»Dann hätte der Herr Gabele ein Atelier«, sagt das Kind, und die Stimme zittert ein wenig. »Mit so viel Licht, wie er braucht. Und du wohntest direkt neben uns. Neben Resi und mir.« Lottes Augen liegen, wenn man sich so ausdrücken 97
darf, vor des Vaters Blick auf den Knien. »Dann bist du allein, genau wie hier. Und wenn du nicht allein sein willst, kommst du bloß über den Flur und bist da. Du brauchst nicht einmal einen Hut aufzusetzen. — Und mittags können wir daheim essen. — Wenn das Essen fertig ist, klingeln wir dreimal an deiner Tür. — Wir kochen immer, was du willst.
— Auch Geselchtes. — Und wenn du Klavier spielst, hören wir's durch die W a n d . . .« Die Kinderstimme klingt immer zögernder. Sie erstirbt.
Fräulein Gerlach steht abrupt auf. Sie muß schnellstens heim. Wie die Zeit vergeht! Es waren ja aber auch sooo interessante Gespräche!
Herr Palffy bringt seinen Gast hinaus. Er küßt die duf-tende Frauenhand. »Auf heut abend also«, sagt er.
»Vielleicht hast du keine Zeit?«
»Wieso, Liebling?«
Sie lächelt. »Vielleicht ziehst du gerade um!«
Er lacht.
»Lach nicht zu früh! Wie ich deine Tochter kenne, hat sie bereits die Möbelpacker bestellt!« Wütend rauscht die Dame treppab.
Als der Kapellmeister ins Atelier zurückkommt, ist Lotte schon dabei, das Kaffeegeschirr abzuwaschen. Er schlägt ein paar Takte auf dem Flügel an. Er geht mit großen Schritten in dem Raum auf und ab. Er starrt auf die bekritzelten Partiturseiten.
Lotte gibt sich große Mühe, nicht mit den Tellern und Tassen zu klappern. — Als sie alles abgetrocknet und in den Schrank zurückgestellt hat, setzt sie ihr Hütchen auf und geht leise zu Herrn Palffy hinüber.
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»Grüß Gott, V a t i . . . «
»Grüß Gott.«
»Kommst du zum Abendessen?«
»Nein, heute nicht.«
Das Kind nickt langsam und hält ihm zum Abschied schüchtern die Hand hin.
»Hör, Luise — ich hab's nicht gern, wenn sich andere Leute für mich den Kopf zerbrechen, auch meine Tochter nicht! Ich weiß selber, was für mich am besten ist.«
»Natürlich, Vati«, sagt sie ruhig und leise. Noch immer hält sie die Hand zum Abschied ausgestreckt.
Er drückt sie schließlich doch und sieht dabei, daß dem Kind Tränen an den Wimpern hängen.
Ein Vater muß streng sein können. Also tut er, als sähe er nichts Auffälliges, sondern nickt nur kurz und setzt sich an den Flügel.
Lotte geht schnell zur Tür, öffnet sie behutsam — und ist verschwunden.
Der Herr Kapellmeister fährt sich durchs Haar. Kindertränen, auch das noch! Dabei soll man nun eine Kinderoper komponieren! Es ist zum Teufelhaschen! Es ist nicht zum Ansehen, wenn so einem kleinen Geschöpf Tränen in den Augen stehen! Sie hingen in den langen Wimpern wie Tau-tropfen an dünnen Grashalmen . . .
Seine Hände schlagen einige Töne an. Er neigt lauschend den Kopf. Er spielt die Tonfolge noch einmal. Er wiederholt sie in der Sequenz. Es ist die Variation eines fröhlichen Kinderliedes aus seiner Oper. Er ändert den Rhythmus. Er arbeitet.
Wozu doch Kindertränen gut sind! J a , so ein Künstler 99
ist fein heraus! Gleich wird er Notenpapier nehmen und Noten malen. Und zum Schluß wird er sich hochbefriedigt zurücklehnen und die Hände reiben, weil ihm ein so wunderbar trauriges Lied in c-Moll gelungen ist. (Ist denn weit und breit kein Riese oder sonst jemand da, der ihm ab und zu die Hosen straff zieht?)
Wieder sind Wochen vergangen. Fräulein Irene Gerlach hat den Auftritt im Atelier nicht vergessen. Sie hat den Vor-schlag des Kindes, der Vater möge die Wohnung am Ring mit der des Malers Gabele tauschen, als das aufgefaßt, was es war: als Kampfansage! Eine richtige Frau — und Irene Gerlach ist, auch wenn Lotte sie nicht leiden mag, eine richtige Frau —, die läßt sich nicht lange bitten. Sie weiß sie zu gebrauchen. Sie ist sich ihrer Wirkung bewußt. Alle ihre Pfeile hat sie auf die zuckende Zielscheibe, das Künstlerherz des Kapellmeisters, abgeschossen. Alle Pfeile haben ins Schwarze getroffen. Allesamt sitzen sie nun mit ihren Wider-haken im Herzen des Mannes, des geliebten Feindes, fest. Er weiß sich keinen Rat mehr.
»Ich will, daß du meine Frau wirst«, sagt er. Es klingt wie ein zorniger Befehl.
Sie streichelt sein Haar, lächelt und meint spöttisch: »Dann werde ich morgen mein bestes Kleid anziehen, Liebling, und bei deiner Tochter um deine Hand anhalten.«
Wieder sitzt ein Pfeil in seinem Herzen. Und diesmal ist der Pfeil vergiftet.
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H e r r G a b e l e , d e r K u n s t m a l e r
Herr Gabele zeichnet Lotte. Plötzlich läßt er Block und Bleistift sinken und sagt: »Was hast denn heut, Luiserl? Du schaust ja aus wie sechs Tag' Regenwetter!«
Das Kind atmet schwer, als läge ihm ein Fuder Steine auf der Brust. »Ach, es ist nichts weiter.«
»Hängt's mit der Schule zusammen?«
Sie schüttelt den Kopf. »Das wäre nicht so schlimm.«
Herr Gabele legt den Block weg. »Weißt was, du kleine Trauerweide? Wir wollen für heute Schluß machen!« Er steht auf. »Geh ein Stück spazieren. Das bringt einen auf andere Gedanken!«
»Oder vielleicht spiel' ich ein bißchen auf dem Klavier?«