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Et faciem dempta pelle referre novam14.

Ich habe welche gesehen, die Sand und Asche verschluckten und sehr sorgfältig darauf arbeiteten, sich den Magen zu verderben, um eine blasse Gesichtsfarbe zu haben. Um einen recht schmalen Körper zu haben, welche Pein ertragen sie nicht in ihren Schnürleibern und Gurten von Fischbein mit großen Kutschen auf den Hüften, die ins Fleisch schneiden und ihnen zuweilen gar den Tod zuziehen.

Es ist heutzutage bei vielen Nationen noch Sitte, sich mit Bedacht zu verwunden, um ihrem Worte Glauben zu verschaffen; und unser König erzählt davon merkwürdige Beispiele, die er in Polen gesehen hat und mit ihm selbst geschehen sind. Außer denen aber, die meines Wissens von einigen in Frankreich nachgeahmt sind: Als ich von dem berühmten Landtage zu Blois heimkehrte, hatte ich kurz vorher in der Pikardie ein Mädchen gesehen, welche, um die Aufrichtigkeit ihres Versprechens wie auch ihre Treue zu bestätigen, sich mit einer Haarnadel, die sie in der Flechte trug, vier bis fünf Stiche in den Arm gab, daß ihr die Haut barst und sich damit einen tüchtigen Aderlaß ersparte.

Die Türken geben sich für ihre Damen große Schmarren übers Gesicht, und damit die Narben nicht ausgehen sollen, fahren sie alsobald mit Feuer über die Wunden her und halten es darüber eine unglaublich lange Zeit, um das Blut zu stillen und die Narbe zu bilden. Leute, die es mit ihren Augen gesehen, haben es geschrieben und haben mir's zugeschworen. Aber für zehn Asper kann man alle Tage jemand haben, der sich dafür einen tüchtigen Schnitt in die Arme oder Lenden tut. Es ist mir lieb, daß wir die Zeugen gleich bei der Hand haben, wo wir ihrer am nötigsten bedürfen. Denn die Christenheit läßt uns daran gar keinen Mangel leiden, und hat es, nach dem Beispiel unseres heiligen Vorgängers, Leute bei Haufen gegeben, die aus Frömmigkeit haben das Kreuz tragen wollen. Wir wissen von glaubwürdigen Zeugen, daß unser König Ludwig der Heilige solange ein Hemd von Haaren auf seinem bloßen Leibe trug, bis ihn im Alter der Beichtvater davon dispensierte, und daß er sich alle Freitage von seinem Priester mit fünf kleinen eisernen Ketten die Schultern geißeln ließ, welche man des Endes in seinem Bettsacke beständig mitführte.

Wilhelm, unser letzter Herzog von Guyenne, Vater der Alienor, der dies Herzogtum an die Häuser England und Frankreich übertrug, trug die letzten zehn oder zwölf Jahre seines Lebens beständig einen Küraß unter einem Mönchskleid, zur Bußübung. Foulques, Graf von Anjou, tat die weite Reise bis Jerusalem, um sich dort von zweien seiner Bedienten am Grabe unseres Heilandes geißeln zu lassen, wobei er einen Strick um den Hals hatte. Aber sieht man nicht noch alle Karfreitage an verschiedenen Orten eine große Anzahl Weiber und Männer sich so wacker geißeln, daß zuweilen danach das Fleisch von den Knochen hängt? Dies hab' ich oft mit angesehen, und es war kein Augenverblenden. Man hat mir wohl gesagt, daß welche darunter gewesen (denn sie gehen verlarvt), welche es für Geld unternahmen, andre bei reiner Religion zu erhalten, durch Schmerzen oder Martern, die umso größer sein müssen, weil der Sporn der Religion mächtiger ist als der Stachel des Geizes.

Q. Maximus begrub seinen Sohn, als er schon Konsul war, M. Cato den seinigen, da er zum Prätor bestimmt worden, und L. Paulus seine beiden Söhne, kurz hintereinander, mit gesetztem Gesicht und ohne ein Zeichen von Trauer sehen zu lassen. Ich sagte in meinen Jugendtagen von jemand im Spaß, er habe der Gerechtigkeit des Himmels Brillen verkauft. Denn, da er an einem Tage drei erwachsene Söhne durch gewaltsamen Tod verlor, welches man doch wohl für eine derbe Zuchtrute halten sollte, fehlte sehr wenig, daß er es nicht mit Freuden für eine große Gnade genommen hätte. Ich bin nun freilich nicht von so un- oder übermenschlicher Gemütsart; gleichwohl habe ich ein paar Kinder, die noch in den Händen der Amme waren, verloren, in der Tat nicht ohne Betrübnis, aber doch ohne Murren. Auch gibt es wohl nicht viele Zufälle, die dem Menschen stärker an die Seele greifen. Ich sehe andre gewöhnliche Ursachen der Betrübnis genug, die ich kaum fühlen würde, wenn sie mir überkämen; und habe wirklich welche verachtet, die mir zugestoßen sind, denen die Menschen eine so schreckliche Gestalt geben, daß ich mich dessen gegen den gemeinen Mann zu gestehen, ohne rot zu werden, nicht wagen möchte. Ex quo intellegitur, non in natura, sed in opinione esse aegritudinem15.

Wer in der Welt wird wohl jemals mit solcher Begierde nach Sicherheit und Ruhe trachten, als Alexander und Cäsar der Unruhe und den Gefahren nachjagten? Teres, der Vater des Sitalces, pflegte zu sagen, wenn er keinen Krieg führe, so käm' es ihm vor, als ob zwischen ihm und seinem Stallknecht kein Unterschied sei. Cato, der Konsul, hatte, um sich einiger Städte in Spanien zu versichern, den Einwohnern bloß untersagt, Waffen zu führen, und darüber tötete sich eine große Anzahl. Ferox gens, nullam vitam rati sine armis esse16. Von wie vielen wissen wir nicht, daß sie den Annehmlichkeiten eines ruhigen Lebens in ihren Häusern, unter Freunden und Bekannten, entsagt und sich in schaudervolle, menschenleere Wüsteneien begaben, wo sie sich für die Menschen unnütz, verächtlich und verwerflich gemacht haben und dennoch darin bis zur Affektation glücklich befunden haben?

Der Kardinal Borromäus, welcher neulich zu Mailand verstorben ist, führte, umringt von dem Wohlleben, wozu ihn seine hohe Geburt, seine Reichtümer und die italienische Sitte bei seiner Jugend einluden, eine so strenge Lebensart, daß derselbige Habit, den er im Sommer trug, ihm auch im Winter diente. Sein Bett war von bloßem Stroh gemacht, und die Stunden, die ihm von seinen Amtsverrichtungen übrigblieben, widmete er beständig dem Studieren. Er lag bei seinem Buch auf den Knien und hatte zu seiner Seite ein wenig Brot und Wasser stehen: dies war der ganze Vorrat zu seinen Mahlzeiten, und die einzige Zeit, die er darauf verwendete.

Ich kenne Leute, die ganz wissentlich Vorteil von ihrer Hahnreischaft gezogen haben, deren bloßer Name so vielen Menschen Angst und Schrecken macht! Wenn der Sinn des Gesichts auch nicht der notwendigste unter den übrigen wäre, so ist er doch einer der angenehmsten. Die angenehmsten und nützlichsten unter unseren Gliedmaßen scheinen aber diejenigen zu sein, die zu unsrer Fortpflanzung dienen. Gleichwohl hat es Menschen genug gegeben, die dawider einen tödlichen Haß hegten, und zwar bloß deswegen, weil sie zu liebenswürdig wären, und haben sie verworfen, wegen ihrer Kostbarkeit. Ebenso dachte der von den Augen, der sich sie ausriß. Der größte und gesündeste Teil der Menschen hält viele Kinder haben für ein großes Glück. Ich und einige andre halten es für ein ebenso großes Glück, keine zu haben. Und als man den Thales fragte, warum er sich nicht verheirate, antwortete er, es wäre seine Sache nicht, Nachkommenschaft zu hinterlassen.

Daß unsere Meinung den Wert der Dinge bestimme, erhellt schon daraus, daß es eine große Anzahl gibt, die wir nicht einmal darauf ansehen, ob sie einen Wert für uns haben möchten, und weder auf ihre Eigenschaften noch auf ihren Nutzen achten, sondern nur auf den hohen Preis, wofür sie zu haben sind: gerade, als ob das einen Teil ihres Wesens ausmache, und schätzen ihren Wert nicht nach dem, was sie in sich haben, sondern nach dem, wofür wir sie haben. Weshalb ich dann des Dafürhaltens bin, daß wir gar sparsame Haushälter mit unseren Auslagen sind; je wichtiger sie sind, je dienlicher, gerade weil sie wichtig sind. Unsere Meinung läßt solche niemals auf Rechnung der Unkosten bringen. Nach dem Kaufspreise hat der Diamant seinen Wert; nach dem Kampfe die Tugend, nach der Buße die Andacht und nach der Bitterkeit die Arznei.

Jener, um zur Armut zu gelangen, warf seine Taler in eben dasselbe Meer, welches andre in allen Tiefen durchsuchen, um Reichtümer zu fischen. Epikur sagt: Reich sein erleichtert keine Geschäfte, es ändert sie nur. So viel ist wahr: Mangel macht keinen Geizigen, sondern der Überfluß. Über diese Sache will ich meine eigene Erfahrung mitteilen. Ich habe in dreierlei verschiedenen Umständen gelebt, nachdem ich aufgehört hatte, ein Kind zu sein. Die erste Zeit, die ungefähr zwanzig Jahre gedauert haben mag, brachte ich hin, ohne etwas anderes zu haben, als was vom Zufall und von dem guten Willen anderer abhing, und ohne im geringsten etwas Sicheres und Ausgemachtes, worauf ich rechnen können. Dem ungeachtet gingen meine Ausgaben ihren lustigen Gang fort und machten mir umso weniger Sorgen, weil sie ganz auf der Verwegenheit des Glücks beruhten. Ich war niemals besser daran. Nie fand ich den Beutel meiner Freunde vor mir verschlossen. Ich wußte von keiner anderen Not, als die ich mir selbst machte; die Not, auf den Tag mit der Zahlung einzuhalten, den ich mir gesetzt hatte, welchen sie mir tausendmal weiter hinausgesetzt haben, weil sie die Mühe sahen, die ich mir gab, Termin zu halten; so daß mich meine Ehrlichkeit sparsam, aber nicht knickerig machte.

Ich fühle von Natur eine große Wollust im Bezahlen, gleichsam als ob ich eine drückende Last von meinen Schultern und das Zeichen dieser Dienstbarkeit abwürfe; ebenso wie mir wohl ums Herz wird, wenn ich eine gerechte Handlung ausrichte und jemandem einen Gefallen tue. Die Zahlungen nehme ich jedoch aus, wobei es zu feilschen und abzudingen gibt; denn, wenn ich niemand zu finden weiß, dem ich solche auftragen kann, so schiebe ich sie schändlicher- und unbilligerweise solange auf, als ich nur kann, aus Furcht vor dem Gezänke, womit meine Laune und mein Ton der Sprache sich gar nicht vertragen. Ich hasse nichts so arg als dies Dingen; es ist ein bloßes Gewerbe der Prellerei und der Unverschämtheit. Nach einer Stunde Ablassens und Zulegens vergißt der eine und der andre sein Wort und seinen Schwur um fünf Dreier mehr oder weniger. Und wenn ich mit Schaden borgte (denn wenn ich nicht das Herz hatte, jemand mündlich anzusprechen, so setzte ich das Gesuch zu Papier, welches nicht eben großen Eindruck zu machen pflegt und das Verweigern sehr erleichtert), nun so legte ich die Führung meines Handels viel unbesorgter und freier in die Hände eines anderen, als ich's nachher in meine eigene Klugheit und Vorsichtigkeit getan habe. Die meisten Haushälter halten es für etwas sehr Schlimmes, so aufs ungewisse zu leben, und bedenken erstlich nicht, daß der größte Haufen der Menschen auf keine andere Art lebt. Wie viele ehrliche Männer haben nicht ihr gewisses Einkommen an den Nagel gehängt und tun es noch täglich, um den Wind der Gunst des Königs oder des Glücks zu suchen? Cäsar steckte sich in Schulden von einer Million Goldes mehr, als sein Vermögen betrug, um Cäsar zu werden. Und wie viele Kaufleute beginnen nicht ihr Gewerbe mit dem Verkauf ihres Meierhofes, um das Geld nach Indien zu schicken!

Tot per impotentia freta17!

Bei einer so großen Dürre an Frömmigkeit haben wir tausend und aber tausend Klöster, die ganz gemächlich daran sind, ob sie gleich täglich von der Freigebigkeit des Himmels erwarten, daß er sie speisen werde. Zweitens, so erwägen sie nicht, daß das gewisse Einkommen, worauf sie sich verlassen, nicht viel weniger ungewiß ist als die Ungewißheit selbst.

Bei mehr als zweitausend Talern Einkommen sehe ich den Mangel ebenso nahe, als ob er mir schon auf den Versen wäre. Denn überdem, daß das Schicksal Mittel hat, der Armut hundert Öffnungen durch den Reichtum zu machen, indem oft zwischen dem höchsten und niedrigsten Glücksstand kein Finger breit Raum ist: Fortuna vitrea est: tum, cum splendet, frangitur18.

Das Schicksal kann alle unsre Graben und Wälle, wohinter wir uns schützen wollen, gar leicht zerstören; ich finde, daß der Mangel, aus verschiedenen Ursachen, sich ebenso gewöhnlich bei solchen Personen einstellt, welche Vermögen haben, als bei denen, welche keins haben; und daß er allenfalls noch weniger drückend ist, wo er allein hauset, als wo er sich in Gesellschaft des Reichtums antreffen läßt. Reichtum besteht mehr in der Ordnung als in der Einnahme: Faber est suae quisque fortunae19. Und scheint mir ein Reicher, der zurückkommt, in Mangel und Geldverlegenheit gerät, viel elender daran zu sein als einer, der geradezu arm ist. In divitiis inopes, quod genus egestatis gravissimum est20.  Die größten und reichsten Prinzen werden gewöhnlich von Mangel und Armut in die äußerste Not versetzt. Denn kann eine Not größer sein als die, vermöge welcher man ein Tyrann wird und ein ungerechter Räuber der Güter der Untertanen?

Meine zweite häusliche Epoche war, da ich Geld hatte. Nachdem ich dazu gelangt war, sparte ich sehr bald für meine Umstände einen ansehnlichen Notpfennig zusammen. Denn ich meinte, man habe noch wenig, solange man nicht mehr habe, als die laufenden Ausgaben erfordern, noch daß auf solche Einnahmen zu rechnen stünde, die erst künftig fallen, so ausgemacht sie übrigens auch sein möchten. Denn, sagte ich, wie nun, wenn mir dieser oder jener Zufall überkäme? Und zufolge dieser eitlen und törichten Einbildungen tat ich dann sehr klügliche Vorkehrungen, durch mein unnützes Zurücklegen, gegen alle Zufälle; und konnte auch wohl jemandem, der mir zu Gemüt führen wollte, daß die Möglichkeit der Zufälle ins Unendliche ginge, antworten: wenn's dann auch nicht gegen alle zureichte, so würde es doch gegen einige und manche dienen. Dies Sparen ging nun nicht ohne viele Sorgen ab. Ich machte daraus ein Geheimnis, und so dreist ich oft bin, ein langes und breites von mir selbst zu schwätzen, so sprach ich doch von meinem Geld nicht anders als im Traum; wie diejenigen tun, welche sich arm träumen, wenn sie reich, und reich, wenn sie arm sind und ihr Gewissen von der Aufrichtigkeit freisprechen sich merken zu lassen, was sie eigentlich haben. Schändliche und lächerliche Vorsichtigkeit! Tat ich eine Reise, so meinte ich niemals Geld genug bei mir zu haben; und mit je mehr Geld ich mich beladen hatte, umso mehr hatte ich meine Furcht vermehrt: bald traute ich der Sicherheit der Heerstraßen nicht; bald nicht der Treue der Leute, welche mein Gepäck führten; und niemals war ich über meine Sachen ruhig (und ich kenne andre, denen es nicht besser geht), als wenn ich sie unter meinen eigenen Augen hatte! Ließ ich meine Schatulle daheim, was setzte es da nicht für Argwohn und quälendes Mißtrauen, welches ich, was noch das ärgste war, mir nicht einmal merken lassen durfte! Nach dieser Seite hingen stets meine Gedanken. Alles genau berechnet, kostet es immer mehr Müh und Sorge, Geld zu bewahren als zu erwerben. Wenn ich eben nicht alles das tat, was ich hier sage, so kostete mich's doch Mühe, es zu unterlassen. Bequemlichkeiten schaffte ich mir davon wenig oder gar keine. Ich konnte nun meine Ausgaben ganz wohl bestreiten, aber sie gingen mir nicht williger aus der Hand. Denn wie Bion sagte, der Dickhaarige nimmt es ebenso übel, als der eine Glatze hat, wenn man ihm Haare ausrauft. Und hat man sich einmal dazu gewöhnt und seinen Sinn auf einen Geldhaufen gesetzt, so steht er nicht mehr zu unserm Dienst; man getraut sich nicht, ihn anzurühren. Es ist ein Gebäude, welches nach unserer Meinung zusammenstürzen würde, wenn man nur einen Finger daran legte. Die Not müßte einem an der Kehle packen, um ihn anzubrechen, und vorher versetzte ich meine Kleider und andre Sachen und verkaufte mein Reitpferd und ließ mir's weit weniger zu Herzen gehen als damals, wenn ich einen kleinen Griff in diesen Lieblingsbeutel tat, den ich beiseite gelegt hatte. Das Gefährlichste dabei aber war, daß man dieser Sucht schwerlich Grenzen setzen (sie sind immer bei Sachen, die man für gut hält, sehr schwer zu finden!) oder den rechten Punkt im Sparen treffen kann. Man geht stets darauf aus, den Haufen zu vergrößern, man trägt ein Sümmchen nach dem anderen hinzu und versagt sich darüber wohl gar, niederträchtigerweise, den Genuß seines eigenen Vermögens, oder man setzt diesen Genuß darin, ihn zu bewachen, nicht zu benutzen. Nach dieser Art des Genusses zu urteilen, sind die Menschen, welche amtshalber die Wälle und die Pforten einer begüterten Stadt bewachen, die reichsten von der Welt.

Jedermann, der viel bar Geld besitzt, ist nach meiner Meinung geizig. Plato ordnet die leiblichen oder menschlichen Güter folgender Gestalt: die Gesundheit, die Schönheit, die Leibesstärke, den Reichtum; und der Reichtum, sagt er, ist gar nicht blind, sondern sehr hellsehend, wenn er von der Klugheit erleuchtet wird. Dionysius der Jüngere, hatte einen guten Einfall. Man gab ihm Nachricht, daß ein Bürger seiner Stadt Syrakus einen Schatz in die Erde vergraben habe. Er ließ ihm befehlen, ihm diesen Schatz zu bringen; dies tat der Mann, behielt aber einen Teil davon heimlich für sich, womit er nach einer anderen Stadt ging, woselbst er, da ihm die Lust am Sammeln vergangen war, ein gemächlicher Leben führte. Als Dionysius davon hörte, ließ er ihm das übrige seines Schatzes wieder zustellen und sagen: Weil er damit umgehen gelernt hätte, so gäbe er ihm solchen gern wieder.

In diesen Umständen war ich einige Jahre. Ich weiß nicht, welcher gute Geist mich herausriß und mir den ganzen Spartopf, wie Dionysius dem Bürger von Syrakus, zum freien Gebrauch übergab. Das Vergnügen einer gewissen Reise, die mit großen Kosten verbunden war, hatte mich diese einfältige Grille unter die Füße treten lassen, wodurch ich in eine dritte Art von Lebensweise verfallen bin (ich spreche nach meinem Gefühl), die gewiß viel angenehmer und viel ordentlicher ist. Sie besteht darin, daß ich meine Ausgaben mit meiner Einnahme gleich laufen lasse. Zuweilen ist die eine ein wenig voraus, zuweilen die andre; aber so, daß sie sich immer leicht einholen können.

Ich lebe von der Hand in den Mund und bin zufrieden, daß ich so viel habe, als zu meinen gegenwärtigen und täglichen Bedürfnissen erfordert wird. Zu den außerordentlichen – ja, da reichen alle Vorräte in der Welt nicht zu! Und es wäre unklug, zu erwarten, daß uns das Glück hinlängliche Waffen gegen sich selbst in die Hände geben werde. Wollen wir es bekämpfen, so muß es mit unseren eigenen Waffen geschehen. Die zufälligen werden uns entstehen, wenn es zum Treffen kommt. Wenn ich spare, so geschieht es bloß in Hinsicht auf einen nahen Einkauf; und nicht auf einen Ankauf von Gütern, deren ich nicht bedarf, sondern um Vergnügen zu kaufen. Non esse cupidum, pecunia est; non esse emacem, vectigal est21.  Ich besorge eben nicht, daß mir's am Nötigen fehle; habe auch keine Begier, es zu vermehren. Divitiarum fructus est in copia, copiam declarat satietas22.  Und es ist mir sehr lieb, daß mir diese Weisung in einem Alter geworden sei, das so natürlich zum Geize geneigt ist; und daß ich mich von einer Torheit befreit finde, wel che dem Alter so gewöhnlich und zugleich die lächerlichste von allen menschlichen Torheiten ist.

Feraules, der beide Glückspunkte durchlaufen war und befunden hatte, daß der Zuwachs an Vermögen nicht immer einen Zuwachs an Appetit zum Essen, Trinken und Umarmen mit sich bringe, und der auf der anderen Seite die Last des Haushaltens auf seinen Schultern empfunden hatte (so wie's auch bei mir geht), entschloß sich, einen jungen Menschen, der sein Freund, aber arm war und dem Glück nachjagte, glücklich zu machen, und machte ihm ein Geschenk von seinem ganzen Vermögen, das unermeßlich groß war, mit dem Zusatz alles dessen sogar, was er noch täglich von der Freigebigkeit seines gütigen Herrn und durch den Krieg erhalten möchte; unter der Bedingung, daß er ihn dagegen als einen Freund und Gast ehrlich halten sollte. Sie lebten hernach auf diesem Fuß sehr glücklich, und beide gleich zufrieden über die Vertauschung ihrer Glücksumstände.

Das war einmal ein Handel, den ich herzlich gern nachmachen möchte. Und lobe ich mir nicht wenig das Glück eines alten Prälaten, von dem ich weiß, daß er sich ganz rein seines Säckels und seiner Ausgabe und Einnahme begeben, und zuweilen einem ausgewählten Bedienten, zuweilen einem anderen übertragen hat; wobei er eine ziemliche Anzahl Jahre hingebracht, ebenso unwissend in dieser Art von Haushaltungsgeschäften als ein Fremder.

Das Vertrauen in die Redlichkeit anderer ist kein geringer Beweis von eigener Redlichkeit; und Gott pflegt es gewöhnlich zu begünstigen; deswegen wüßte ich kein Haus, das ordentlicher und in allem Betracht würdiger und mit mehr Anstand geführt würde als das Haus dieses Prälaten. Glücklich derjenige, der nach einem so richtigem Maßstab seine Bedürfnisse geordnet hat, daß seine Reichtümer für seinen Gebrauch und seine Notdurft zureichen und daß ihre Anwendung ihn nicht in seinen übrigen Geschäften störe, denen er ruhig, mit Anstand und Beifall seines Herzens vorsteht. Wohlstand oder Mangel hängen also ab von der Meinung eines jeden. Und ebenso bringen Reichtum, Gesundheit und Ruhm nur gerade so viel Vergnügen und Behagen, als derjenige hineinlegt, der sie besitzt. Jedem ist wohl oder weh, je nachdem er sich darin zu finden weiß. Nicht derjenige ist zufrieden, von dem man es glaubt, sondern derjenige, der es selbst glaubt. Hierin allein gibt sich der Glaube Wesen und Wahrheit.

Das Glück tut uns weder wohl noch übel: es gibt uns dazu bloß den Stoff und den Samen, die unsre Seele, die mächtiger ist als das Glück, nach ihrem Gefallen bearbeitet und anwendet; denn nur sie allein ist Urheberin und Schöpferin ihres glücklichen oder unglücklichen Befindens. Die äußern Zufälligkeiten neh men Geschmack und Farbe an von der innern Beschaffenheit. So wie die Kleider uns nicht mit ihrer eigenen Wärme erwärmen, sondern mit der unsrigen, welche sie zusammenzuhalten und zu vermehren geschickt sind. (Wer damit einen kalten Körper bedeckte, der würde damit der Kälte eben den Dienst der Vermehrung und Erhaltung tun, denn auf diese Weise erhält man den Schnee und das Eis.) Gewiß, es geht mit allem so zu, wie damit, daß einem Faulen das Studieren eine Plage, dem Trunkenbold die Enthaltung von starken Getränken peinlich, dem Leckermaul eine mäßige Mahlzeit eine Strafe und dem Weichling Leibesübungen eine Marter ist: So ist es mit allem übrigen. Die Dinge sind an und für sich selbst nicht so schwer, so schmerzhaft, sondern unsere Schwäche und Schlaffheit macht sie dazu. Um über große und erhabene Sachen zu urteilen, wird eine große erhabene Seele erfordert, sonst leihen wir ihnen unsere eigene Kleinheit. Ein gerades Ruder scheint im Wasser gebrochen. Es tut's nicht allein, die Sachen zu sehen, sondern darauf kommt's an, wie man sie ansieht!

Nun aber möcht' ich fragen: Warum, nach so vielen Gründen, wodurch man die Menschen auf so mancherlei Weise überredet, den Tod zu verachten und die Schmerzen zu ertragen, wir niemand finden, der beides an unsrer Statt übernehmen will? Und warum unter so manchen Gedanken, um solches anderen zu überreden, nicht ein jeder noch einen für sich selbst hinzufüge, der sich für seine Laune schicke? Wenn ein Magen die starke Arznei nicht vertragen kann, die sein Übel an der Wurzel anzugreifen und vom Grunde aus zu heilen vermag, so gebe man ihm doch wenigstens Lenitive, die ihm Linderung schaffen! Opinio est quaedam effeminata ac levis, nec in dolore magis, quam eadem in voluptate: qua cum liquescimus fluimusque mollitia, apis aculeum sine clamore ferre non possumus ... Totum in eo est, ut tibi imperes23. Übrigens hintergeht man die Philosophie dadurch nicht, daß man die Schmerzen über alle Maßen bitter und der Schwäche der Menschheit unerträglich vorzustellen sucht. Denn man nötigt sie dadurch nur zu dieser unwiderlegbaren Antwort: Wenn es unerträglich ist, in Not und Elend zu leben, so ist doch wenigstens in Not und Elend zu leben keine Not vorhanden. Niemand ist lange elend als durch seine eigene Schuld. Wer nicht Herz genug hat, weder das Leben noch den Tod zu ertragen, wer weder fliehen noch widerstehen will, was ist für den zu tun?

Von der Angewohnheit und von der Mißlichkeit, gewohnte Gesetze zu ändern.

Derjenige hat meiner Meinung nach die Macht der Gewohnheit sehr richtig eingesehen, welcher zuerst die Erzählung24 erfand: eine Bauersfrau habe ein Kalb in der Stunde, da es geboren worden, auf den Arm genommen und gestreichelt, und da sie mit diesen Liebkosungen täglich fortgefahren, sei sie durch die Gewohnheit dahin gelangt, daß sie dasselbe Tier noch auf den Armen getragen, zu einem so großen Ochsen es auch herangewachsen sei.

Denn es ist wahrlich eine heftige und listige Schulmeisterin, diese Gewohnheit! Ganz unvermerkt setzt sie sich bei uns auf den Fuß der Herrschaft; hat sie aber mit Hilfe der Zeit diesen sanften und unvermerkten Anfang genommen, so zeigt sie uns nach und nach ein trotziges und tyrannisches Gesicht, gegen welches wir nicht einmal ferner die Freiheit behalten, unsere Augen aufzuschlagen. Bei jeder Gelegenheit sehen wir sie die Regeln der Natur überwältigen. Usus efficacissimus rerum omnium magister25. Dies läßt noch an die Höhle des Plato in seiner Republik glauben und macht es mir begreiflich, wie die Ärzte so oft, ihrer Herrschaft zufolge, die Gründe ihrer Kunst beiseite setzen können und wie jener König durch ihre Hilfe seinen Magen dergestalt einzurichten vermochte, daß er endlich vom Gift sich nähren konnte, und wie das Mädchen, von dem Albertus erzählt, sich gewöhnen konnte, von Spinnen zu leben. Und wie man in der neuen indischen Welt, unter ganz verschiedenen Himmelsstrichen, große Völkerschaften fand, welchen sie zur Speise dienten, die solche sammelten und einmachten, ebenso wie Heuschrecken, Ameisen, Eidechsen und Fledermäuse, und daß bei einer großen Teuerung eine Kröte um sechs Reichstaler verkauft wurde. Man kocht sie dort und richtet sie an mit allerlei Brühen. Man hat andere Völker angetroffen, denen unsere Fleischspeisen giftig und tödlich waren. Consuetudinis magna vis est. Pernoctant venatores in nive; in montibus uri se patiuntur; pugiles caestibus contusi ne ingemiscunt quidem26.

Diese wundersamen Beispiele verlieren ihr Wundersames, wenn wir beherzigen, wie es uns ganz gewöhnlich geht und wie die Gewohnheit unsere Sinne stumpft. Wir dürfen nicht erst auf Reisen gehen, um zu erfahren, was man von den Einwohnern in der Nähe der Katarakte des Nils erzählt, und um uns von dem zu überzeugen, was die Philosophen von der Harmonie der Sphären meinen. Die Körper dieser Kreise, die fest, dicht und glatt sind, können, indem sie sich berühren und im Vorüberfahren sich reiben, nicht fehlen, eine bewunderungswürdige Harmonie zu erregen, nach deren Rhythmus sich die Wendungen und Gänge der Sterne in ihrem Tanz richten; aber das Gehör der Geschöpfe dieses Erdbodens ist durch die ununterbrochene Dauer dieses Klanges so wie die Ägypter von den Katarakten betäubt, und sie können nichts davon vernehmen, so stark er auch übrigens sei. Die Schmiede, Tischler, Blechschläger und Faßbinder könnten das Geräusch, das sie machen, nicht aushalten, wenn es ihnen ebenso stark gellte als uns.

Mein Riechkissen dient meiner Nase; wenn ich es aber nur drei Tage hintereinander im Busen getragen habe, so dient es nur den Nasen meiner Gesellschafter. Dies hier ist noch seltsamer, daß ungeachtet der langen Zwischenzeiten und großen Lücken die Angewohnheit ihre Eindrücke auf unsere Sinne fortpflanzen und erhalten kann; wie es diejenigen erfahren, die in der Nähe von einem Glockengeläute wohnen. Ich habe meine Wohnung in einem Turm, worin eine große Glocke hängt, die bei jedem Auf- und Niedergang der Sonne zum Gebet läutet. Mein Turm selbst fährt zusammen von dem Getöne, und mir schien es die ersten Tage unausstehlich. Nicht lange, so ward ich dergestalt daran gewöhnt, daß ich's höre, ohne darauf zu achten und oft nicht einmal davon aufgeweckt werde. Plato gab einem Kinde, das mit Nüssen spielte, darüber einen Verweis. Dies antwortete: Du brummst auch mit mir um eine Kleinigkeit. Angewohnheit, versetzte Plato, ist keine Kleinigkeit.

Ich finde, daß unsere größten Laster schon in unserer zartesten Kindheit ihre Falten legen und daß unsere hauptsächlichste Erziehung in den Händen der Säugammen liegt. Den Müttern ist's ein Zeitvertreib, mit anzusehen, wie ein Kind einem Hündchen den Hals umdreht oder sich brav tummelt, um einen Hund oder eine Katze zu prügeln oder zu plagen; und mancher Vater ist so dumm, es für ein Zeichen einer kriegerischen Seele zu halten, wenn sein Sohn einen Bauern oder einen Lakaien mißhandelt, die sich nicht wehren dürfen, und für feinen Verstand, wenn er seine Gespielen durch Bosheit und Ränke überlistet. Dies sind gleichwohl die wahren Keime und Wurzeln der Grausamkeit, der Tyrannei und der Treulosigkeit; sie bestocken sich, wachsen lustig in die Höhe und gedeihen gewaltig unter den Händen der Gewohnheit.

Es ist eine gefährliche Lage, dergleichen schändliche Neigungen mit der Schwäche des kindischen Alters oder mit seinem Leichtsinn zu entschuldigen. Erstlich, so ist es die Natur, welche spricht; deren Stimme in diesem Alter umso reiner und inniger tönt, je feiner und unausgebildeter sie ist. Zweitens liegt die Scheußlichkeit des Betruges nicht in dem Verhältnis eines Talers zu einer Nadel, sie liegt im Betruge selbst. Ich halte es für richtiger, folgendermaßen zu schließen: Warum sollte er nicht bei Talern betrügen, wenn er sogar bei Nadeln betrügt, als, so wie sie tun: er betrügt ja nur um Nadeln, bei Talern wird er sich wohl davor hüten! Man muß die Kinder sorgfältig lehren, die Laster hassen ihrer selbst wegen, und ihnen ihre Häßlichkeit recht anschaulich machen, damit sie vor ihnen fliehen, nicht nur im Handel allein, sondern vorzüglich auch solche im Herzen verabscheuen; daß ihnen selbst der Gedanke daran zuwider sei, was für eine Larve sie auch vornehmen mögen.

Ich weiß recht gut, daß, weil ich mich in meinen Knabenjahren daran gehalten habe, beständig meinen geraden gebahnten Weg fortzugehen, und keinen Spaß daran fand, in meinen kindischen Spielen Pfiffe oder Kniffe zu gebrauchen (wie man denn in der Tat wohl zu merken hat, daß Kinderspiele keine Spiele, sondern an sich betrachtet für Kinder die ernsthaftesten Beschäftigungen sind); es noch jetzt keinen leichten Zeitvertreib gibt, bei dem ich nicht, ohne Nachdenken und aus bloß natürlichem Hang, mit Aufrichtigkeit und vollem Widerwillen gegen List zu Werke gehe. Ich spiele meine Karten mit ebenso viel Überlegung um bloße Marken und rechne so scharf, als ob ich um Goldstücke spielte; selbst dann, wenn es mit meiner Frau und meinen Kindern gleichgültig ist, ob ich gewinne oder verliere, bin ich so genau, als wann es im Ernst ginge. Es ist mir durchgängig genug an meinen eigenen Augen, mich vor bösen Künsten zu hüten. Keine Fremden können mich so genau in Aufsicht halten. Es gibt auch keine anderen, für die ich größeren Respekt hätte.

Ich habe noch neulich einen kleinen Mann, gebürtig aus Nantes, in meinem Hause gehabt, der ohne Arme geboren ist, welcher seine Füße dergestalt auf den Dienst abgerichtet hat, den ihm seine Hände leisten sollen, daß sie wirklich darüber die Hälfte ihrer natürlichen Verrichtungen vergessen haben. Im übrigen nennt er sie seine Hände; er handhabt damit Schere und Messer, er ladet eine Pistole und schießt sie los. Er fädelt eine Nadel ein, näht und schreibt; er nimmt seinen Hut ab, kämmt sich, spielt Karten und Würfel und rüttelt sie im Becher, mit ebenso viel Geschicklichkeit wie irgendein Spieler. Das Geld, welches ich ihm gab, nahm er mit einem Fuß, wie wir's in die Hand zu nehmen pflegen. Ich erinnere mich eines anderen, der, schon als Kind noch, da ihm die Hände fehlten, zwischen Kinn und Hals einen Degen und eine Hellebarde führte, sie in die Luft warf und wieder auffing, einen Dolch warf und mit der Peitsche knallte wie der beste Fuhrmann im Reich. Man entdeckt aber die Wirkung der Gewohnheiten weit besser an den sonderbaren Eindrücken, die sie auf unsere Seele macht, wo sie nicht so viel Widerstand zu überwinden hat. Was vermag sie nicht über unser Urteil und unseren Glauben! Gibt's wohl eine Meinung, die seltsam genug sei – ich spreche nicht von den groben Täuschungen, womit sich große Nationen und sehr klug dünkende Männer haben trunken machen lassen (denn, da dieser Teil außerhalb den Grenzen unserer menschlichen Vernunft liegt, so ist es zu entschuldigen, wenn man sich hier verirrt, insofern einer nicht außerordentlicherweise darin durch göttlichen Beistand erleuchtet worden), sondern von anderen Meinungen nur –, gibt es wohl welche, die seltsam genug gewesen wären, um sich nicht allenthalben, wo man es darauf anlegte, als Gesetz, als Wahrheit festzusetzen und fortzupflanzen? Und ist daher die alte Deklamation sehr gerecht: Non pudet physicum, id est, speculatorem venatoremque naturae, ab animis consuetudine imbutis quaerere testimonium veritatis27.

Ich bin überzeugt, es falle in die menschliche Einbildung keine so sinnlose Grille, die nicht hier oder dort öffentlich im Schwange gehe und die also gewissermaßen von unserer Vernunft gebilligt und gutgeheißen werde. Es gibt Nationen, bei denen man sich mit dem Rücken gegen denjenigen kehrt, welchen man grüßen will, und den, den man ehren will, niemals ansieht. Es gibt andere, wo, wann der König ausspuckt, die Dame an seinem Hofe, die am meisten seine Gunst hat, ihm ihre Hand vorhält; und noch eine andere Völkerschaft, wo die Vornehmsten, die ihn umgeben, sich zur Erde beugen, um in Leinwand aufzufangen, was er verdaut fallen läßt. Ich bitte hier um Raum, um eine Erzählung einzuschalten!

Ein Französischer vom Adel, der wegen seiner witzigen Ausreden berühmt war, schneuzte sich beständig mit der Faust, eine Gewohnheit, die sich mit unseren Sitten gar nicht verträgt. Dieser, als er sich eines Tages darüber gegen mich rechtfertigen wollte, fragte mich, was für ein Privilegium dieser schmutzige Auswurf hätte, daß wir selbigem ein sauberes Stück Leinwand bereithielten, um ihn aufzufangen und ihn nachher einwickelten und sorgfältig in unseren Taschen aufbewahrten. Das müßte einem Menschen doch mehr Ekel erregen als anzusehen, daß man ihn hinwürfe, wo man Platz dafür fände, wie wir es mit allen übrigen Unreinlichkeiten hielten. Ich fühlte, daß er nichts weniger als unvernünftig sprach und daß nur die Gewohnheit mich das Seltsame im Gebrauch übersehen lassen, welches wir gleich so höchst abscheulich finden, wenn es von fremden Ländern erzählt wird. Die Wunderwerke und Wunderbegebenheiten bestehen in der Unwissenheit, in welcher wir uns über die Natur befinden und nicht in der Natur selbst. Was wir immer vor Augen haben, schläfert unser Urteil ein. Die ungesitteten Nationen wundern sich ebenso sehr über uns, als wir uns über sie wundern, und zwar mit ebenso viel Recht, wie ein jeder eingestehen würde, wenn er, nachdem er die Beispiele aus der Fremde durchlaufen hätte, nun auch die einheimischen durchzuprüfen und unparteiisch gegeneinander zu halten verstünde.

Die menschliche Vernunft ist eine Färberlauge, die ungefähr in gleichem Maße allen unseren Meinungen und Sitten beigemischt ist, von welcher Art solche sein mögen. Unendlich in der Materie, unendlich in der Abweichung. Ich nehme den Faden wieder auf. – Es gibt Völker, wo niemand mit dem Könige redet, seine Frau und Kinder ausgenommen, als durch ein Sprachrohr. Eine Nation, wo die Jungfrauen ihre Geburtsteile öffentlich zur Schau tragen, die verheirateten Weiber solche hingegen sorgfältig, bedecken und verbergen. Dahin gehört denn auch die andere mit ihr verwandte Sitte, wobei die Keuschheit nur im Ehestand geschätzt wird, denn die Jungfrauen dürfen sich jedem überlassen, und wenn sie befruchtet sind, dürfen sie nach eigenem Gefallen durch dienliche Mittel die Frucht abtreiben. Und wieder anderwärts werden, wenn derjenige, der eine Frau nimmt, ein Kaufmann ist, alle Kaufleute zur Hochzeit geladen, um vor dem Bräutigam die Braut zu erkennen, und die Braut gewinnt umso mehr Ehre und Ansehen wegen ihrer Dauer und Fähigkeit, umso größer die Anzahl der Gäste ist. Ist nun der Bräutigam ein Offizier, nun so werden die Gäste von seinen Kameraden genommen. Ebenso, wenn es einer vom Adelstand ist und so immer fortan. Ausgenommen, wenn es ein Bauer oder sonst einer aus der niederen Volksklasse ist; denn in diesem Falle liegt das Werk dem Gutsherrn ob. Bei alledem wird bei diesem Volk die eheliche Treue im Ehestand aufs nachdrücklichste empfohlen.

Man weiß von Ländern, wo man Jünglinge auf der Streu hält, ja von Ehen zwischen Mann und Mann. Von Ländern, wo die Weiber ebensogut als ihre Männer in den Krieg ziehn und ihren Rang haben, nicht nur in der Schlacht, sondern auch zu Befehlshaberstellen; bei denen man nicht nur in der Nase, in den Lippen, in den Wangen, an den Zehen Ringe trägt, sondern goldene Spangen von schwerem Gewicht durch die Brüste und Lenden; wo man beim Essen die Finger an den Hüften, an gewissen behaarten Teilen und an den Fußsohlen abwischt. Bei anderen erben die Kinder nicht, sondern die Brüder und Vettern; und anderwärts allein die Vettern, ausgenommen bei der Erbfolge des Fürsten; von anderen noch, wo, um die Gemeinschaft der Güter, die bei ihnen eingeführt ist, in Kraft zu erhalten, gewisse hohe, obrigkeitliche Personen gesetzt sind, die Aufsicht über den gesamten Ackerbau zu führen und die Früchte des Landes nach eines jeden Bedürfnis zu verteilen. Wo man über den Tod der Kinder trauert und übler den Tod der Greise Freudenfeste veranstaltet. Wo ihrer zehn oder zwölf mit ihren Weibern in einem Bett schlafen. Wo die Weiber, die ihre Männer durch einen gewaltsamen Tod verlieren, wieder heiraten dürfen, die anderen aber nicht. Wo man den Zustand der Weiber für so elend achtet, daß man die Mägdlein, welche unter ihnen geboren werden, tötet und von den benachbarten Nationen die Weiber kauft, deren man benötigt ist. Wo die Männer sich von ihren Weibern scheiden können, ohne eine Ursache anzugeben, die Weiber aber gar nicht, was für Ursach sie auch hätten. Wo die Männer nach dem Gesetz ihre Weiber verkaufen können, wenn sie unfruchtbar sind.

Länder, wo sie die Leichname der Verstorbenen kochen und hernach solange stampfen, bis es eine Art von Brühe gibt, die sie zu ihrem Wein mischen und trinken. Wo das wünschenswürdigste Begräbnis ist, von Hunden gefressen zu werden: so wie anderwärts von den Vögeln. Wo man glaubt, daß die Seelen der Verstorbenen in aller Freiheit leben, in angenehmen Gefilden, mit allen erwünschten Bequemlichkeiten versehen, und daß diese es sind, welche das Echo machen, das wir hören. Wo sie im Wasser fechten und schwimmend mit ihren Pfeilen sicher treffen. Wo man, zum Zeichen der Untertänigkeit, die Schultern in die Höhe ziehn, den Kopf senken und die Schuhe von den Füßen ziehen muß, wenn man in die Wohnung des Königs tritt. Völker, die den Beschnittenen, die ihre Priesterinnen bewachen, auch noch Nase und Lippen wegschneiden, damit sie nicht geliebt werden können, und bei denen die Priester sich die Augen ausstechen, um Geister zu sehn und die Orakel fragen zu können.

Völker, wo jedermann aus jedem ihm beliebigen Ding einen Gott machen kann. Der Jäger aus einem Löwen oder aus einem Fuchs; der Fischer aus gewissen Fischen, und Götzenbilder aus jeder Handlung und Leidenschaft des Menschen. Sonne, Mond und Erde sind die vornehmsten Götter. Wo die Eidesformel darin liegt, daß man die Erde berührt und die Sonne anschaut; wo man Fleisch und Fisch roh und ungekocht ißt. Wo der heiligste Eid darin besteht, daß man den Namen eines Verstorbenen ausspricht, der im Lande einen guten Nachruhm hat, und sein Grab mit der Hand berührt.

Wo das Neujahrsgeschenk, das der König jedesmal seinen Prinzen und Großen des Reiches sendet, in Feuer besteht, bei dessen Ankunft alles alte Feuer ausgelöscht werden muß und alles Volk umher gehalten ist, davon für sich zu holen, bei Strafe des Verbrechens der beleidigten Majestät.

Wo, wenn der König sich ganz der Andacht widmen will und den Zepter niederlegt, wie oft der Fall ist, sein erster Thronerbe genötigt ist, eben dasselbe zu tun und der Thron, nach dem Recht, auf den dritten Erben fällt. Wo man die Reichsverfassung verändert, je nachdem es die Umstände zu erheischen scheinen. Wo man den König absetzt, wenn es gut zu sein scheint; wo man an seiner Statt Älteste ernennt, um das Staatsruder zu führen, und es gar zuweilen in den Händen der Gemeinde läßt. Wo Männer und Weiber beschnitten und ebenfalls getauft werden. Wo ein Soldat, der in einer oder mehr Schlachten es so weit gebracht hat, dem Könige sieben feindliche Köpfe zu überreichen, in den Adelstand erhoben wird. Wo man unter der so ungeselligen und so seltenen Meinung von der moralischen Würde der Seele lebt, daß man sie für sterblich hält. Wo die Weiber ohne Klagen und ohne Furcht gebären.

Wo das Frauenzimmer an beiden Beinen Stiefel von Kupfer trägt und aus Pflicht der Seelengröße verbunden ist, wenn es eine Laus beißt, solche wieder zu beißen, und sich nicht unterwinden dürfen, zu heiraten, bevor sie ihrem König, wenn er's verlangt, ihre Jungfernschaft angeboten haben.

Wo man grüßt, indem man mit dem Finger die Erde berührt und ihn darauf wieder gegen den Himmel ausstreckt. Wo die Mannspersonen Lasten auf dem Kopf, Frauenzimmer solche aber auf den Schultern tragen. Wo die Weiber stehend, die Männer aber hockend die Blasen erleichtern. Wo man zum Zeichen der Freundschaft etwas von seinem eigenen Blut schenkt und denjenigen wie einen Gott räuchert, den man ehren will. Wo man nicht nur bis zum vierten Grad, sondern auch bis zu allen ferneren Graden der Verwandtschaft die Heirat verbietet. Wo man die Kinder vier Jahre an der Brust läßt, oft auch zwölf, und ebendaselbst es für tödlich hält, das Kind den ganzen ersten Tag an die Brust zu nehmen. Wo die Väter das Amt haben, die Söhne zu züchtigen, und die Mütter allein wieder die Töchter, und die Strafe darin besteht, die mutwilligen bei den Beinen aufgehängt zu beräuchern. Wo man das weibliche Geschlecht beschneidet. Wo man alle Arten von Kräutern ißt, ohne anderen Unterschied, als daß man nur die verwirft, welche schlecht zu riechen scheinen. Wo alles offensteht, wo in den Häusern, sie mögen noch so prächtig sein, weder Fenster noch Türen sind, auch keine Schränke oder dergleichen, was man verschließen könne; und wo die Diebe doppelt bestraft werden wie anderwärts. Wo sie die Läuse mit den Zähnen töten, gleich Hunden und Affen und es für grausam halten, sie mit dem Daumen zu knicken. Wo man sich lebenslang weder Haar noch Nägel beschneidet, und anderwärts, wo man die Nägel nur an der Rechten abschneidet und aus Staat die an der Linken wachsen läßt.

Wo man das Haupthaar an der rechten Seite des Körpers verpflegt, zum besten Wachstum, und an der anderen Seite unterm Schermesser hält. Wo, in benachbarten Provinzen, diese hier das Haupthaar vorne, jene das hintere wachsen lassen und die Gegenseite scheren. Wo die Väter ihre Kinder und die Männer ihre Eheweiber ihren Gästen gegen Bezahlung zum Gebrauch verleihen. Wo man seine eigene Mutter mit allen Ehren fruchtbar machen kann und die Väter sich mit ihren Töchtern und Söhnen begatten. Wo sie bei festlichen Versammlungen einander ihre Kinder leihen und keine Rücksicht auf Verwandtschaft nehmen.

Hier lebt man von Menschenfleisch, dort ist es kindliche Pflicht, seinen Vater in einem gewissen Alter zu töten. Anderwärts verordnen die Väter über ihre noch ungeborenen Kinder, welche auferzogen und erhalten und welche davon ausgesetzt oder getötet werden sollen. Bei anderen Völkern verleihen die alten Ehemänner ihre Weiber der Jugend zum Gebrauch, und bei wieder anderen sind solche ohne Sünde allen gemeinschaftlich. Ja in einigen Provinzen tragen sie als Ehrenzeichen so viele Troddeln auf dem Saum ihrer Röcke, als so manche Mannspersonen ihrer Gunst teilhaftig geworden sind.

Hat die Gewohnheit nicht auch ein öffentliches bloßes Weiberregiment eingeführt? Hat solche ihnen nicht die Waffen in die Hände gegeben? Haben sie nicht Kriegsheere errichtet und Schlachten geliefert? Und lehrt sie nicht durch ihre bloße Anordnung den gröbsten gemeinen Haufen, was alle Philosophie den weisesten Köpfen nicht einprägen können? Denn wir wissen von ganzen Nationen, wo der Tod nicht bloß verachtet, sondern gefeiert wird; wo die Kinder von sieben Jahren sich auf den Tod stäupen ließen, ohne eine Miene zu verziehn. Wo der Reichtum in solcher Verachtung war, daß der ärmlichste Bürger der Stadt nicht die Hand ausgestreckt hätte, um einen Beutel voll Gold aufzuheben. Wir wissen von Ländern, die sehr ergiebig an allerlei Lebensmitteln waren, wo gleichwohl die gewöhnlichste und schmackhafteste Nahrung in bloßem Brot, Kümmel und Wasser bestand. Tat sie nicht noch das Wunder in Chio, daß daselbst siebenhundert Jahre verflossen, ohne daß man erfahren, daß eine Frau oder ein Mädchen einen Fehltritt gegen ihre Ehre gemacht hätte! Kurz, nach meinem Dafürhalten kann sie alles tun und tut alles. Und Pindar nennt sie daher, wie man mir gesagt hat, mit Recht die Königin und Herrscherin der Welt.

Derjenige, den man dabei antraf, daß er seinen Vater schlug, verantwortete sich damit: Es sei in seiner Familie so Gewohnheit; also habe sein Vater seinen Großvater und sein Großvater seinen Urgroßvater geschlagen; der dort, indem er auf seinen Sohn wies, wird auch mich schlagen, wenn er zu meinem Alter gelangt sein wird. Und der Vater, der den Sohn auf die Gasse schleppte und mit Füßen trat, befahl ihm an einer Ecke einzuhalten, denn weiter hab' er es mit seinem Vater nicht getrieben! Hier wäre die Grenze der erblichen Mißhandlungen, welche die Kinder in ihrer Familie an ihren Vätern zu verüben pflegten. Aristoteles sagt, die Weiber reißen sich ebensowohl aus Gewohnheit als wegen Krankheit ihr Haupthaar aus und käuen an ihren Nägeln und essen Kreide, Kohlen und Erde; und es ist mehr aus Gewohnheit als Naturtrieb, daß der Mann sich zum Manne tut.

Die Gesetze des Gewissens, die nach unserer Sage in der Natur liegen, entspringen aus der Gewohnheit. Ein jeglicher Mann, der in seinem Inneren die Meinungen und Sitten verehrt, die um ihn her gebilligt werden und im Schwange gehen, kann sich ihnen nicht entziehen, ohne daß ihn sein Gewissen darüber bestrafe, noch sich demselben gemäß betragen, ohne daß er ihnen Beifall gäbe. Wenn vor alters die Cretenser jemand fluchen wollten, so baten sie die Götter, ihn in eine böse Gewohnheit fallen zu lassen. Die vornehmste Wirkung aber ihrer Macht ist, uns dergestalt zu unterwerfen und zu beherrschen, daß wir kaum das Vermögen behalten, uns ihr wieder zu entreißen und uns der Freiheit zu bemächtigen, über ihre Verordnungen nachzudenken und vernünftige Betrachtungen anzustellen. In Wahrheit, weil wir solche von unserer Geburt an mit der Muttermilch einsaugen und sich das Antlitz der Welt unserem Blicke also darstellt, wie wir zuerst die Augen eröffnen: so scheint es, als ob wir dazu geboren sind, in diesem Joch zu gehn. Und die allgemeine Einbildung, die wir um uns her in Ansehen erblicken und welche schon in dem Samen wirkte, aus dem wir erzeugt wurden, kann uns nicht wohl anders als natürlich und verbindend vorkommen. Daher es denn auch kommt, daß alles, was nicht in die Fugen der Gewohnheit paßt, sich auch nicht mit der Vernunft zu vertragen scheint; obgleich, Gott weiß, dieser Glaube oft sehr vernünftig ist.

Wenn ein jeder, der einen Sittenspruch hört, wie wir, die wir uns selbst studieren, zu tun gelernt haben, alsobald nachforschte, von welcher Seite ihn derselbe eigentlich treffe: so würde ein jeder finden, daß dieser nicht sowohl eine hübsch gerundete Maxime als vielmehr ein Peitschenhieb sei, der auf die träge Dummheit seines Urteils fällt. Aber man nimmt die Lehren der Wahrheit und ihre Warnungen als ans Volk gerichtet und gar nicht an uns selbst; und anstatt solche auf die eigenen Sitten anzuwenden, faßt sie jedermann bloß ins Gedächtnis, und das ist ebenso dumm, als es unnütz und vergebens ist. Aber laß uns zurückkehren zur Macht der Gewohnheit.

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