Luise nickt. Eifrig und schüchtern zugleich. »Und wenn ich bloß wüßte, warum Lottchen nicht mehr schreibt?«
» J a « , murmelt die Mutter. »Ich bin recht in Sorge.«
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Z E H N T E S K A P I T E L
Ein Ferngespräch aus München — Das erlösende Wort —
Nun kennt sich auch die Resi nicht mehr aus — Zwei Flugzeugplätze nach Wien — Peperl ist wie vom Donner gerührt — Wer an Türen horcht, kriegt Beulen — Der HerrKapellmeister schläft außer Haus und bekommt unerwünschten Besuch
Lottchen liegt apathisch im Bett. Sie schläft. Sie schläft viel. »Schwäche«, hat Hofrat Strobl heute mittag gesagt.
Der Herr Kapellmeister sitzt am Kinderbett und blickt ernst auf das kleine, schmale Gesicht hinunter. Er kommt seit Tagen nicht mehr aus dem Zimmer. Beim Dirigieren läßt er sich vertreten. Eine Bettstatt ist für ihn vom Boden her-untergeholt worden.
Nebenan läutet das Telefon.
Resi kommt auf Zehenspitzen ins Zimmer. »Ein Ferngespräch aus München!« flüstert sie. »Ob Sie sprechbereit sind!«
Er steht leise auf und bedeutet ihr, beim Kind zu bleiben, bis er zurück ist. Dann schleicht er ins Nebenzimmer. München? Wer kann das sein? Wahrscheinlich die Konzertdirek-tion Keller. Ach, sie sollen ihn gefälligst in Ruhe lassen!
Er nimmt den Hörer und meldet sich. Die Verbindung wird hergestellt.
»Hier Palffy!«
»Hier Körner!« ruft eine weibliche Stimme aus München herüber.
»Was?« fragt er verblüfft. »Wer? Luiselotte?«
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» J a ! « sagt die ferne Stimme. »Entschuldige, daß ich dich anrufe. Doch ich bin wegen des Kindes in Sorge. Es ist hoffentlich nicht krank?«
»Doch.« Er spricht leise. »Es ist krank!«
»Oh!« Die ferne Stimme klingt sehr erschrocken.
Herr Palffy fragt stirnrunzelnd: »Aber ich verstehe nicht, wieso d u . . . «
»Wir hatten so eine Ahnung, ich und — Luise!«
»Luise?« Er lacht nervös. Dann lauscht er verwirrt.
Lauscht immer verwirrter. Schüttelt den Kopf. Fährt sich aufgeregt durchs Haar.
Die ferne Frauenstimme berichtet hastig, was sich nun eben in solch fliegender Hast berichten läßt.
»Sprechen Sie noch?« erkundigt sich das Fräulein vom Amt.
» J a , zum Donnerwetter!« Der Kapellmeister schreit es.
Man kann sich ja das Durcheinander, das in ihm herrscht, einigermaßen vorstellen.
»Was fehlt denn dem Kind?« fragt die besorgte Stimme seiner geschiedenen Frau.
»Nervenfieber«, antwortet er. »Die Krisis sei überstanden, sagt der Arzt. Aber die körperliche und seelische Erschöpfung ist sehr groß.«
»Ein tüchtiger Arzt?«
»Aber gewiß! Hofrat Strobl. Er kennt Luise schon von klein auf.« Der Mann lacht irritiert. »Entschuldige, es ist ja Lotte! Er kennt sie also nicht!« Er seufzt.
Drüben in München seufzt eine Frau. — Zwei Erwachsene sind ratlos. Ihre Herzen und Zungen sind gelähmt. Und ihre Gehirne, scheint es, ihre Gehirne auch.
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In dieses beklemmende, gefährliche Schweigen hinein klingt eine wilde Kinderstimme. »Vati! Lieber, lieber Vati!«
hallt es aus der Ferne. »Hier ist Luise! Grüß dich Gott, Vati!
Sollen wir nach Wien kommen? Ganz geschwind?«
Das erlösende Wort ist gesprochen. Die eisige Beklemmung der beiden Großen schmilzt wie unter einem Tauwind. »Grüß Gott, Luiserl«, ruft der Vater sehnsüchtig. »Das ist ein guter Gedanke!«
»Nicht wahr?« Das Kind lacht selig.
»Wann könnt ihr denn hier sein?« ruft er.
Nun ertönt wieder die Stimme der jungen Frau. »Ich werde mich gleich erkundigen, wann morgen der erste Zug fährt.«