Sudores itaque et pallorem exsistere toto
Corpore, et infringi linguam, vocemque aboriri,
Caligare oculos, sonare aures, succidere artus,
Denique concidere ex animi terrore videmus52.
Der Weise blinkt ebenso wohl mit den Augen, wenn ihm ein Streich droht. Er wird so gut als ein Kind mit Schauer befallen, wenn er sich an der Spitze einer steilen Höhe befindet. Die Natur hat sich diese kleinen Merkmale, die weder Vernunft noch stoische Tugend überwinden können, als Zeichen ihrer Macht über uns vorbehalten wollen, uns unsere Sterblichkeit und Torheit zu lehren. Er erblasst für Furcht, errötet aus Scham, und seufzt in der Kolik, wo nicht mit einer verzweifelnden und lauten Stimme, doch wenigstens mit einem gebrochenen und heisern Tone.
Humani a se nihil alienum putet53.
Die Poeten, welche nach eigenem Gefallen dichten dürfen, was sie wollen, unterstehen sich nicht einmal, ihre Helden der Tränen zu entledigen:
Sic fatur lacrymans, classique immittit habenas54.
Es ist genug für den Weisen, wenn er seine Neigungen im Zaume hält und mäßigt, denn sie völlig zu beherrschen steht nicht in seinen Kräften. Unser Plutarch selber, dieser so vollkommene und vortreffliche Richter der menschlichen Handlungen, gerät, wenn er den Brutus und Torquatos ihre eigene Kinder umbringen sieht55, in Zweifel, ob die Tugend so weit gehen könne; und ob diese Leute nicht vielmehr durch eine andere Leidenschaft angetrieben worden. Alle Handlungen, welche die ordentlichen Grenzen überschreiten, sind einer üblen Auslegung unterworfen: weil sich unser Geschmack sowenig zu dem, was über ihm ist, als zu dem was unter ihm ist, schickt.
Doch wir wollen diese Sekte fahren lassen56, die sich besonders eine gewisse Kühnheit angelegen sein läßt. Allein wenn wir selbst unter der anderen Sekte, die man für die weichlichste gehalten hat57, die großprecherischen Worte des Metrodorus hören58: Occupavi te, Fortuna, atque cepi: omnesque aditus tuos interclusi, ut ad me adspirare non posses; wenn Anaxarch, als er auf Nikokreons, des Tyrannen in Zypern Befehl, in einem steinernen Mörsel mit eisernen Keulen zu Tode geschmissen wird, und doch beständig sagt59: Stoßt immer zu, schlagt immer entzwei: ihr zerstoßt den Anaxarch nicht, sondern seine Schale; wenn wir unsere Märtyrer den Tyrannen mitten aus dem Feuer zurufen hören60: Es ist genug auf dieser Seite gebraten, haue sie ab, friß sie, sie ist gar, fang an der anderen an; wenn wir im Josephus61 das Kind, welches Antiochus mit Zangen zerreißen und mit Pfriemen durchbohren läßt, ihm noch Trotz bieten, und mit einer standhaften und gesetzten Stimme schreien hören: »Tyrann! du bemühst dich umsonst, ich befinde mich noch immer wohl. Wo ist der Schmerz, wo sind die Martern, womit du mir drohst? Kannst du nichts als dies? Meine Beständigkeit macht dir größere Pein, als ich von deiner Grausamkeit empfinde: Feige Memme, du gibst dich, und ich werde stärker. Mache, daß ich mich beklage; mache, daß ich mich beugen lasse, mache, daß ich mich gebe, wenn du kannst. Sprich deinen Trabanten und deinen Henkersknechten Mut zu: Siehe nur der Mut entfällt ihnen, sie können nicht mehr, treibe sie an, mache sie hitzig.« - hier muß man gewißlich bekennen, daß sich in diesen Seelen eine gewisse Veränderung und eine gewisse Wut zeigt, so heilig sie auch ist. Wenn wir auf die Einfälle der Stoiker kommen: Ich will lieber rasend als wollüstig sein, wie Antisthenes sagte62 (Μανείην μᾶλλον ἢ ἡσθείην); wenn Sextius spricht, er wollte lieber vom Schmerz als von der Wollust gefesselt sein; wenn Epikur sich unterfängt, sich von dem Zipperlein liebkosen zu lassen, und Ruhe und Gesundheit ausschlägt, weil er mit frischem Herzen dem Ungemach Trotz bietet; wenn er geringere Schmerzen verachtet, und sich nicht die Mühe nimmt mit ihnen zu kämpfen und zu streiten, sondern stärkere, empfindlichere, und die seiner würdig sind, auffordert und verlangt -
Spumantemque dari pecora inter inertia votis
Optat aprum, aut fulvum descendere monte leonem63 -:
wer urteilt hier nicht, daß dieses von einer jähen Hitze einer aus ihrer ordentlichen Lage gebrachten Herzhaftigkeit herrühre? Unsere Seele kann sich von ihrem ordentlichen Sitze nicht so weit erheben, sie muß denselben verlassen, sich in die Höhe schwingen, den Zügel in das Maul nehmen und also ihren Mann so weit wegführen und fortreißen, daß er sich hernach selbst über seine Tat wundert. Ebenso treibt im Kriege die Hitze des Treffens mutige Soldaten öfters an, so gefährliche Gänge zu wagen, daß sie, wenn sie wieder zu sich selbst kommen, die ersten sind, die vor Erstaunen darüber erzittern. Ebenso geraten die Poeten oft über ihre eigenen Werke in Verwunderung und haben die Spur vergessen, auf welcher sie eine so schöne Bahn zurückgelegt haben - welches man auch bei ihnen Hitze und Begeisterung nennt. Und ebenso wie Plato sagt64, daß ein gesetzter Mann vergeblich vor der Türe der Poesie anklopfe, so spricht auch Aristoteles, keine ausnehmende Seele sei von aller Vermischung mit Narrheit frei. Er hat auch recht, wenn er eine jede übertriebene Handlung, die unsere eigene Vernunft und den Verstand übersteigt, so lobenswürdig sie auch sein mag, eine Narrheit nennt, weil die Weisheit eine ordentliche Führung unserer Seele ist und dieselbe nach einem gewissen Maße und Verhältnisse regiert und sich selbst davon Rechenschaft gibt. Plato schließt daher65, weil die Gabe zu weissagen über unser Vermögen ist, wir müßten außer uns sein, wenn wir sie haben: unsere Klugheit müßte entweder durch den Schlaf, oder durch eine Krankheit verdunkelt sein, oder sie müßte durch eine himmlische Entzückung außer sich gesetzt werden.
Die Geschäfte bis morgen
Ich gebe mit Recht, wie mich dünkt, dem Jacob Amiot vor allen unseren französischen Schriftstellern den Vorzug. Hierzu veranlaßt mich nicht allein seine natürliche und reine Schreibart66, als worinnen er alle andere übertrifft, seine Geduld bei einer so langwierigen Arbeit, seine große Einsicht, vermittelst welcher er einen schweren und dunklen Schriftsteller so glücklich hat entwickeln können (denn man sage was man will, ich verstehe zwar nichts vom Griechischen, aber ich sehe doch in seiner Übersetzung überall einen so guten Zusammenhang, daß er entweder ganz gewiß des Verfassers wahre Meinung verstanden, oder sich einen allgemeinen Begriff von Plutarchs Meinungen durch einen langen Umgang mit ihm eingeprägt haben muß; zum wenigsten läßt er ihn nichts sagen, was ihn verriete oder ihm widerspräche ), sondern ich weiß es ihm besonders Dank, daß er ein Buch ausgesucht und gewählt hat, das so würdig und so geschickt war, seine Lande damit zu beschenken. Wir ungelehrte Leute wären verloren gewesen, wenn uns dieses Buch nicht aus dem Moraste geholfen hätte. Ihm haben wir es zu danken, daß wir uns jetzt zu reden und zu schreiben unterstehen dürfen. Die Damen lehren jetzt die Schulleute daraus. Es ist unser Handbuch. Wenn dieser ehrliche Mann noch lebte, so wollte ich ihm den Xenophon abtreten, daß er es mit demselben ebenso machen sollte. Dies wäre eine leichtere Arbeit und also desto bequemer für sein Alter. Überdies kommt es mir, ich weiß selbst nicht wie, vor, als ob seine Schreibart, ungeacht er sich auch aus schlimmen Orten mit Gewalt und gut heraus hilft, dennoch gleichförmiger wäre, wenn sie nicht gezwungen ist, sondern frei fort laufen kann.
Ich war eben jetzt über der Stelle67, wo Plutarch von sich selbst sagt, daß Rusticus, als er einmal zu Rom in einer seiner Reden gewesen, ein Paket von dem Kaiser bekommen, dasselbe nicht eher eröffnet, bis alles vorbei gewesen wäre. Worüber, wie er sagt, die ganze Versammlung das gesetzte Wesen dieses Mannes besonders gelobt hätte. Es handelt eben von der Neugierde und der nach Neuigkeiten begierigen und hungrigen Leidenschaft, derzufolge wir so unterschieden und ungeduldig alle Dinge liegen lassen, um mit einem neu Angekommenen zu reden und allen Respekt und Wohlstand vergessen, um geschwind, wir mögen sein wo wir wollen, die erhaltenen Briefe zu erbrechen. Also hat er Ursache gehabt, das gesetzte Wesen des Rusticus zu loben; und hätte noch ein Lob für seine Gefälligkeit und Höflichkeit beifügen können, daß er seine Rede nicht hat unterbrechen wollen. Aber ich zweifle, ob man ihn wegen seiner Klugheit loben kann. Denn da er unversehens Briefe, und besonders von einem Kaiser bekam, hätte es ihm leicht sehr nachteilig sein können, daß er sie nicht gleich las. Der Fehler, wenn er der Neugierde entgegensteht, ist die Unachtsamkeit, zu der ich von Natur augenscheinlich geneigt bin; und welcher viele Leute, wie ich gesehen habe, gewaltig ergeben sind, daß man nach drei bis vier Tagen die erhaltenen Briefe noch versiegelt in ihrer Tasche gefunden hat. Ich habe niemals einen erbrochen, nicht allein von denen, die man mir anvertraut hat, sondern sogar von denen, die mir das Glück in die Hände geführt hat. Ich mache mir ein Gewissen daraus, wenn meine Augen versehentlich aus wichtigen Briefen, die ein großer Herr, bei dem ich stehe, liest, etwas heraus stehlen. Niemals hat sich ein Mensch weniger um anderer Leute Händel bekümmert oder darnach geforscht.
Zu unserer Väter Zeit hätte beinahe der Herr von Boutieres Turin verloren, weil er in einer guten Gesellschaft bei einer Abendmahlzeit war und nicht gleich68 eine Nachricht las, welche eine wider diese Stadt, in der er kommandierte, angestellte Verräterei betraf. Und eben der Plutarch hat mich gelehrt69, daß sich Julius Cäsar gerettet haben würde, wenn er an eben dem Tage, da er von den Verschworenen ermordet wurde, ehe er in den Rat ging, eine ihm überreichte Schrift gelesen hätte. Er erzählt auch von dem Tyrannen zu Theben, Archias, daß70 ihm noch den Abend vor der Ausführung des Unternehmens, welches Pelopidas ihn umzubringen und sein Vaterland in Freiheit zu setzen gefaßt hatte, alles Stück für Stück durch einen anderen Archias aus Athen sei geschrieben worden, was man wider ihn vorhätte; daß er aber, weil ihm dieses Paket während der Abendmahlzeit gegeben worden, die Eröffnung desselben aufgeschoben und die Worte gebraucht habe, die nachgehend in Griechenland zu einem Sprichwort wurden: Die Geschäfte bis morgen. Meiner Meinung nach kann ein weiser Mann anderen zum Besten - zum Exempel, um eine Gesellschaft nicht auf eine unanständige Weise zu trennen, so wie Rusticus tat, oder, um nicht eine andere wichtige Sache abzubrechen - das, was man ihm Neues bringt, anzuhören verschieben. Aber, wer es um seines eigenen Nutzens oder Vergnügens willen tut, um nicht beim Mittagsmahle oder im Schlaf gestört zu werden, der verdient keine Entschuldigung, zumal, wenn er ein öffentliches Amt verwaltet.
Vor Alters war zu Rom der so genannte Konsulplatz der vornehmste an der Tafel, weil einer da freier saß, und diejenigen, welche sich während der Mahlzeit einfanden, um mit ihm zu sprechen, am leichtesten zu ihm kommen konnten. Dies ist ein Beweis, daß sie sich bei Tische gar nicht anderer Geschäfte und vorfallender Dinge entschlagen haben. Doch es ist schwer, wenn man auch alles gesagt hat, bei den menschlichen Handlungen aus Vernunftgründen eine so richtige Regel zu geben, daß das Glück sein Recht nicht dabei behaupten sollte.
Von dem Gewissen
Als mein Bruder, der Herr de la Brousse und ich während unserer bürgerlichen Kriege einmal miteinander reisten, so begegnete uns ein Edelmann von gutem Ansehen. Er war von unserer Gegenpartei; aber ich wußte es nicht, weil er sich verstellte. Das Schlimmste bei dergleichen Kriegen ist dieses, daß die Karten so sehr gemischt sind, weil sich unser Feind durch kein einziges merkliches Kennzeichen, weder durch die Sprache, noch durch die Gebärden von uns unterscheidet, sondern nach eben den Gesetzen, Sitten, in eben dem Lande erzogen ist, und also Verwirrung und Unordnung dabei schwerlich zu vermeiden sind. Dies machte, daß ich mich selber fürchtete, wir möchten an einem Orte, wo wir nicht bekannt wären, auf unsere Völker stoßen, weil ich nicht gerne den Verdruß haben wollte, meinen Namen anzugeben, und wohl gar was Schlimmeres zu erfahren. So ist es mir ehedem schon ergangen: denn durch einen dergleichen Irrtum verlor ich sowohl Leute als Pferde, und unter anderem brachte man mir einen Pagen elendiglich um, der ein Italiener von Adel war, und den ich sorgfältig erzog, welcher das Leben in einer sehr schönen und hoffnungsvollen Jugend einbüßte. Allein dieser Edelmann fürchtete sich so erstaunlich davor, und tat so ängstlich, so oft uns Leute zu Pferde begegneten oder wir durch Städte mußten, die es mit dem Könige hielten, daß ich endlich mutmaßte, er müßte ein unruhiges Gewissen haben. Dieser arme Mensch glaubte, man würde durch seine Maske und durch die Kreuze auf seinem Steifrocke hindurch in sein Herz sehen, und seine geheime Gesinnungen darinnen lesen. So wunderbar ist die Gewalt des Gewissens. Es macht, daß wir uns selbst verraten, anklagen und bestreiten; und führt uns, wenn kein fremder Zeuge da ist, selbst wider uns zu Zeugen auf,
Occultum quatiens animo tortore flagellum71.
Folgende Erzählung führen schon die Kinder im Munde. Als dem Bessus, einem Pöonier72, vorgeworfen wurde, er hätte ein Nest Sperlinge mutwillig heruntergeworfen und sie umgebracht, sagte er, er hätte Recht dazu gehabt, weil diese kleine Vögel nicht aufhörten, ihn fälschlich eines an seinem Vater verübten Mordes zu beschuldigen. Dieser Vatermord war bis dahin verborgen und unbekannt geblieben; aber die rächenden Furien des Gewissens machten, daß ihn derjenige, welcher die Strafe dafür leiden sollte, selbst an den Tag bringen mußte.
Hesiodus verbessert Platons Gedanken73, daß die Strafe sehr nahe auf die Sünde folge: denn er sagt, sie würde zugleich mit der Sünde eben den Augenblick geboren. Wer die Strafe erwartet74, leidet sie, und wer sie verdient hat, erwartet sie. Die Bosheit bereitet sich selbst Martern:
Malum consilium consultori pessimum75.
Ebenso wie die Wespe andere sticht und verletzt, zugleich aber sich selbst am meisten schadet, weil sie darüber ihren Stachel und ihre Stärke auf immer verliert, Vitasque in vulnere ponunt76.
Die Spanischen Fliegen haben durch eine Widerwärtigkeit der Natur einen gewissen Teil an sich, der wider ihrem Gift zum Gegengifte dient77. Ebenso entsteht, wenn man ein Vergnügen an dem Laster findet, ein entgegengesetztes Mißvergnügen in dem Gewissen, welches uns mit vielerlei beschwerlichen Einbildungen martert, wir mögen wachen oder schlafen:
Quippe ubi se multi per somnia saepe loquentes
Aut morbo delirantes procraxe ferantur
Et celata diu in medium peccata dedisse78.
Apollodor träumte79, er sähe sich den Skythen die Haut abziehen und darauf in einem Topfe kochen, und hörte sein Herz murmeln und sagen: Ich bin Ursache an allem diesem Unglücke. Kein Schlupfwinkel hilft den Bösen etwas, sagte Epikur, weil sie sich nicht versichern können, daß sie verborgen sind, da sie das Gewissen ihnen selbst entdeckt: Prima est haec ultio, quod se ludice nemo nocens absolvitur80.
Gleichwie es uns nun mit Furcht erfüllt, so erfüllt es uns ebenfalls mit Zuversicht und gutem Vertrauen. Und ich kann sagen, daß ich bei verschiedenen gefährlichen Gängen weit beherzter zugeschritten bin, weil ich insgeheim von meinem guten Willen und der Unschuld meiner Absichten überzeugt war.
Conscia mens ut cuique sua est, ita concipit intra
Pectora pro facto, spemque metumque suo81.
Es gibt hiervon tausend Exempel: allein es wird genug sein, deren drei von einer einzigen Person anzuführen. Als Scipio einst vor dem römischen Volke wegen wichtiger Sachen angeklagt worden war, sagte er, anstatt sich zu entschuldigen oder seinen Richtern zu schmeicheln, zu ihnen82: Es steht euch recht wohl an, daß ihr euch unterfangt, über das Leben eines Mannes zu urteilen, durch den ihr die Gewalt habt, über die ganze Welt zu urteilen. Und ein andermal sagte er, statt aller Antwort auf die Beschuldigungen, die ihm ein Zunftmeister aufbürdete, anstatt seine Sache gerichtlich auszuführen83: Wohlan, ihr Bürger, laßt uns hingehen und den Göttern für den Sieg danken, den sie mir eben an dem heutigen Tage wider die Karthaginenser verliehen haben. Da er nun nach dem Tempel ging, so folgte ihm die ganze Versammlung und selbst seine Ankläger begleiteten ihn. Als ein andermal Petilius von dem Cato aufgehetzt worden war, daß er ihm die Rechnung über das Geld, so er in der Provinz des Antiochus unter den Händen gehabt hatte, abfordern sollte, und Scipio84 in dieser Absicht in den Rat gekommen war, zog er das Rechnungsbuch, welches er unter seinem Rock hatte, hervor, und sagte, dieses Buch enthielte seine wahrhaftige Einnahme und Ausgabe. Da man es aber von ihm verlangte, um es in das Ratsbuch einzutragen, schlug er es unter dem Vorwand ab, er wollte sich nicht selbst diesen Schimpf antun; und riß es in Gegenwart des Rats mit eigenen Händen in Stücken. Ich glaube nicht, daß sich eine gebrandmarkte Seele so dreist hätte stellen können. Sein Herz war schon von Natur allzu großmütig und zu allzu hohem Glücke gewöhnt85, sagt Titus Livius, als daß er einen Verbrecher vorzustellen, oder sich mit der niederträchtigen Bemühung, seine Unschuld zu verteidigen, einzulassen gewußt hätte.
Die Folter ist eine gefährliche Erfindung und scheint mehr ein Mittel zu sein, die Geduld, als die Wahrheit zu prüfen. Derjenige, welcher sie ausstehen kann, verbirgt die Wahrheit ebenso als derjenige, der sie nicht ausstehen kann. Denn warum soll mich der Schmerz viel mehr die wahren Umstände, als erdichtete Umstände zu sagen zwingen? Umgekehrt, wenn der Unschuldige Geduld genug besitzt, die Martern auszustehen - warum soll sie nicht auch der Schuldige besitzen, da so ein schöner Lohn, wie das Leben ist, darauf steht? Ich vermute, daß der Grund dieser Erfindung in der Betrachtung der Gewalt des Gewissens liegt. Bei dem Schuldigen scheint es auf der Folter dazu zu helfen, daß er sein Verbrechen bekennt, und ihn schwach zu machen. Gegenteils aber scheint es den Unschuldigen wider die Tortur zu stärken. Die Wahrheit zu sagen, so ist dieses Mittel sehr ungewiß und gefährlich. Was sollte man nicht sagen, was sollte man nicht tun, um so gewaltigen Schmerzen zu entgehen?
Etiam innocentes cogit mentiri dolor86.
Daher kommt es, daß der Richter denjenigen, den er gefoltert hat, um ihn nicht unschuldig hinrichten zu lassen, oft unschuldig und gefoltert hinrichten läßt. Tausend und Abertausend haben sich durch ein falsches Bekenntnis den Tod zugezogen, unter welche ich den Philotas rechne87, wenn ich die Umstände des Prozesses, den ihm Alexander machen ließ, und den Fortgang seiner Folter überlege. Man mag immerhin sagen, daß dieses das kleinste Übel sei, welches die menschliche Schwachheit habe erfinden können: meiner Meinung nach ist es doch eine sehr unnütze Erfindung.
Viele Völker, die hierinnen nicht so barbarisch sind als das griechische und römische Volk, welche jene also nannten, halten es für abscheulich und grausam, einen Menschen wegen eines noch ungewissen Verbrechens zu martern und zu zerstossen. Was kann er für unsere Unwissenheit? Ist es nicht ungerecht, wenn man, um ihn nicht ohne Ursache zu töten, was Ärgeres als den Tod antut? Wollen wir uns überzeugen, daß es wirklich so geht, so dürfen wir nur betrachten, wie oft ein solcher Mensch lieber ohne Ursache sterben, als diese Untersuchung ausstehen will, die weit schmerzlicher als die Todesstrafe ist, und durch ihre Härte der Todesstrafe öfters zuvor kommt und sie vollzieht. Ich weiß nicht, woher88 ich folgende Erzählung habe, sie stellt aber die Billigkeit unseres Verfahrens, das wir in diesem Stücke beobachten, sehr gut vor. Eine Bauersfrau klagte bei einem General89, der ein großer Liebhaber der Gerechtigkeit war, einen Soldaten an, daß er ihren kleinen Kindern das bißchen Mus genommen hätte, welches ihr noch zu deren Erhaltung übrig geblieben wäre, nachdem die Armee alles verheert hätte. Ein Beweis war nicht da. Der General ermahnte90 also erst die Frau, alles wohl zu überlegen, weil sie sich durch ihre Anklage, wenn sie löge, strafbar machen würde. Da sie nun darauf bestand, ließ er dem Soldaten den Bauch öffnen, um wegen der Wahrheit der Sache Licht zu bekommen. Es fand sich auch, daß die Frau91 Recht gehabt hatte. Dies war eine lehrreiche Verurteilung.
Schutzschrift für Raimond von Sebonde
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