Matho gab laut ein Kommando. Alle Schilde legten sich auf die Helme. Er sprang darauf, um eine Art Sprungbrett zur Mauer zu bekommen und wieder in die Stadt einzudringen. Seine furchtbare Axt schwingend, lief er über die Schilde hin, die ehernen Wogen glichen, wie ein Meergott, der seinen Dreizack über den Fluten schwingt.
Indessen schritt ein Mann in weißem Gewande, gleichgültig und fühllos gegen den Tod,
der ihn umringte, auf der Krone des Walles hin. Bisweilen legte er seine Hand über die Augen, als spähe er nach jemandem aus. Da erschien Matho gerade vor ihm. Die Augen
des Mannes flammten auf. Sein bleiches Gesicht verzerrte sich. Seine beiden mageren Arme erhebend, rief er dem Libyer Schmähworte zu.
Matho verstand sie nicht, aber er fühlte sich von einem so grausamen Blicke durchbohrt, daß er ein Gebrüll ansstieß. Er schleuderte seine langstielige Axt nach ihm. Es war Schahabarim. Leute warfen sich auf den Priester. Als Matho ihn nicht mehr sah, wich er erschöpft zurück.
Ein fürchterliches, donnerndes Geräusch näherte sich, vermischt mit dem Klange rauher, im Takt singender Stimmen. Es war die mächtige Helepolis, inmitten von mehreren hundert Söldnern. Man zog sie mit beiden Händen an Seilen oder schob mit den Schultern nach, denn obwohl sich das Terrain von der Ebene zur Stadtmauer nur mäßig hob, so war diese schwache Steigung doch für einen Wandelturm von so fabelhafter Schwere Hemmnis genug. Trotzdem die Helepolis acht, je einen Meter breite Räder mit eisernen Reifen hatte, bewegte sie sich seit Morgen nur langsam vorwärts, gleich wie ein Berg, der sich über einen andern wälzt. Aus ihrem untersten Stockwerk ragte ein riesiger Widder hervor. An den drei Seiten, die nach der Stadt zu lagen, waren die Laden heruntergelassen. Von hinten sah man im Innern eine große Schar gepanzerter Krieger.
Aus den beiden Treppen, die durch alle Stockwerke liefen, stiegen immerfort welche hinauf und hinunter. Andre warteten darauf, hervorzustürzen, sobald die Haken der Fallbrücken die Mauer gefaßt hätten. Hinter den Schießscharten drehten sich die Stränge der Ballisten, und die Schnellbalken der Schleudergeschütze gingen hoch und nieder.
Hamilkar stand in diesem Augenblick auf dem Dache des Melkarthtempels. Er hatte berechnet, daß die Helepolis gerade auf ihn zukommen und gegen eine unersteigliche Stelle der Mauer anrennen mußte, die eben deswegen nur schwach besetzt war. Schon seit geraumer Zeit trugen seine Sklaven Schläuche voll Wasser auf den Wallgang, auf dem sie an der bestimmten Stelle aus Lehm zwei Querwände errichtet hatten, wodurch eine Art Becken entstanden war. Das Wasser sickerte unmerklich in die Erde des Walles, aber Hamilkar schien dies seltsamerweise nicht zu beunruhigen.
Als die Helepolis nur noch gegen dreißig Schritt entfernt war, ließ er von den Zisternen bis zum Wall über die Straßen hin von Hans zu Haus Bretter legen. Eine Kette von Leuten reichte sich von Hand zu Hand Helme und Krüge voll Wasser, die sie in das Becken
hineingossen. Die Karthager entrüsteten sich über diese sichtliche Wasservergeudung. Der Widder zertrümmerte die Mauer. Da quoll ein Wasserstrahl aus den gelockerten Quadern
hervor, und das neunstöckige gepanzerte Gerüst, das mehr als dreitausend Soldaten barg, begann leise zu schwanken wie ein Schiff. Das Wasser, das durch die Bresche herausquoll, weichte den Weg vor der Helepolis auf. Alsbald blieben die Räder im Morast stecken. Im ersten Stockwerke tauchte hinter einem der Schutzleder der Schießscharten der Kopf des Spendius auf, der aus vollen Backen in ein Elfenbeinhorn stieß. Die Riesenbatterie kam ruckweise wohl noch zehn Schritte weiter, dann aber ward der Boden weicher und weicher. Die Räder versanken bis an die Achsen, und schließlich stand die Helepolis still und neigte sich bedrohlich nach einer Seite. Die schweren Geschütze in den unteren Stockwerken schoben sich von ihren Plätzen und nahmen dem Turm noch mehr sein Gleichgewicht. Eins brach durch und richtete arge Zerstörung im Innern an. Die Soldaten, die schon an den Fallbrücken standen, wurden herausgeschleudert oder klammerten sich draußen an und vermehrten so durch ihr Gewicht die Neigung des Ungetüms, das in allen Fugen krachte und schließlich zusammenbrach.
Andere Barbaren eilten herbei, um zu helfen. Es bildete sich ein dichter
Menschenknäuel. Da machten die Karthager vom Walle herab einen Ausfall, fielen ihnen
in den Rücken und machten sie mühelos nieder. Jetzt brausten die Sichelwagen heran. Sie galoppierten im Kreise um das Gewirr herum. Die Karthager flohen auf ihre Mauern. Die Nacht brach an. Nach und nach zogen sich die Barbaren zurück.
Auf der Ebene erblickte man vom bläulichschimmernden Golf bis zu der weißen Lagune nichts als ein rabenschwarzes Gewimmel, und das blutrote Haff dehnte sich in das Land hinein wie ein großer Purpursumpf.
Der Erdwall war so mit Toten bedeckt, daß er aus Menschenleibern errichtet schien. Vor seiner Mitte ragten die Trümmer der Helepolis, Waffen und Rüstungen darüber. Von Zeit zu Zeit lösten sich große Bruchstücke von ihr ab, wie die Steine von einer zusammenstürzenden Pyramide. Auf den Mauern waren breite Streifen sichtbar, wo das geschmolzene Blei geflossen war. Hier und da brannte ein umgerissener Holzturm. Das Häusermeer verschwamm im Dunkel uud sah aus wie die Stufen eines zerstörten Amphitheaters. Schwere Rauchschwaden stiegen empor und wirbelten Funken in die Höhe, die sich am schwarzen Himmel verloren.
Inzwischen waren die Karthager, vom Durst verzehrt, nach den Zisternen gestürzt. Sie
erbrachen die Tore. Schlammpfützen standen auf dem Grunde der Becken.
Was sollte nun werden? Der Barbaren waren unzählige. Sobald sie sich erholt hatten, würden sie wieder anstürmen!
Das Volk beriet die ganze Nacht hindurch, stadtviertelweise, an den Straßenecken. Die einen meinten, man müsse die Weiber, die Kranken und Greise fortschicken. Andere schlugen vor, die Stadt zu verlassen und sich in einer fernen Kolonie anzusiedeln. Doch die Schiffe fehlten, und als die Sonne aufging, war noch kein Entschluß gefaßt.
An diesem Tage wurde nicht gekämpft. Die Erschöpfung auf beiden Parteien war zu groß. Die Schlafenden sahen aus wie Tote.
Die Karthager sannen über die Ursache ihres Unglücks nach. Da fiel ihnen ein, daß sie das jährliche Opfer, das sie dem tyrischen Melkarth schuldeten, noch nicht nach Phönizien
gesandt hatten. Ungeheurer Schrecken erfaßte sie. Offenbar zürnten die Götter der Republik und wollten gründliche Rache üben.
Man sah in den Göttern grausame Herren, die man durch Gebete besänftigen und durch
Weihgeschenke gewinnen konnte. Alle aber waren ohnmächtig vor Moloch, dem
Verschlinger. Das Leben, sogar das Fleisch der Menschen gehörte ihm. Daher war es bei den Karthagern Brauch, ihm einen Teil davon zu opfern, um seine Gier zu stillen. Man brannte den Kindern an der Stirn oder im Nacken Zeichen ein, und da diese symbolische Art, den Baal zu befriedigen, den Priestern viel Geld eintrug, so verfehlten sie nicht, diesen leichten und milden Ausweg höchlichst zu empfehlen.
Diesmal aber handelte es sich um das Heil der Republik. Da jeder Vorteil durch irgendeinen Verlust erkauft werden muß und jeder Vertrag sich nach dem Bedürfnis des Schwächeren und der Forderung des Stärkeren regelt, so durfte für den Gott, der am entsetzlichsten sein Ergötzen hatte und in dessen Hand man jetzt völlig war, kein Opfer zu groß sein. Man mußte Moloch sattsam befriedigen. Beispiele bewiesen, daß das Übel dann aufhörte. Überdies glaubte man, ein Brandopfer würde Karthago entsühnen. Die wilden Instinkte des Volkes regten sich sofort. Zudem mußte die Wahl der Opfer lediglich die Patrizierfamilien treffen.
Die Alten versammelten sich. Die Sitzung währte lange. Auch Hanno nahm daran teil.
Da er nicht mehr sitzen konnte, lag er neben der Tür, von den Fransen des hohen Vorhanges halb verdeckt. Als der Oberpriester Molochs fragte, ob man bereit wäre, die Kinder zu opfern, da erscholl Hannos Stimme plötzlich aus dem Dunkel wie das Gebrüll
eines bösen Geistes aus einer tiefen Höhle. Er bedaure, sagte er, keine Kinder eigenen Blutes opfern zu können. Dabei schielte er Hamilkar an, der ihm gegenüber am andern Ende des Saales saß. Der Suffet ward durch diesen Blick derart verwirrt, daß er die Augen niederschlug. Alle bejahten die Frage des Oberpriesters der Reihe nach durch Kopfnicken.
Auch Hamilkar mußte dem Brauch gemäß antworten: »Ja, so sei es!« Darauf ordneten die
Alten das Opfer durch eine herkömmliche Umschreibung an; denn es gibt Dinge, die schwerer auszusprechen als auszuführen sind.
Der Beschluß ward fast augenblicklich in Karthago bekannt. Wehgeschrei erscholl.
Überall hörte man die Frauen jammern. Die Männer trösteten oder schalten sie und redeten ihnen zu.
Drei Stunden später verbreitete sich eine neue wichtige Nachricht: der Suffet hatte am Fuße der steilen Küste Quellen gefunden. Man eilte hin. Im Sande waren Löcher gegraben. Wasser stand darin, und schon lagen Menschen flach auf dem Bauche und tranken daraus.
Hamilkar wußte selbst nicht, ob dies eine Erleuchtung durch die Götter oder die dunkle Erinnerung an eine vertrauliche Mitteilung war, die ihm sein Vater einst gemacht hatte.
Als er die Alten verlassen, war er zum Strande hinabgestiegen und hatte mit seinen Sklaven begonnen, den Sand aufzuscharren.
Er ließ Gewänder, Schuhe und Wein verteilen. Er gab das letzte Getreide hin, das er noch besaß. Er ließ die Menge sogar in sein Schloß ein und öffnete die Küchen, die Vorratskammern und alle Gemächer außer denen Salambos. Er machte bekannt, daß sechstausend gallische Söldner unterwegs seien und daß der König von Mazedonien
Hilfstruppen schicke.
Doch schon am zweiten Tage begannen die Quellen nachzulassen, und am Abend des dritten waren sie völlig versiegt. Da lief der Befehl der Alten abermals von Mund zu Munde, und die Molochpriester gingen nunmehr an ihre Arbeit.