Verwünschungen, die man jemandem berichtete, sich gegen ihn kehren. Ebenso
verschwieg sie ihr Mordgelüst, aus Furcht, getadelt zu werden, weil sie dem nicht nachgegeben hatte. Sie berichtete nur, der Schalischim sei sichtlich zornig gewesen und habe sehr laut gesprochen, dann sei er eingeschlafen. Mehr erzählte Salambo nicht, vielleicht aus Scham, vielleicht auch, weil sie in ihrer großen Unschuld den Küssen des Soldaten keine Bedeutung beimaß. Überdies flossen alle jene Vorgänge in ihrem Kopfe wehmütig und wirr durcheinander wie die Erinnerung an einen schweren Traum. Sie hätte nicht gewußt, auf welche Weise und mit welchen Worten sie alles hätte ausdrücken sollen.
Eines Abends, als sie so einander gegenübersaßen, trat Taanach ganz bestürzt ein. Ein Greis mit einem Kinde sei unten im Hofe und wolle den Suffeten sprechen.
Hamilkar erbleichte. Dann erwiderte er rasch:
»Er soll heraufkommen!«
Iddibal trat ein, ohne sich niederzuwerfen. Er führte einen Knaben an der Hand, der in einen Mantel aus Bocksfell gehüllt war. Er zog rasch die Kapuze zurück, die das Gesicht des Knaben verhüllte, und sagte:
»Da ist er, Herr! Nimm ihn!«
Der Suffet und der Sklave zogen sich in eine Ecke des Gemaches zurück.
Das Kind war in der Mitte des Gemachs aufrecht stehen geblieben und musterte mit einem mehr neugierigen als erstaunten Blick die Zimmerdecke, das Hausgerät, die Perlenschnüre auf den Purpurvorhängen und das hoheitsvolle junge Weib, das sich zu ihm herabbeugte.
Er war etwa zehn Jahre alt und nicht größer als ein Römerschwert. Krause Haare beschatteten seine gewölbte Stirn. Seine Augen sahen mit Vorliebe in die Ferne. Die feinen Nasenflügel vibrierten ihm. Über seiner ganzen Erscheinung lag ein
geheimnisvoller Schimmer, wie ihn die haben, die zu großen Taten vorbestimmt sind. Als er seinen schweren Mantel abgeworfen hatte, stand er in einem Luchsfell da, das seine Hüften umkleidete, und stampfte mit seinen kleinen bloßen Füßen, die weiß vom Staube
waren, fest auf die Fliesen. Offenbar erriet er, daß man wichtige Dinge verhandelte, denn er blieb unbeweglich stehen, eine Hand auf dem Rücken und den Kopf gesenkt, einen Finger im Munde.
Endlich winkte Hamilkar Salambo zu sich und sagte leise zu ihr:
»Du wirst ihn bei dir behalten, verstehst du? Niemand, selbst keiner im Hause, darf um sein Dasein wissen!«
Hinter der Tür fragte er Iddibal noch einmal, ob er sicher sei, daß ihn niemand mit dem Knaben erblickt habe.
»Sicherlich niemand!« versetzte der Sklave. »Die Straßen waren leer.«
Da sich der Krieg über alle Provinzen ausdehnte, hatte Iddibal um den Sohn seines Herrn Angst bekommen, und da er nicht wußte, wo er ihn verbergen sollte, war er in einem Boot an der Küste entlang gefahren. Drei Tage lang hatte er im Golf gekreuzt und die Wälle beobachtet. Endlich, an diesem Abend, da die Umgebung des Khamontempels
menschenleer war, hatte er die Durchfahrt schnell passiert und war am Arsenal gelandet.
Der Hafeneingang war noch frei. Nicht viel später freilich legten die Barbaren ein riesiges Floß davor, um den Karthagern die Ausfahrt zu sperren. Außerdem errichteten sie hölzerne Türme. Gleichzeitig stieg auch der Erdwall empor.
Die Verbindung nach außen war nunmehr abgeschnitten, und eine unerträgliche
Hungersnot begann.
Man schlachtete alle Hunde, Maultiere und Esel, dann auch die fünfzehn Elefanten, die der Suffet zurückgebracht hatte. Die Löwen des Molochtempels waren toll geworden, und die Tempeldiener wagten sich nicht mehr an sie heran. Man fütterte sie anfangs mit verwundeten Barbaren. Dann warf man ihnen Tote vor, die noch warm waren. Aber die Bestien verschmähten sie, und so starben sie sämtlich. In der Dämmerung irrten Leute längs der alten Mauern zwischen der Altstadt und Megara hin und pflückten zwischen den Steinen Kräuter und Blumen, die sie in Wein kochten. Wein war billiger als Wasser geworden. Andre schlichen sich bis zu den feindlichen Vorposten und drangen in die Zelte, um Nahrungsmittel zu rauben. Die Barbaren waren darüber so verblüfft, daß sie die Dreisten bisweilen entkommen ließen. Endlich kam der Tag, an dem die Alten beschlossen, die Rosse Eschmuns heimlich zu schlachten. Das waren heilige Tiere, deren
Mähnen die Priester mit goldenen Bändern durchflochten. Sie versinnbildlichten die Bewegung der Sonne, die Idee des Feuers in seiner höchsten Gestalt. Ihr Fleisch wurde in gleichgroße Stücke zerlegt und hinter dem Altar vergraben. Fortan kamen die Alten, irgendeine Andacht vorschützend, allabendlich zum Tempel hinauf und sättigten sich verstohlen. Auch nahmen sie unter ihrem Gewande Stücke für ihre Kinder mit. In den einsamen Stadtvierteln, die weit von den Mauern ablagen, hatten sich die weniger Notleidenden aus Furcht vor den andern verrammelt.
Die Steine der feindlichen Geschütze und die Zerstörungen, die zur Verteidigung der Stadt angeordnet worden waren, hatten die Straßen mit Schutt und Trümmern erfüllt. In den ruhigeren Stunden zogen oft schreiende Volksmassen durch. Von der Höhe der Burg
betrachtet, sahen die Feuersbrünste wie hie und da auf die flachen Dächer geworfene Purpurtücher aus, die im Winde zu flattern schienen.
Trotz aller andern Arbeiten ruhten die drei schwersten Geschütze der Belagerer nicht.
Die Verheerungen, die sie anrichteten, waren außerordentlich. So ward der Kopf eines Mannes bis an den Giebel der Syssitien geschleudert. In der Kinisdostraße ward eine Wöchnerin von einem herabfallenden Marmorblocke zerschmettert und ihr Kind mitsamt
dem Tragekissen bis zum Kinasyner Schlag geworfen, wo man die Decke wiederfand.
Am unangenehmsten aber waren die Schleuderkugeln. Sie fielen auf die Dächer, in die
Gärten und in die Höfe, während man ängstlich beim kargen Mahle saß. Die furchtbaren
Geschosse trugen eingeritzte Buchstaben, die sich in das Fleisch eindrückten. So konnte man auf der Haut von Toten Schimpfworte lesen wie: »Schwein!« »Raubtier!« »Dreck!«
oder Spöttereien wie: »Fang mich!« oder »Ich habs verdient!«
In den Teil des Walles, der vor den Zisternen lag, wurden Breschen gelegt. Dadurch sahen sich die Bewohner von Malka zwischen der alten Mauer, die Megara von der Altstadt trennte, zur Rechten, den Mauern des Burgbezirks im Rücken und den Barbaren
von vorn eingekeilt. Doch man hatte genug zu tun, die Innenmauer am Burgberge instand zu setzen und sie so hoch wie möglich zu machen. Man konnte sich nicht um arme Leute
kümmern und ließ sie im Stiche. Sie kamen alle um. Obgleich sie allgemein verhaßt waren, erregte das doch einen großen Abscheu gegen Hamilkar.
Am Tage darauf öffnete er die Keller, in denen er sein Getreide aufbewahrte. Seine Verwalter verteilten es unter das Volk. Drei Tage lang stopfte man sich damit voll.
Der Durst ward nun erst recht unerträglich. Dabei hatte man immerfort die große Kaskade vor Augen, in der das klare Wasser der zerstörten Leitung herabplätscherte.
Wenn die Sonne ihre Strahlen darauf warf, umhüllte ein feiner Nebel den Wasserfall, und ein Regenbogen schwang sich darüber. Ein kleiner Bach aber schlängelte sich durch die Ebene und ergoß sich in das Haff.
Hamilkar verlor den Mut nicht. Er rechnete auf ein Ereignis, auf etwas Entscheidendes, auf ein Wunder. Seine Sklaven rissen die silbernen Platten vom Melkarthtempel. Im Hafen zog man vier große Transportschiffe ans Land, schaffte sie auf Walzen bis an das Ende der Straße der Mappalier und durchbrach dort die Mauer zwischen Straße und Meer. Die Schiffe gingen von da aus nach Gallien in See, um dort um jeden Preis Söldner anzuwerben. Hamilkar war noch immer zu seinem großen Arger vom Numidierfürsten abgeschnitten, obwohl er wußte, daß Naravas hinter den Barbaren stand, bereit, ihnen in
den Rücken zu fallen. Naravas war aber allein zu schwach und konnte keinen Angriff wagen. Der Suffet ließ den Wall um drei Meter erhöhen, alles Kriegsgerät aus den Zeughäusern nach der Burg schaffen und die Geschütze abermals ausbessern.