atréju und Xayíde, die beide nicht wußten, was Bastian vorhatte, befanden sich unter ihnen.

Bastian aber kletterte auf den höchsten Punkt der großen Kuppel hinauf.

Als er oben stand, schaute er weit herum - und in diesem Augenblick sah er zum ersten Mal, fern, fern am Horizont und im Mondlicht feenhaft schimmernd, den Elfenbeinturm.

Er nahm den Stein Al’Tsahir aus seiner Tasche, der mild leuchtete.

Bastian rief sich die Worte der Inschrift ins Gedächtnis zurück, die an der

Tür der Bibliothek von Amargánth gestanden hatten:

»… .doch spricht er meinen Namen noch ein zweites Mal vom Ende zum Anfang,

verstrahl ich hundert Jahre Leuchten

in einem Augenblick«.

Er hielt den Stein hoch empor und rief:

»Rihast’la!«

Im gleichen Moment gab es einen Blitz von solcher Helligkeit, daß der Sternenhimmel verblaßte und der dunkle Weltraum dahinter erleuchtet wurde. Und dieser Raum war der Speicher des Schulhauses mit seinen altersschwarzen, mächtigen Balken. Dann war es vorüber. Das Licht von hundert Jahren war verstrahlt. Al’Tsahir war ohne Rest verschwunden. Alle, auch Bastian, brauchten erst eine Weile, bis ihre Augen sich wieder an das schwache Leuchten des Mondes und der Sterne gewöhnt hatten.

Erschüttert von der Vision versammelten sich alle schweigend im großen Lehrsaal. Als letzter kam Bastian. Die Mönche der Erkenntnis und die drei Tief Sinnenden erhoben sich von ihren Plätzen und verneigten sich tief und lange vor ihm.

»Es gibt keine Worte«, sagte Schirkrie, »mit denen ich dir für den Blitz der Erleuchtung danken könnte, Großer Wissender. Denn ich habe auf jenem geheimnisvollen Speicher ein Wesen meiner Art erblickt, einen Adler.«

»Du irrst dich, Schirkrie«, widersprach ihm mit mildem Lächeln die eulengesichtige Uschtu, »ich habe genau gesehen, daß es eine Eule war.«

»Ihr beide täuscht euch«, fiel ihr Jisipu mit leuchtenden Augen ins Wort,

»das Wesen dort ist mir verwandt. Es ist ein Fuchs.«

Schirkrie hob abwehrend die Hände.

»Da sind wir nun wieder, wo wir vorher waren«, sagte er. »Nur du kannst uns auch diese Frage beantworten, Großer Wissender. Wer von uns dreien hat recht?«

Bastian lächelte kühl und sagte:

»Alle drei.«

»Gib uns Zeit, deine Antwort zu verstehen«, bat Uschtu.

»Ja«, erwiderte Bastian, »so viel Zeit wie ihr wollt. Denn wir werden euch nun verlassen.« Enttäuschung lag auf den Gesichtern der Mönche der Erkenntnis und auch ihrer drei Oberen, aber Bastian lehnte ihre inständige Bitte, lang oder besser noch für immer bei ihnen zu bleiben, gleichmütig ab.

So wurde er denn mit seinen beiden Schülern hinausbegleitet, und die Flugboten brachten sie in die Zeltstadt zurück.

In dieser Nacht begann übrigens im Sternenkloster Gigam eine erste grundsätzliche Meinungsverschiedenheit zwischen den drei Tief Sinnenden, die viele Jahre später dazu führte, daß die Bruderschaft aufgelöst wurde und Uschtu, die Mutter der Ahnung, Schirkrie, der Vater der Schau, und Jisipu, der Sohn der Klugheit, jeweils ein eigenes Kloster gründeten. Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.

Bastian aber hatte von dieser Nacht an jede Erinnerung daran verloren, daß er je in eine Schule gegangen war. Auch der Speicher und sogar das gestohlene Buch mit dem kupferfarbenen Seideneinband waren aus seinem Gedächtnis verschwunden. Und er fragte sich nicht mehr, wie er überhaupt nach Phantasien gekommen war.

22. Die Schlacht um den Elfenbeinturm

Vorausgeschickte Späher kehrten ins Lager zurück und berichteten, daß man dem Elfenbeinturm nun schon sehr nahe sei. Mit zwei, höchstens drei beschleunigten Tagesmärschen könnte man ihn erreichen.

Aber Bastian schien unentschlossen. Er ließ öfter Rast machen als bisher, um dann plötzlich wieder überstürzt aufzubrechen. Keiner im Heerzug seiner Begleiter verstand den Grund, aber keiner wagte ihn natürlich danach zu fragen. Seit seiner großen Tat im Sternenkloster war er unnahbar geworden, sogar für Xayíde. Im Heerlager gingen allerlei Vermutungen um, aber die meisten Weggenossen fügten sich willig seinen widersprüchlichen Befehlen. Große Weise

- so meinten sie - erschienen normalen Wesen oft unberechenbar. Auch Atréju und Fuchur konnten sich Bastians Verhalten nicht mehr erklären. Die Sache im Sternenkloster ging beiden über den Verstand. Aber das vermehrte nur ihre Sorge um ihn.

In Bastian lagen zwei Empfindungen im Kampf miteinander, und keine von beiden konnte er zum Schweigen bringen. Er sehnte sich danach, mit Mondenkind zusammenzutreffen. Er war jetzt in ganz Phantasien berühmt und bewundert und konnte ihr als Ebenbürtiger gegenübertreten. Aber zugleich erfüllte ihn die Sorge, daß sie AURYN von ihm zurückverlangen würde. Und was dann? Würde sie versuchen, ihn zurückzuschicken in die Welt, von der er nun kaum noch etwas wußte? Er wollte nicht zurück! Und er wollte das Kleinod behalten! - Dann wieder kam ihm der Gedanke, daß es ja durchaus nicht gesagt war, daß sie es zurückhaben wollte. Vielleicht ließ sie es ihm, solang er wollte. Vielleicht hatte sie es ihm ja überhaupt geschenkt, und es gehörte für immer ihm. In solchen Augenblicken konnte er es kaum erwarten, sie wiederzusehen. Er trieb den Heerzug an, um schneller bei ihr zu sein. Doch schon überkamen ihn wieder Zweifel, und er ließ anhalten und Rast machen, um sich klar zu werden, womit er zu rechnen hatte.

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