»Weise ist es, über den Dingen zu stehen, niemand zu hassen und niemand zu lieben. Aber dir, Herr, liegt noch immer an Freundschaft. Dein Herz ist nicht kühl und teilnahmslos wie ein schneeiger Berggipfel - und so kann einer dir Schaden zufügen.«
»Und wer sollte das sein?«
»Der, dem du trotz all seiner Anmaßung noch immer zugetan bist, Herr.«
»Drück dich deutlicher aus!«
»Der freche und ehrfurchtslose kleine Wilde aus dem Stamm der Grünhäute, Herr.« »Atréju?«
»Ja, und mit ihm der unverschämte Fuchur.«
»Und die beiden sollten mir schaden wollen?« Bastian mußte fast lachen.
Xayíde saß mit gesenktem Kopf.
»Das glaube ich nie und nimmer«, fuhr Bastian fort, »ich will nichts mehr davon hören.« Xayíde schwieg und senkte den Kopf noch tiefer.
Nach einer langen Stille fragte Bastian:
»Und was sollte das überhaupt sein, was Atréju gegen mich vorhat?«
»Herr«, flüsterte Xayíde, »ich wollte, ich hätte nichts gesagt!«
»Nun sag auch alles!« rief Bastian, »und mache nicht nur Andeutungen!
Was weißt du?« »Ich zittere vor deinem Zorn, Herr«, stammelte Xayíde und bebte wahrhaftig am ganzen Körper, »aber auch wenn es mein Ende ist, so will ich es dir doch sagen : Atréju sinnt darauf, dir das Zeichen der Kindlichen Kaiserin zu nehmen, heimlich oder mit Gewalt.« Bastian verschlug es einen Augenblick die Luft.
»Kannst du das beweisen?« fragte er mit belegter Stimme.
Xayíde schüttelte den Kopf und murmelte:
»Meine Art von Wissen, Herr, gehört nicht zu der, die sich beweisen läßt.«
»Dann behalt es für dich!« sagte Bastian, und das Blut schoß ihm ins Gesicht, »und verleumde nicht den ehrlichsten und tapfersten Jungen, den es in ganz Phantasien gibt!« Damit schwang er sich aus der Sänfte und ging fort.
Xayídes Finger spielten gedankenvoll mit dem Schlangenkopf, und ihre grün-roten Augen glommen. Nach einer Weile lächelte sie wieder, und während sie violetten Rauch aus ihrem Mund steigen ließ, flüsterte sie:
»Es wird sich zeigen, mein Herr und Meister. Der Gürtel Gemmai wird dir’s beweisen.« Als das Nachtlager aufgeschlagen wurde, ging Bastian in sein Zelt. Er befahl Illuán, dem blauen Dschinn, niemand vorzulassen, auf
keinen Fall Xayíde. Er wollte allein sein und nachdenken.Was ihm die Magierin über Atréju gesagt hatte, hielt er der Überlegung kaum für wert.
Aber etwas anderes beschäftigte seine Gedanken: die wenigen Worte, die sie über das Weisesein eingestreut hatte.
So vieles hatte er nun erlebt, Ängste und Freuden, Traurigkeiten und Triumphe, er war von einer Wunscherfüllung zur nächsten geeilt und keinen Augenblick zur Ruhe gekommen. Nichts von allem hatte ihn ruhig und zufrieden gemacht. Aber Weisesein, das hieß, erhaben sein über Freude und Leid, über Angst und Mitleid, über Ehrgeiz und Kränkung. Weisesein bedeutete, über allen Dingen stehen, nichts und niemand hassen oder lieben, aber auch die Ablehnung oder die Zuneigung anderer vollkommen gleichmütig hinnehmen. Wer wahrhaft weise war, der machte sich aus nichts mehr was. Der war unerreichbar, und nichts konnte ihm mehr etwas anhaben. Ja, so zu sein, das war wirklich wünschenswert! Bastian war überzeugt, damit bei seinem letzten Wunsch angekommen zu sein, jenem letzten Wunsch, der ihn zu seinem Wahren Willen führen würde, wie Graógramán gesagt hatte. Jetzt glaubte er verstanden zu haben, was damit gemeint war. Er wünschte sich, ein großer Weiser zu sein, der weiseste Weise in ganz Phantasien!
Ein wenig später trat er aus seinem Zelt.
Der Mond beleuchtete eine Landschaft, der er zuvor kaum Beachtung geschenkt hatte. Die Zeltstadt breitete sich in einem Talkessel aus, der ringsum in einem weiten Bogen von bizarr geformten Bergen umgeben war.
Die Stille war vollkommen. Im Tal gab es noch kleine Wälder und Gebüsche, weiter oben an den Berghängen wurde die Vegetation spärlicher, und noch weiter oben hörte sie ganz auf. Die Felsgruppen, die sich darüber erhoben, bildeten allerlei Figuren und wirkten fast wie absichtliche Formen von der Hand eines Riesenbildhauers. Es war windstill, und der Himmel war wolkenlos. Alle Sterne glitzerten und schienen näher als sonst.
Ganz hoch droben auf einer der höchsten Bergspitzen entdeckte Bastian etwas, das wie ein Kuppelbau aussah. Offenbar war es bewohnt, denn ein schwacher Lichtschein ging davon aus. »Ich habe es auch bemerkt, Herr«, sagte Illuán mit seiner schnarrenden Stimme. Er stand auf seinem Posten neben dem Zelteingang. »Was mag das sein?«
Er hatte noch kaum ausgeredet, als aus weiter Ferne ein merkwürdiger
Ruf zu vernehmen war. Er klang wie das langgezogene »Uhuhuhu!«
eines Eulenschreis, aber tiefer und mächtiger. Dann erscholl der Ruf ein zweites und drittes Mal, nun aber mehrstimmig.
Es waren tatsächlich Eulen, sechs an der Zahl, wie Bastian bald feststellen konnte. Sie kamen aus der Richtung des Berggipfels mit dem Kuppelbau auf der Spitze. Auf beinahe reglosen Schwingen segelten sie heran. Und je näher sie kamen, desto deutlicher war ihre erstaunliche Größe zu erkennen. Sie flogen mit unglaublicher Geschwindigkeit. Ihre Augen leuchteten hell, auf den Köpfen hatten sie aufgestellte Ohren mit Flaumbüscheln darauf. Ihr Flug war völlig geräuschlos. Als sie vor Bastians Zelt landeten, war kaum ein leichtes Sausen der Schwungfedern zu hören.
Da saßen sie nun auf dem Boden, jede größer als Bastian, und drehten die Köpfe mit den großen, runden Augen nach allen Richtungen. Bastian trat auf sie zu.
»Wer seid ihr, und wen sucht ihr?«
»Uns schickt Uschtu, die Mutter der Ahnung«, antwortete eine der sechs Eulen, »wir sind Flugboten vom Sternenkloster Gigam.«
»Was ist das für ein Kloster?« fragte Bastian.
»Es ist der Ort der Weisheit«, antwortete eine andere Eule, »wo die Mönche der Erkenntnis wohnen.«
»Und wer ist Uschtu?« forschte Bastian weiter.
»Eine der drei Tief Sinnenden, die das Kloster leiten und die Mönche der Erkenntnis lehren«, erklärte eine dritte Eule. »Wir sind die Boten der Nacht und gehören zu ihr.« »Wäre es Tag«, setzte eine vierte Eule hinzu, »so hätte Schirkrie, der Vater der Schau, seine Boten gesandt, die Adler sind. Und in der Stunde der Dämmerung zwischen Tag und Nacht schickt Jisipu, der Sohn der Klugheit, die seinen, und es sind Füchse.«
»Wer sind Schirkrie und Jisipu?«
»Die anderen zwei Tief Sinnenden, unsere Oberen.«