So, in abwechselnd hastigen und überstürzten Märschen und stundenlangen Verzögerungen, hatte man schließlich den äußeren Rand des berühmten Labyrinths erreicht, jener weiten Ebene, die ein einziger Blumengarten voll verschlungener Pfade und Wege war. Am Horizont leuchtete in feenhaftem Weiß gegen den golden schimmernden Abendhimmel der Elfenbeinturm.
Die ganze phantásische Schar und auch Bastian standen in andächtigem Schweigen und genossen die unbeschreibliche Schönheit dieses Anblicks.
Sogar auf Xayídes Gesicht lag ein Ausdruck von Staunen, den es noch nie zuvor gezeigt hatte und der freilich auch bald wieder verschwand. Atréju und Fuchur, die ganz im Hintergrund standen, erinnerten sich daran, wie anders das Labyrinth ausgesehen hatte, als sie das letztemal hiergewesen waren: zerfressen von der Todeskrankheit des Nichts. Jetzt schien es blühender und schöner und leuchtender als je zuvor.
Bastian beschloß, für diesen Tag nicht mehr weiterzuziehen, und so wurde das Nachtlager aufgeschlagen. Er schickte einige Boten aus, die Mondenkind seinen Gruß überbringen und ihr ankündigen sollten, daß er am folgenden Tag in den Elfenbeinturm einzuziehen gedächte. Dann legte er sich in seinem Zelt nieder und versuchte zu schlafen. Er wälzte sich auf seinen Kissen hin und her und seine Besorgnisse ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Er ahnte nicht, daß diese Nacht noch aus ganz anderen Gründen die schlimmste seines bisherigen Daseins in Phantasien werden sollte.
Gegen Mitternacht war er endlich in einen leichten, unruhigen Schlaf gefallen, als ihn ein aufgeregtes Raunen und Wispern vor dem Eingang seines Zeltes aufschrecken ließ. Er erhob sich und trat hinaus.
»Was gibt es?« fragte er streng.
»Dieser Bote hier«, antwortete Illuán, der blaue Dschinn, »behauptet, dir eine Nachricht überbringen zu müssen, die so wichtig sei, daß er nicht bis morgen warten dürfe.« Der Bote, den Illuán am Kragen hochgehoben hatte, war ein kleiner Hurtling, ein Wesen, das gewisse Ähnlichkeit mit einem Kaninchen aufwies, nur daß es anstelle eines Fells ein knallbuntes Federkleid hatte. Hurtlinge gehören zu den schnellsten Läufern Phantásiens und können ungeheure Strecken in solcher Geschwindigkeit zurücklegen, daß man sie dabei praktisch nicht sehen, sondern ihr Vorüberzischen nur an einer Spur von aufgewirbelten Staubwölkchen bemerken kann. Eben wegen dieser Fähigkeit war der Hurtling hier zum Boten gemacht worden. Er hatte
die ganze Strecke zum Elfenbeinturm und wieder zurück hinter sich und hechelte atemlos, als der Dschinn ihn vor Bastian hinstellte.
»Verzeih mir, Herr«, keuchte er und verbeugte sich ein paarmal tief,
»verzeih mir, wenn ich es wage, deine Ruhe zu stören, aber du würdest mit Recht unzufrieden mit mir sein, wenn ich es nicht getan hätte. Die Kindliche Kaiserin ist nicht im Elfenbeinturm, schon seit undenklicher Zeit nicht mehr, und niemand weiß, wo sie weilt.«
Bastian fühlte sich plötzlich leer und kalt im Inneren. »Du mußt dich irren. Das kann nicht sein.«
»Die anderen Boten werden es dir bestätigen, wenn sie nachgekommen sind, Herr.« Bastian schwieg eine Weile, dann sagte er tonlos:
»Danke, es ist gut.«
Er drehte sich um und ging in sein Zelt.
Er setzte sich auf sein Lager und stützte den Kopf in beide Hände. Es war ganz unmöglich, daß Mondenkind nicht erfahren haben sollte, seit wie langer Zeit er unterwegs zu ihr war. Wollte sie ihn nicht wiedersehen ? Oder war ihr etwas zugestoßen ? Nein, es war ganz undenkbar, daß ihr in ihrem eigenen Reich etwas zustoßen konnte, ihr, der Kindlichen Kaiserin.
Aber sie war nicht da, und das bedeutete, daß er ihr AURYN nicht zurückgeben mußte. Auf der anderen Seite fühlte er bitterliche Enttäuschung darüber, daß er sie nicht wiedersehen sollte. Was auch immer sie für einen Grund zu diesem Verhalten haben mochte, er fand es unbegreiflich, nein, es war kränkend!
Dann fiel ihm Atréjus und Fuchurs oft wiederholte Bemerkung ein, daß jeder der Kindlichen Kaiserin nur ein einziges Mal begegnet.
Die Trauer darüber machte, daß er plötzlich Sehnsucht nach Atréju und Fuchur verspürte. Er wollte sich mit jemand aussprechen, wollte mit einem Freund reden.
Ihm kam die Idee, den Gürtel Gemmai anzulegen und unsichtbar zu ihnen zu gehen. So konnte er bei ihnen sein und ihre tröstliche Gegenwart genießen, ohne sich etwas zu vergeben. Rasch öffnete er das verzierte Kästchen, holte den Gürtel hervor und legte ihn sich um die Hüfte. Wieder überkam ihn das unangenehme Gefühl, wie beim ersten Mal, als er sich selbst nicht mehr sah. Er wartete eine Weile, bis er sich daran gewöhnt
hatte, dann ging er hinaus und begann in der Zeltstadt umherzuwandern auf der Suche nach Atréju und Fuchur. Überall war aufgeregtes Wispern und Raunen zu hören, schattenhafteGestalten huschten zwischen den Zelten hin und her, da und dort hockten mehrere zusammen und berieten leise miteinander. Inzwischen waren auch die anderen Boten zurückgekehrt, und die Nachricht, daß Mondenkind nicht im Elfenbeinturm war, hatte sich wie ein Lauffeuer im Lager der Weggenossen verbreitet. Bastian ging zwischen den Zelten herum, aber er fand zunächst die beiden, die er suchte, nicht.
Atréju und Fuchur hatten sich ganz am Rande des Lagers unter einem blühenden
Rosmarinbaum
niedergelassen.
Atréju
saß
mit
untergeschlagenen Beinen, die Arme vor der Brust verschränkt, und blickte mit starrem Gesicht in die Richtung des Elfenbeinturms. Der Glücksdrache lag neben ihm, den mächtigen Kopf zu seinen Füßen auf der Erde. »Es war meine letzte Hoffnung, daß sie mit ihm eine Ausnahme machen würde, um das Zeichen von ihm zurückzunehmen«, sagte Atréju, »aber nun ist alle Hoffnung verloren.« »Sie wird wissen, was sie tut«, antwortete Fuchur.
In diesem Augenblick hatte Bastian die beiden gefunden und trat unsichtbar zu ihnen. »Weiß sie es wirklich?« murmelte Atréju, »Er darf AURYN nicht länger behalten.« »Was willst du tun?« fragte Fuchur. »Er wird es freiwillig nicht hergeben.«
»Ich muß es ihm nehmen«, antwortete Atréju.
Bastian fühlte bei diesen Worten den Boden unter seinen Füßen schwinden. »Wie willst du das tun?« hörte er Fuchur sagen. »Ja, wenn du es erst einmal hättest, könnte er dich nicht mehr zwingen, es ihm zurückzugeben.«
»Oh, das weiß ich nicht«, meinte Atréju, »seine Stärke und sein Zauberschwert hätte er ja noch immer.«
»Aber das Zeichen würde dich schützen«, wandte Fuchur ein, »sogar vor ihm.« »Nein«, sagte Atréju, »ich glaube nicht. Nicht vor ihm. Nicht so.«
»Und dabei«, fuhr Fuchur mit einem leisen, grimmigen Lachen fort, »hat er es dir selbst angeboten, an eurem ersten Abend in Amargánth. Und du hast es abgelehnt.« Atréju nickte.
»Damals wußte ich noch nicht, wie es kommen würde.«
»Was bleibt dir dann noch übrig?« fragte Fuchur, »was kannst du tun, um ihm das Zeichen wegzunehmen?«
»Ich muß es ihm stehlen«, antwortete Atréju.
Fuchurs Kopf schnellte in die Höhe. Mit rubinrot-glühenden Augenbällen starrte er Atréju an, der seinen Blick zu Boden senkte und leise wiederholte:
»Ich muß es ihm stehlen. Es gibt keine andere Möglichkeit.«
Nach einer bangen Stille fragte Fuchur:
»Und wann?«