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Die Völker, die an die Freiheit gewohnt sind, sich selbst zu beherrschen, halten jede andere Regierungsform für ungeheuer und der Natur zuwider. Solche Völker aber, welche an die monarchische Regierung gewohnt sind, machen es gerade ebenso. Und welche günstige Veranlassung ihnen Glück und Umstände an die Hand geben mögen, selbst dann, wenn sie mit großen Schwierigkeiten sich eines Despoten entledigt haben, haben sie nichts Angelegentlicheres am Herzen, als einen anderen mit ebenso großen Schwierigkeiten auf den Thron zu pflanzen, weil sie sich nicht entschließen können, die Gewalt des Despotismus zu hassen. Es ist die Macht der Gewohnheit, die es bewirkt, daß ein jeder gern an dem Ort bleibt, wo er geboren worden. Die Wilden in Schottland bekümmern sich wenig um das südliche Frankreich, und die Skythen machten sich nichts aus Thessalien.

Darius tat an einige Griechen die Frage: Um wieviel sie wohl die Gewohnheit der Indianer annehmen würden, ihre verstorbenen Väter zu essen? Denn dies war dort der Brauch, nach der Meinung, sie könnten solchen kein ehrenvolleres Begräbnis geben als in ihren eigenen Eingeweiden. Die Griechen antworteten: Um keinen Preis in der Welt würden sie das tun. Als er aber bei den Indianern versucht hatte, sie zu bereden, sie möchten ihren Brauch fahrenlassen und dafür den griechischen annehmen, der darin bestand, die Leichen ihrer Väter zu verbrennen, erregte es bei diesen einen noch größeren Greuel. So geht es mit allem! Umso mehr, da uns die tägliche Gewohnheit den wahren Gesichtspunkt der Sachen verbirgt. Nil adeo magnum, nec tam mirabile quicquam Principio, quod non minuant mirarier omnes Paullatim28.

Als ich einst die Beobachtung gewisser Sitten einführen sollte, die weit und breit um uns her in der Nachbarschaft in voller Achtung standen und doch, wie wohl zu geschehen pflegt, nicht mit bloßer Gewalt der Gesetze oder Beispiele dabei verfahren wollte, so forschte ich sehr emsig nach ihrem ersten Ursprung und fand sie bei diesem Forschen auf so schwachen Gründen, daß sie mich fast anekelten; mich, der ich sie doch anderen anpreisen sollte. Dies Rezept ist es, wodurch Plato sich zutraut, die widernatürliche und heillose Knabenliebe zu verbannen, die er zu seiner Zeit für allgemein und herrschend hält. Nämlich, sie durch die öffentliche Meinung zu verschreien. Die Dichter, und wer sonst noch könnte, sollten schlimme Erzählungen davon machen. Ein Rezept, vermittelst dessen jetzt die lieblichsten Töchter nicht mehr ihre Väter noch die schönst gewachsenen Jünglinge ihre Schwestern zur Liebe reizen. Selbst die Fabeln von Thyest, von Oedip und Makareus hätten, meint er, neben dem Vergnügen an den Versen, dem biegsamen Gehirn der Kinder diesen nützlichen Glauben eingeprägt. Wirklich ist die züchtige Schamhaftigkeit eine schöne Tugend, deren nützlicher Einfluß auf die Sitten anerkannt genug ist. Solche aber nach ihrer natürlichen Beschaffenheit abzuhandeln und anzupreisen, das ist ebenso schwer, als es leicht ist, sie durch eingeführte Gewohnheiten, Gesetze und Vermahnungen im Gange zu erhalten. Die ersten und allgemeinen Grundursachen sind schwer zu entwickeln. Auch fahren unsere Pädagogen ganz leise darüber hin und getrauen sich kaum, sie zu berühren, und stürzen sich umso zuverlässiger auf allgemein bekannte Gewohnheiten; da blähen sie sich dann mit ihrem leichten Sieg. Diejenigen, welche aus diesem seichten Grund des Ursprungs nicht herausgehen, und diejenigen, welche in größere Tiefe gehn wollen, fehlen noch ärger und unterwerfen sich eingebildeten Meinungen. Zum Beispiel Chrysippus, welcher in so häufigen Stellen seiner Schriften äußerte, wie wenig Gewicht er auf blutschänderische Vermischung legte, ohne Rücksicht sogar auf Verhältnisse.

Wer sich von diesem mächtigen Vorurteil der Gewohnheit lossagen will, der wird auf manche Dinge stoßen, die mit unbezweifelbarem Entschluß aufgenommen sind und gleichwohl keine andere Stütze haben als den grauen Bart und die Stirnrunzeln, der Gewohnheit, die sie begleitet. Hat er aber diese Larve abgerissen, indem er jedes Ding auf Wahrheit und Vernunft zurückführt, so wird er sein Urteil wie auf den Kopf gestellt und dennoch viel sicherer und fester befinden. Zum Beispiel, ich würde ihn in jener Lage fragen, was wohl befremdlicher sein könne, als zu sehn, daß ein Volk genötigt sei, sich nach Gesetzen richten zu lassen, die es nicht einmal versteht; das in allen seinen häuslichen Geschäften, Eheverbindungen, Vermächtnissen, Testamenten, Kauf und Verkauf an Vorschriften gebunden ist, die es nicht wissen kann, weil sie in seiner Landessprache weder abgefaßt noch bekanntgemacht worden, und die es also genötigt ist, sich für Geld, um nicht dagegen zu sündigen, bekanntmachen und erklären zu lassen. Nicht etwa nach der scharfsinnigen Meinung des Isokrates, der seinem König den Rat gab, Handel und Gewerbe seinen Untertanen ganz frei zu geben und so einträglich zu machen als möglich; hingegen auf ihre Streitigkeiten starke Lasten zu legen und solche beschwerlich zu machen, sondern nach einer unbegreiflichen Meinung, die Vernunft selbst zu einer verkäuflichen Ware zu machen und die Gesetze zu Artikeln auf der Preiskurrente. Ich weiß es dem Glück viel Dank, welches, wie unsere Geschichtsschreiber sagen, einen gaskognischen Edelmann aus meiner Gegend erweckte, daß er der erste wurde, der sich Karl dem Großen widersetzte, als er uns die römischen, in Latein verfaßten Gesetze geben wollte.

Findet man etwas wilderes als eine Nation, bei der nach wohl hergebrachter Gewohnheit das Richteramt gekauft wird und die Urteile mit barem Geld bezahlt werden und wo es gesetzlich ist, daß demjenigen die Gerechtigkeit versagt werde, der nicht vermögend ist, sie zu bezahlen? Und daß dieser Handel in solchem Ansehn stehe, daß er von den Leuten, welche die Prozesse handhaben, eine vierte Ordnung im Staat mache, um solche den drei alten der Kirche, des Adels und des Volks anzuschließen? Und daß diese Ordnung, weil sie über die Anwendung der Gesetze gesetzt ist und die höchste Macht über Eigentum und Leben ausübt, einen verschiedenen Stand von Adel ausmache? Woraus erfolgt, daß es zweierlei Gesetze gibt, Gesetze der Ehre und Gesetze der Gerechtigkeit, die sich in verschiedenen Dingen einander widersprechen. Jene verdammen ebenso streng das Nichtahnden einer beschuldigten Lüge als diese die Rache wegen einer beschuldigten Lüge. Nach den Gesetzen der Ehre und der Waffen geht derjenige seines Adels und seiner Ehrenstellen verlustig, wer eine Beleidigung einsteckt; und nach den bürgerlichen Gesetzen ist derjenige, welcher deswegen Rache nimmt, Leib- und Lebensstrafen ausgesetzt29. Wer sich an die Gesetze wendet und für eine seiner Ehre zugefügte Beleidigung Genugtuung begehrt, beschimpft sich, und wer diese übergeht und sich die Genugtuung selbst nimmt, den strafen und züchtigen die Gesetze! Und daß von diesen zwei so verschiedenen Ständen, die gleichwohl in einem einzigen Oberhaupt zusammenlaufen, der eine den Auftrag des Friedens, der andere des Krieges habe? Die von dem einen den Gewinn, die vom anderen die Ehre, jene Gelehrsamkeit, diese die Tugend, jene die Worte, diese die Taten, jene die Gerechtigkeit, diese die Tapferkeit, jene die Vernunft, diese die Gewalt, jene den langen Mantel, diese die kurze Uniform zum Anteil haben? In Rücksicht auf gleichgültigere Dinge, als zum Beispiel Kleidung – wer solche auf ihre wahre Bestimmung zurückführen will: welches die bequeme Deckung des Körpers ist, wovon ihre ursprüngliche Zierlichkeit und Schicklichkeit abhängt, sie mag auch, nach meiner Meinung, noch so seltsam ausgedacht und erfunden sein, so verweise ich ihn unter anderem auf unsere viereckigen Mützen; auf diese lange Schleppe von gefaltetem Samt, die nebst anderen seltsamen Zieraten an den Köpfen unserer Damen flattert; und auf den eitlen, unnützen Bausch eines Gliedes, das wir nicht einmal mit Ehren nennen können und womit wir gleichwohl in öffentlichen Gesellschaften einherstolzieren. Diese Betrachtungen halten indessen keinen verständigen Menschen ab, dem gemeinen Brauch zu folgen; im Gegenteil dünkt mich, daß jede Abweichung von der eingeführten Mode mehr hochmütige und törichte Ziererei verrate als einen gesunden Verstand und daß der Weise seine Seele in sich selbst, aus dem Gedränge zurückziehen müsse, um ihr die Freiheit und das Vermögen zu erhalten, über alle Dinge unbefangen zu urteilen; daß er aber, in Absicht auf das Äußerliche, ohne weiteres den eingeführten Moden und Formen folgen müsse. Was geht die öffentliche Gesellschaft unserer Art zu denken an? Im übrigen aber sind wir schuldig, unsere Handlungen, unsere Bemühungen, unser Vermögen und unsere Lebensart zu ihrem Dienst zu widmen und nach der allgemeinen Meinung zu bequemen, wie der gute und große Sokrates es ausschlug, sein Leben zu retten, wenn er der Obrigkeit ungehorsam würde – obgleich einer sehr ungerechten und gottlosen Obrigkeit. Denn, das ist die Regel aller Regeln und das Hauptgesetz aller Gesetze, daß ein jeglicher sich denen unterwerfe, die in dem Lande gelten, wo er sich befindet. Νόμοις ἕπεσϑαι τοῖσιν ἐγχωρίοις καλόν30.

Laß uns ein anderes Faß anstecken. Es ist äußerst zweifelhaft, ob sich ein so großer und reiner Gewinn dabei findet, irgendein eingeführtes Gesetz zu verändern, sei es beschaffen, wie es wolle, als Nachteil aus seiner Veränderung entsteht: umso mehr, da es mit einer Landesverfassung ist wie mit einem Gebäude, das aus verschiedenen Stücken zusammengesetzt worden und in so genauer Verbindung steht, daß es unmöglich ist, eins zu verrücken, ohne daß es das Ganze empfinde. Der Gesetzgeber von Thurien verordnete, daß ein jeder, der ein altes Gesetz abgeschafft oder ein neues eingeführt wissen wollte, sich mit dem Strick um den Hals dem Volk darstellen solle, damit, wenn sein neues Gesetz nicht von jedermann gebilligt würde, er auf der Stelle erdrosselt würde. Und der lakedämonische Legislator setzte sein Leben daran, um von seinen Mitbürgern die feste Zusage zu erhalten, daß sie von seinen Verordnungen keine übertreten wollten. Der Ephorus, welcher so unerbittlich die zwei Musikintervalle, wegschnitt, die Phrinys dem alten Modum hinzutun wollte, bekümmerte sich nicht darum, ob die Modulation dadurch wohlklingender würde oder die Akkorde zusammenhängender; ihm war es genug, um sie zu verwerfen, daß es eine Veränderung in der alten, bekannten Tonleiter sei; das ist es auch, was das alte verrostete Schwert der Gerechtigkeit zu Marseille andeutete.

Ich habe eine Abneigung vor aller Neuerung, unter welcher Gestalt sie auch auftritt; und meine nicht unrecht zu haben, nachdem ich davon so schädliche Folgen erlebt habe. Jene, die uns seit so vielen Jahren drückt, hat zwar nicht alles selbst gewirkt. Man kann aber doch mit Schein behaupten, daß sie zufälliger weise alle die Übel und Nachteile erzeugt und hervorgebracht hat, die vorher ohne und wider sie geschehn sind; mag sie sich dafür die Nase zwicken:

Heu, patior telis vulnera facta meis31!

Diejenigen, welche einen Staat aus den Fugen heben, sind gewöhnlich die ersten, denen er auf den Kopf stürzt. Die Frucht der Verwirrung ist selten der Lohn dessen, der sie angestiftet hat; er rührt und trübt das Wasser für andere Fischer. Der Zusammenhang und das Gewebe dieser Monarchie, und dies große Gebäude, das durch die Neuerung in seinen alten Jahren so sichtlich zerrüttet und aufgelöst worden, vermag dem Unheil so viel Öffnung und Eingang verschaffen, als man wolle; man wird es dennoch schwerer finden, die Majestät von ihrer Höhe bis zur Mitte zu erniedrigen, als sie von der Mitte bis zum Boden zu stürzen. Umso schädlicher aber die Erfinder sind, umso schändlicher sind die Nachahmer, daß sie sich auf Beispiele einlassen, deren Nachteil und Abscheulichkeit sie empfunden und bestraft haben. Und, wenn noch selbst beim Unheilstiften ein gewisser Grad von Ehre stattfindet, so müssen diese letzten den ersten den Ruhm der Erfindung und Herzhaftigkeit beim ersten Wagen überlassen. Alle Arten von neuer Zügellosigkeit schöpfen leicht und lustig aus dieser ersten unversiegbaren Quelle die Bilder und Muster zur Störung unserer Staatsverfassung.

Man liest in unseren Gesetzen selbst, die dazu gemacht sind, diesem ersten Übel zu steuern, die Methode und die Entschuldigung aller Arten von heillosen Unternehmungen, und geht es uns damit, wie Thucydides von den bürgerlichen Kriegen sagt: um öffentliche Gebrechen zu beschönigen, belege man sie mit neuen, sanftklingenden Benennungen und mildere und verkleistere ihre wahren Namen; dennoch will man unser Gewissen und unseren Glauben reformieren; honesta oratio est32. Sicher, aber der beste Vorwand bei jeder Neuerung ist gefährlich. Adeo nihil motum ex antiquo, probabile est33.

Mich deucht auch, um es frei heraus zu sagen, es sei ein gut Teil Eigenliebe und nicht wenig Eigendünkel erforderlich, seine eigene Meinung für wichtig genug zu halten, um solche auf Gefahr des öffentlichen Friedens einzuführen und dagegen die mannigfaltigen, unvermeidlichen Übel und diese tiefe Verderbnis der Sitten für nichts zu achten, welche bürgerliche Kriege nach sich ziehen, und also seine Ansichten für wichtiger anzusehn als die Umkehrung der Staatsverfassung in so wichtigen Dingen.

Heißt das nicht verkehrt zu Werke gehn, wenn man so viele gewisse und bekannte Laster herbeiführt, um Irrtümer zu bestreiten, die nicht einmal zugegeben werden und über welche sich reden läßt? Gibt es eine schlimmere Art von Lastern als solche, welche gegen unser eigenes Wissen und Gewissen anlaufen?

Der Senat zu Rom wagte es, dem Volk, das mit ihm über den Dienst der Religion uneinig war, folgende Ausflucht für bar Geld zu geben: Ad Deos id magis quam ad se pertinere; ipsos visuros ne sacra sua polluantur34, ebenso wie das Orakel den Delphiern antwortete, welche im Medischen Krieg den Einfall der Perser fürchteten. Sie fragten den Gott, wie sie es mit den heiligen Schätzen seines Tempels halten, ob sie solche verbergen oder wegbringen sollten. Er antwortete ihnen, sie sollten alles unangetastet lassen und sich um sich selbst bekümmern. Er werde sein Eigentum schon zu beschützen wissen.

Die christliche Religion trägt alle Kennzeichen einer großen Gerechtigkeit und Nützlichkeit an sich. Das deutlichste darunter aber ist die angelegentliche Empfehlung des Gehorsams gegen alle weltliche Obrigkeit und Befolgung aller bürgerlichen Gesetze. Welch ein bewunderungswürdiges Beispiel hat uns davon die göttliche Weisheit gegeben, die, um das Heil des menschlichen Geschlechts zu begründen und den glorreichen Sieg über Sünde und Tod hinauszuführen, keine gewalttätige Umkehrung der Reiche und Regierungen zugelassen, sondern vielmehr ihre Führung und Leitung eines so großen und heilsamen Werkes der Blindheit und Ungerechtigkeit unserer Gewohnheiten und Gebräuche unterworfen hat; das Blut so mancher auserwählten Lieblinge ließ sie fließen und gab zu, daß eine Reihe von Jahren dahinflösse, bevor die unschätzbare Frucht zur Reife gediehe. Die Sache desjenigen, der den Gewohnheiten und Gesetzen seines Landes folgt, ist von der Sache desjenigen sehr unterschieden, der solche zu meistern und abzuändern sich erkühnt. Jener führt Einfalt, Gehorsam und Beispiel zu seiner Entschuldigung an, und bei seinem Tun, es bestehe worin es wolle, mag Unglück stattfinden, aber Bosheit nie. Quis est enim, quem non moveat clarissimis monumentis testata consignataque antiquitas35?  Außer dem noch, was Isokrates sagt, daß das Zuwenig sich näher an die Mäßigung fügt als das Zuviel. Dieser andere wandelt einen viel höckerigeren Weg. Denn, wer sich's anmaßt zu wählen und zu ändern, greift nach dem Ansehn des Richteramtes und muß beweisen, daß er das Fehlerhafte dessen, was er verdrängen will, erkennt, so wie das Bessere in dem, was er einführt.

Diese so alltägliche Betrachtung hat mich auf meiner Bank stetig erhalten und selbst der Kühnheit meiner Jugend einen Zaum angelegt; damit ich meine Schultern nicht mit einer so schweren Last drückte, als die, eine so wichtige Wissenschaft zu verantworten und hierin etwas zu wagen, was ich bei gesundem Verstand in derjenigen nicht wagen möchte, welche viel leichter ist, wozu ich auferzogen worden und in welcher Kühnheit im Urteilen keine nachteiligen Folgen hat. Mich deucht es Verwegenheit, wenn man öffentlich eingeführte und eingewurzelte Gewohnheiten und Verfassungen der schwankenden Phantasie eines einzelnen Menschen unterwerfen will. Eine eingeschränkte Vernunft kann nur eine eingeschränkte Gerichtsbarkeit haben: so, wie keiner Herrscher über seinesgleichen ist und es sich herausnehmen darf, über göttliche Gesetze zu richten, welches nicht einmal bei bürgerlichen Gesetzen verstattet wird, obgleich letztere bei alledem, daß die menschliche Vernunft dabei viel mehr mitwirkt, doch allemal entscheidende Richter über ihre Richter sind: und die äußerste Anmaßung es nur wagt, sie zu erklären und ihre Anwendung zu bestimmen, nicht aber ihnen auszuweichen oder sie zu ändern. Wenn die göttliche Vorsehung zuweilen über die Regeln hinausgegangen ist, an welche sie notwendigerweise ihre Gesetze hat binden müssen, so geschah das nicht, um uns davon freizusprechen. Das sind Verfügungen ihres unerforschlichen Ratschlusses, die wir nicht nachzuahmen, sondern zu bewundern haben, es sind außerordentliche Beispiele einer besonderen und eigenen Zulassung! Es ist dies eine Art von Wundern, welche die Hand Gottes uns darlegt, um ihre Allmacht zu beweisen, welche über unsere Einrichtungen und Kräfte hinausreicht und welche nachzuahmen zu suchen Gottlosigkeit und Narrheit wäre; der wir nicht folgen, sondern mit Erstaunen nachsinnen wollen. Es sind Handlungen der Gottheit, nicht der Menschheit. Cotta läßt sich darüber sehr vernünftig heraus: Cum de religione agitur, Tib. Coruncanium, P. Scipionem, P. Scaevolam, pontifices maximos, non Zenonem aut Cleanthem aut Chrysippum sequor36.

Gott mag wissen, wie viele bei unserem gegenwärtigen Zwist, wo hundert Artikel, und zwar sehr wichtige und schwer zu entscheidende, wegzuschaffen und einzuführen sind, wie viele sich finden mögen, die sich rühmen können, die Ursachen und Gründe der einen und der anderen Partei reiflich erwogen und erforscht zu haben.

Es ist ein Haufen, wenn's einmal ein Haufen wäre, der eben nicht sonderlich imstande ist, uns zu beunruhigen. Die andere Schar aber, was beginnt sie? Unter was für einem Panier zeichnet sie sich aus? Mit ihrer Arznei geht es geradeso wie mit anderen unkräftigen, übel angebrachten Abführungsmitteln: die verdorbenen Säfte, die sie aus unserem Körper schaffen sollte, hat sie aufgerührt, verschärft und in Gärung gesetzt und ist selber im Körper steckengeblieben. Sie war zum Abführen zu schwach und hat uns gleichwohl entkräftet, so daß wir sie selbst nicht wieder loswerden können und von ihrer Wirkung nichts weiter haben als langes schmerzliches Bauchgrimmen. Die Sache ist, daß das Glück, welches immer sein Ansehen über unsere Klugheit behauptet, uns zuweilen in solche dringende Notwendigkeit versetzt, die es unvermeidlich macht, daß die Gesetze einigen Spielraum zulassen müssen; und daß, wenn man einer überhandnehmenden Neuerung widersteht, die sich mit Gewalt uns aufdrängen will, man in allen Stücken und durchaus gegen diejenigen gerade und behutsam verfahren müsse, welche die Gewalt in Händen haben und denen alles das erlaubt ist, was ihr Vorhaben befördern kann; die keine anderen Gesetze oder Verordnungen haben, als ihrem Vorteil nachzujagen. Es wäre eine gefährliche Pflicht und eine große Ungleichheit. Aditum nocendi perfido praestat fides37.

Umso mehr, da die gewöhnliche Verfassung eines Staates, in seiner Gesundheit, keine Vorkehrungen gegen solche außerordentliche Zufälle zu machen pflegt. Sie setzt einen Körper voraus, der sich in seinen vornehmsten Gliedern und Wirkungen festhält, und im allgemeinen Einverständnis über Folgsamkeit und Gehorsam. Der gesetzmäßige Gang ist kalt, bedächtig und abgemessen und verträgt sich nicht mit dem ausgelassenen Gang der Zügellosigkeit. Es ist bekannt, wie man den zwei großen Männern, Octavius und Cato, noch jetzt darüber Vorwürfe macht, daß sie in den bürgerlichen Kriegen gegen Sulla und Cäsar ihre Partei lieber die äußerste Gefahr laufen lassen, als solche auf Kosten der Gesetze retten und Änderung in der Staatsverfassung leiden wollen.

Denn in Wahrheit, in dieser höchsten Not, wo fast nichts mehr zu retten ist, da wäre es doch wohl weiser gehandelt, den Kopf zu bücken und dem Streich ein wenig auszuweichen, als gegen die Unmöglichkeit anrennen, nichts nachgeben wollen und lieber der Gewalttätigkeit Anlaß geben, alles unter die Füße zu treten. Und wäre es doch auch wohl besser, die Gesetze das wollen zu lassen, was sie können, weil sie nicht können, was sie wollen. So machte es jener, welcher befahl, sie sollten vierundzwanzig Stunden schlafen; und jener, der für das Mal einen Tag aus dem Kalender strich und der andere auch, der aus dem Monat Juni den zweiten Mai machte.

Selbst die Lakedämonier, diese so strengen Bewahrer der Verordnungen ihres Landes, als ihnen das Gesetz, welches verbot, einen und denselben Mann zweimal zum Admiral zu wählen, im Wege stand und auf der anderen Seite ihre Lage es als die höchste Notwendigkeit erforderte, daß Lysander diese Stelle abermals bekleidete, so machten sie zwar einen gewissen Arachus zum Admiral, setzten aber Lysander zum Oberaufseher über das Seewesen.

Mit eben der Gewandheit riet einer ihrer Gesandten bei den Atheniensern (der eine Änderung in gewissen Verordnungen bewirken sollte), dem Perikles, der zur Entschuldigung der Weigerung anführte, es sei im Gesetz verboten, eine Tafel wegzunehmen, worauf ein einmal gegebenes Gesetz geschrieben stände: er solle sie dann nur umwenden, denn das sei nicht verboten. Plutarch lobt am Philopoemen, daß er zum Regieren geboren gewesen und nicht nur nach den Gesetzen, sondern wenn es die Not des Gemeinwesens erfordert, selbst die Gesetze zu regieren verstanden habe.

Von der Pedanterei.

In meiner Jugend hab' ich mich oft darüber ereifert, wann ich in der italienischen Komödie beständig einen Pedanten als lustige Person auftreten sah und dabei bemerkte, daß die Benennung Magister bei uns eben keine ehrenvolle Bedeutung enthielt. Denn, da ich ihnen zur Aufsicht übergeben war, was konnte ich weniger tun, als für ihre Ehre zu eifern? Ich gab mir alle Mühe, sie wegen der natürlichen Mißhelligkeit im Betragen zwischen dem rohen Haufen und den seltenen Personen von vorzüglichem Verstand und Wissenschaften zu entschuldigen; umso mehr, da zwischen beiden eine ganz entgegengesetzte Lebensweise obwaltet. Darin aber steckte für mich ein unauflösliches Rätsel, daß die wackersten Männer gerade diejenigen waren, bei denen sie in ärgster Verachtung standen. Ich will nur unseren guten Du Bellay anführen: Mais je hay par sur tout un sçavoir pedantesque38.

Beidem ist die Gewohnheit schon alt, denn Plutarch sagt, Grieche und Gelehrter wären bei den Römern Spottnamen. Nachmals bei zunehmendem Alter habe ich gefunden, daß man eine sehr große Ursach hatte und daß magis magnos clericos non sunt magis magnos sapientes39. Wie es aber zugehe, daß eine mit den Kenntnissen von so vielen Dingen bereicherte Seele nicht lebendiger, nicht tätiger werde und daß ein plumper Geist die Gedanken und Urteile der vortrefflichsten Köpfe, welche die Welt hervorgebracht hat, auswendig lernen könne, ohne sich zu bilden, das begreife ich noch jetzt nicht. Wer so viele fremde große und starke Gedanken aufnehmen und beherbergen soll, sagte mir ein junges Fräulein, erste Hofdame unserer Prinzessinnen, als sie auf jemand zu reden kam, muß notwendig seine eigenen zusammendrängen und in die Enge ziehn, um den anderen Platz zu machen. Ich möchte gern sagen: gleichwie die Pflanzen von zu vieler Geilung ersticken und die Lampen von zu viel Öl verlöschen, so geht's dem Verstand bei zu vielem Studieren und zu vielen Materien, indem er bei zu großer Verschiedenheit von Gegenständen sich abstumpft und verwirrt und darüber versäumt, sich zu entwickeln; und diese Last verkrümmt und verkrüppelt ihn. Aber, es befindet sich ganz anders, denn unsere Seele erweitert sich in dem Maße, als sie sich anfüllt; und aus den Beispielen des Altertums sieht man ganz im Gegenteil, daß die fähigsten Männer zur Besorgung der öffentlichen Geschäfte, die größten Feldherrn und große weise Ratgeber in Staatssachen dabei zugleich für ihre Zeiten sehr gelehrt waren.

Was diejenigen Philosophen anbetrifft, die sich aller öffentlichen Geschäfte entschlagen, so sind solche freilich zuweilen durch die Freiheit der Bühne zu ihrer Zeit dem Gelächter preisgegeben, weil ihre Meinungen und ihre Sitten sie lächerlich machten. Wollt ihr sie zu Richtern in einem Prozeß machen, wer recht hat? Über die Handlungen eines Menschen? Da werdet ihr übel ankommen! Sie untersuchen noch, ob Leben, ob Bewegung in der Natur vorhanden, ob der Mensch etwas anderes sei als ein Ochs; was es sei: Handeln und Leiden; was Gesetze und Gerechtigkeit für Tiere sind. Reden sie von einer obrigkeitlichen Person oder sprechen sie mit ihr, so geschieht es mit unehrerbietiger, unhöflicher Freiheit. Hören sie einen Prinzen oder einen König preisen, so ist's für sie ein Hirt, untätig wie ein anderer Hirt, mit nichts beschäftigt, als seine Herde zu melken und zu scheren, nur plumper noch. Und schätzt man etwa einen Mann etwas höher, weil er zweitausend Acker Feldes bebaut, so werden sie höhnisch; denn sie haben sich gewöhnt, die ganze Welt als ihr Eigentum zu betrachten.

Rühmt sich jemand seines Adels, weil er sieben reiche Ahnherrn zählt, so achten sie ihn wenig, weil er keine richtigen Begriffe vom allgemeinen Bild der Natur hat, nicht bedenkt, wieviel jeder von uns Vorfahren gehabt hat, worunter Reiche, Arme, Könige, Knechte, Gebildete und Ungebildete sich befinden. Und wäre einer der fünfzigste Enkel von Herkules, sie schelten ihn eitel, wenn er auf dieses Geschenk des Glücks irgend einigen Wert setzt. Also verachtete sie der Ungelehrte als Leute, welche die ersten und gemeinsten Dinge nicht verständen und dabei eingebildet und hochmütig wären. Allein dies platonische Gemälde ist weit von dem verschieden, welches auf unsere Männer paßt. Jene beneidete man als solche, die über die gemeinen Dinge erhoben wären und öffentliche Geschäfte verachteten und als Menschen, welche sich eine sonderbare unnachahmliche Lebensart vorgeschrieben, die sich auf Regeln gewisser übermütiger Einbildungen steife und der Gewohnheit zuwider sei: diese verachtet man, weil sie sich unter der gewöhnlichen Lebensart halten, weil sie zu öffentlichen Geschäften untauglich sind, weil sie von noch niedrigeren Sitten sind als der ungelehrte Haufen: Odi homines ignava opera, philosopha sententia40. Was jene Philosophen anbetrifft, sag' ich: so wie sie groß waren in Wissenschaften, so waren sie es auch, und noch größer, in allen Handlungen des Lebens.

Und ebenso, wie man von dem syrakusanischen Geometer sagt (welchen man in seinen Rechnungen störte, damit er etwas zur Verteidigung seines Vaterlandes erfinden und ins Werk setzen möchte), daß er unverweilt solche fürchterliche Werkzeuge zustande brachte, die solche Wirkung taten, daß sie allen menschlichen Glauben überstiegen – und er gleichwohl selbst auf diese seine Erfindung mit Gleichgültigkeit herabsah und meinte, er habe damit die Würde seiner Kunst erniedrigt, für welche seine Werke nichts weiter wären als Lehrlingsarbeit und leichte Spielerei –: also auch jene, wenn man sie zuweilen auf die Probe des Handelns gestellt hat, so hat man sie einen so hohen Flug nehmen sehn, daß man wohl wahrnehmen konnte, ihr Herz und ihre Seele hätten sich durch ihre großen Kenntnisse bis zum Bewundern erweitert und bereichert. Dabei aber, weil sie sahen, daß die Stellen der politischen Regierung von unfähigen Menschen eingenommen waren, haben sie sich davon entfernt. Und derjenige, welcher den Crates fragte, wie lange das Philosophieren getrieben werden müsse, erhielt folgende Antwort: Solange bis es keine Eseltreiber mehr sind, die unsere Kriegsheere anführen. – Heraklit trat seinem Bruder die königliche Regierung ab. Und den Ephesern, welche ihm darüber Vorwürfe machten, daß er vor den Tempeln mit den Kindern spiele, antwortete er: Ist es nicht besser, dies zu tun, als in eurer Gesellschaft den Staat regieren? Andere, deren Ideen höher hinaufstiegen, als die Güter dieser Welt reichen, achteten die Richtstühle der Gerechtigkeit und selbst die Throne der königlichen Würden für niedrig und gering. Und Empedokles schlug die königliche Krone aus, welche die Agrigentiner ihm anboten.

Thales sprach zuweilen verächtlich von den Sorgen der Nahrung und der Begierde, reich zu werden. Man rückte ihm vor, es ginge ihm wie dem Fuchs, der nicht die Beeren erreichen konnte und sie also für sauer verschrie. Nun kam ihn die Lust an, ihnen, bloß zum Zeitvertreib, das Gegenteil zu weisen, und nachdem er, für das Mal, seine Wissenschaft bis zum Dienst des Gewinnes herabgewürdigt hatte, leitete er einen Handel ein, der ihm in Zeit von einem Jahr solche Reichtümer einbrachte, daß die Erfahrensten in diesem Gewerbe kaum in ihrem ganzen Leben dabei so viel hatten gewinnen können. Aristoteles erzählt von einigen, die jenem und dem Anaxagoras und ihresgleichen gesagt hätten, sie wären wohl weise gewesen, aber nicht klug, weil sie für nützlichere Dinge nicht Sorge genug getragen; abgesehen davon, daß ich diesen Unterschied unter den Worten nicht wohl verdauen kann, so dient es auch meinen Männern zu keiner Entschuldigung; und in Erwägung des dürftigen und kleinlichen Gehalts, womit sie sich abspeisen lassen, hätten wir vielmehr Anlaß zu sagen, sie wären keins von beiden, weder weise noch klug.

Ich lasse diese erste Ursache fallen und glaube, es sei besser zu sagen, dies Übel entstehe aus ihrer schlechten Art, sich mit den Wissenschaften zu benehmen, und daß nach der gewöhnlichen Weise, wie wir unterrichtet werden, es kein Wunder ist, wenn weder Schüler noch Lehrer dadurch nicht weiser, obgleich gelehrter werden.

Wirklich zielt die Sorge und der Aufwand unserer Väter für uns auf weiter nichts ab, als uns den Kopf mit Wissenschaften anzufüllen. Den Verstand und das Herz zu bilden, daran wird nicht gedacht. Ruft dem Volk von einem Vorübergehenden zu: O der gelehrte Mann!, und bei einem zweiten: O der gute Mann! Es wird sich nicht abhalten lassen, seine Blicke und seine Verehrung auf den ersten zu richten. Ein dritter hatte recht zu rufen: O der Schafsköpfe! – Wir pflegen gemeiniglich zu fragen: Weiß er Griechisch? Weiß er Latein? Macht er Verse oder schreibt er in Prosa? Ob er aber besser oder verständiger geworden sei, welches doch wohl die Hauptsache wäre, das bleibt linker Hand liegen! Wir sollten uns erkundigen, welches der nützlichste Gelehrte, nicht wer der größte Gelehrte sei. Wir arbeiten nur darauf, das Gedächtnis vollzupfropfen, und lassen Verstand und Gewissen leer. Gerade wie die Vögel zuweilen ausfliegen, Körner aufzupicken und sie im Schnabel halten, ohne sie zu kosten, um damit ihre Jungen zu ätzen, so plündern unsere Pedanten die Wissenschaft aus Büchern, fassen sie aber nur auf den Rand der Lippen, um sie wieder auszuspein und dem Wind zu übergeben. Es ist sehr lustig, wie sich die Torheit so ganz natürlich an mein eigenes Beispiel heftet. Ist es nicht eben dasselbe, was ich an den meisten Stellen dieses Buches tue? Da schlendere ich herum und picke bald aus diesem, bald aus jenem Buch einen Spruch, der mir gefällt, nicht um ihn aufzubewahren, denn ich habe keine Vorratskammer, sondern ihn in dieses zu übertragen; wo er gleichwohl, die Wahrheit zu sagen, ebenso wenig mir gehört als an seiner ersten Stelle.

Wir sind, so glaub' ich, nur gelehrt in der Wissenschaft des Gegenwärtigen, nicht des Vergangenen, ebenso wenig als des Zukünftigen. Was aber das ärgste ist, auch von ihr ziehen weder Meister noch Jünger die mögliche Nahrung, sondern sie geht bloß von Hand zu Hand, zum einzigen Zweck, damit zu prunken, davon zu sprechen und Erzählungen daraus zu ziehn, wie geprägte Zahlpfennige, unnütz zu allem übrigen Gebrauch als zum Rechnen und Zählen. Apud alios loqui didicerunt, non ipsi secum41. Non est loquendum, sed gubernandum42.

Die Natur, um zu zeigen, daß bei ihrem Verfahren allemal die weisesten Regeln zugrunde liegen, läßt oft bei solchen Nationen, welche die wenigste Kunstbildung haben, Geistesprodukte erscheinen, welche mit Produkten der größten Kunst um den Vorzug streiten. Wie auf meine Materie das gaskognische von einer Schalmei her entnommene Sprichwort sehr fein sagt: Das Blasen kann ich auch, aber beim Fingern ha pert's. »So sagt Cicero«; »das sind die Sitten des Plato«; »das sind die eigenen Worte des Aristoteles«: das können wir freilich! Was sagen wir aber selbst, wir? Was tun wir? Was ist unser Urteil? Wissen wir denn nichts mehr zu sprechen als ein Starmatz?

Dieses Benehmen erinnert mich an den reichen Römer, der sich's angelegen sein ließ, mit großen Kosten Männer, die in aller Art Wissenschaft beschlagen waren, zusammenzubringen, die beständig um ihn sein mußten, damit, wenn er unter seinen Freunden Anlaß hätte, von der einen oder der anderen zu reden, sie statt seiner auftreten und allezeit fertig sein sollten, bald einen bündigen Spruch, bald einen Vers aus dem Homer zu liefern, je nachdem was ein jeder in seinem Kopfe vorrätig hätte; und dabei glaubte, diese Gelehrsamkeit sei seine eigene, weil solche in den Köpfen seiner Leuten stecke. So, wie es auch diejenigen machen, deren ganzes Wissen in ihrem kostbaren Büchervorrat liegt. Ich kenne einen solchen, welcher, wenn ich frage, ob er dies oder jenes weiß, mir ein Buch abfordert, um es darin aufzusuchen, und sich nicht getraut, mir zu sagen, er habe die Krätze am After, ohne auf der Stelle im Wörterbuch unter A und K nachzuschlagen, was After und was Krätze heißt. Wir stellen uns zur Hut und Wache über Fremder Wissen und Meinungen und lassen es damit gut sein; zum Eigentum sollten wir uns solche machen!

Wir gleichen eigentlich jenem Mann, der des Feuers bedürftig, zu seinem Nachbar ginge, um welches zu holen, und wann er bei demselben ein hübsches, hellbrennendes Feuer fände, sich dabei niedersetzte, sich wärmte und nun weiter nicht daran dächte, welches mit nach Hause zu nehmen. Was hilft's uns, den Magen mit Speisen zu füllen, wenn sie nicht verdaut werden, sich nicht in Nahrungssaft wandeln? Wenn sie uns nicht Wachstum und Kräfte geben? Können wir glauben, daß Lukullus, den das Studieren ohne weitere Erfahrung zu einem großen Feldherrn bildete, ebenso wie unsere jetzige Mode ist, studiert habe? Wir lehnen uns so stark auf fremde Schultern, daß wir darüber unsere eigenen Kräfte vernichten. Will ich mich gegen die Furcht vor dem Tode waffnen? So geschieht es auf Kosten des Seneca. Suche ich Trost für mich selbst oder für einen anderen? Ich borg' ihn von Cicero. Ich hätte es aus mir selbst geschöpft, hatte man mich darauf geübt. Ich liebe diese mittelbare oder erbettelte Gelehrsamkeit nicht sonderlich. Durchs Wissen anderer mag es sein, daß wir gelehrter werden, weiser aber werden wir gewiß nicht anders als durch unsere eigene Weisheit.

Μισῶ σοφιστήν, ὅστις ουχ᾽ αυτω σοφός43.  Ex quo Ennius: Nequidquam sapete sapientem, qui ipse sibi prodesse non quiret44. ... Si cupidus, si vanus, et Euganea quantumvis mollior agna45. Non enim paranda nobis solum, sed fruenda sapientia est46.

Diogenes lachte über die Schulfüchse, welche sich so emsig über die Leiden des Ulyß bekümmern und von ihren eigenen nichts wissen; über die Musiker, welche ihre Pfeifen rein stimmen und ihre Sitten ungestimmt lassen; über die Zungendrescher, welche darauf studieren, von Gerechtigkeit zu schwatzen, nicht sie zu üben. Wenn unsere Seele nicht eine bessere Richtung dadurch bekommt, wenn wir dadurch nicht ein gesunderes Urteil erhalten, so möchte mein Zögling meinethalben seine Zeit damit hingebracht haben, Ball zu schlagen, so hätte sein Körper doch wenigstens an Stärke zugenommen. Man sehe ihn nach so viel verbrachten Jahren von Universitäten kommen: Wer ist ungeschickter als er, zu Geschäften angestellt zu werden? Was sich am meisten an ihm erkennen läßt, ist, daß sein Latein und sein Griechisch ihn dümmer und einbilderischer gemacht haben, als er war, da er von Hause hinreiste. Er sollte mit genährter, voller Seele zurückkommen, aber er hat sie nur aufgeblasen. Sie ist nicht größer geworden, sondern nur aufgeschwollen.

Diese Meister und Lehrer sind, was Plato von den Sophisten sagt, unter allen Menschen diejenigen, welche dem Menschen am nützlichsten zu sein versprechen und dennoch nicht nur dasjenige nicht ausbessern, was man ihnen anvertraut, wie doch Zimmerleute und Maurer tun, sondern es sogar verhunzen und sich noch obendrein bezahlen lassen, daß sie es verhunzt haben. Wenn das Gesetz des Protagoras, das er seinen Schülern vorschlug, befolgt würde, daß sie ihm entweder bezahlen sollten, was er forderte, oder daß sie im Tempel beschwören sollten, wie hoch sie den Nutzen schätzen, den sie aus seinem Unterricht gezogen und demzufolge ihn für seine Mühe belohnen sollten, so würden sich meine Herren Pädagogen mächtig hinter den Ohren krauen, wenn sie sich auf den Eid meiner Erfahrung berufen hätten. Meine ungelehrten Landsleute nennen diese hochgelehrten Herren sehr spaßhafterweise Übergelehrte, Überstudierte; gleichsam zu sagen, als wäre es bei ihnen durch Studieren übergeschnappt, wie man auch wohl zu sagen pflegt. Und wahr ist's, die meiste Zeit scheint es, als hätten sie den gesunden Menschenverstand aus dem Kopf hinweg studiert. Denn man sehe dagegen nur einen Bauer oder Schuster und Schneider! Sie gehen einfältig und unbefangen ihren Gang fort; sprechen von dem, was sie wissen; jene, um sich zu erheben und zu brüsten mit ihrem Wissen, das auf der Oberfläche ihres Gehirns herumschwimmt, straucheln ohne Unterlaß in ihren Spannfesseln. Hübsche Worte hört man freilich dann und wann von ihnen; aber es gehört jemand dazu, der sie in Ordnung brächte. Den Galen kennen sie wohl, aber den Kranken gar nicht. Sie haben euch schon mit Gesetzen den Kopf ganz angefüllt, worauf es aber bei euerem Rechtsstreit eigentlich ankommt, davon wissen sie noch kein Wort. Von allen und jeden Dingen verstehen sie die Theorie; sucht nur jemand, der sie in Anwendung bringe!

Ich hatte einen Freund bei mir im Hause, der, indem er mit einem dieser Herrn zu tun hatte, zum Zeitvertreib ein gewisses Rotwelsch ohne Sinn und Bedeutung nachahmte, nur, daß er zuweilen ein Wort einflocht, das dem Klange nach Beziehung auf ihren Streit hatte, und dadurch seinen Dummkopf von Gegner ganze Tage lang foppte, der beständig meinte, er antworte auf die Einwendungen, die er vorgebracht hatte. Und doch hatte der Mann ein Fakultätsdiplom über seine Gelehrsamkeit aufzuweisen.

Vos, o patricius sanguis, quos vivere par est

Occipiti caeco, posticae occurrite sannae47.

Wer dies Geschlecht, das sehr zahlreich ist, in der Nähe beleuchtet, der wird wie ich finden, daß sie die meiste Zeit sowenig sich selbst als andere verstehen und daß sie zwar ein gutes, volles Gedächtnis, aber einen sehr hohlen Verstand haben. Wofern nicht die Natur sich ein eigenes Geschäft daraus machte, sie anders zu organisieren, wie ich beim Adrian Turnebus gefunden habe. Dieser, ohne jemals etwas anderes getrieben zu haben als Literatur – in welcher er nach meiner Überzeugung der größte Mann seit den letzten tausend Jahren her war –, hatte dabei gleichwohl nichts anderes an sich, das einen Pedanten verriet, als den Schnitt seines Kleides und einige äußere Manieren, die vielleicht nicht zum hohlen Tone des Hofschranzen paßten. (Und ich hasse unsere Leute, die sich vielmehr über einen altmodischen Schoß oder Ärmel ärgern als über eine schiefe Seele und aus dem Kratzfuß eines Menschen, aus seinen Stiefeln, aus seiner Haarkrause vorher verkünden, was an ihm sei.) Denn im übrigen war er in seinem Wesen der höflichste, artigste Mann von der Welt. Ich hab' ihn oft mit allem Fleiß in Materien verwickelt, die ihm gar nicht geläufig waren: er sah darin so klar, umfaßte alles so schnell und mit so richtigem Urteil, daß man hätte denken sollen, er hätte in seinem Leben nichts anderes getrieben als Kriegskunst und Staatswissenschaft. Das sind schöne und starke Seelen -

Quis arte benigna

Et meliore luto finxit praecordia Titan48 -,

die sich durch eine schlechte Erziehung durcharbeiten.

Es ist aber nicht genug, daß unsere Erziehung uns nicht verderbe, sie soll und muß uns eigentlich besser machen. Es gibt bei uns in Frankreich einige Parlamente, welche die Räte und Advokaten, die sie aufnehmen sollen, nur bloß aus ihrer Wissenschaft examinieren; andere hingegen prüfen auch ihren Verstand, indem sie ihnen diesen oder jenen Rechtsspruch zur Beurteilung vorlegen. Diese letzteren scheinen mir weit richtiger zu verfahren. Und obgleich zu einer solchen Bedienung beides nötig ist, so ist doch das Wissen von geringerem Wert als ein richtiger Verstand. Dieser kann zur Not ohne jenes auslangen; aber nicht dieses ohne jenen. Denn wie der griechische Vers es ausdrückt: Ὡς ουδὲν ἡ μάϑησις, ἢν μὴ νοῦς παρη49.

Was hilft die Wissenschaft ohne Verstand, sie anzuwenden? Wollte der Himmel, wir wären in Ansehung unserer Rechtspflege so glücklich, daß jene ansehnlichen Gerichtsverwalter mit ebenso viel Verstand und Gewissen begabt wären, als es ihnen am Wissen nicht mangelt! Non vitae sed scholae discimus50.

Nun aber muß man das Wissen der Seele nicht umtun als ein Gewand, sondern ihr als einen lebendigen Geist einhauchen. Man muß sie damit nicht anfeuchten, sondern durch und durch färben; und wenn es die Seele nicht ändert und ihren unvollkommenen Zustand nicht bessert, so wäre es wahrlich besser, sich nicht weiter damit zu befassen. Es wäre ein zweischneidiges Schwert, das seinem Führer beschwerlich wird und ihn selbst verwundet, wenn es in schwachen Händen ist, die es nicht zu brauchen wissen; ut fuerit melius non didicisse51.

Vielleicht auch ist dies die Ursache, warum wir wie die Theologie nicht viel Kenntnis vom weiblichen Geschlecht verlangen und daß Franz, Herzog von Bretagne, Sohn Johanns des Fünften, als man mit ihm von seiner Vermählung mit Isabella, einer schottländischen Prinzessin, sprach und ihn merken ließ, sie sei sehr einfach erzogen und ohne allen Unterricht in wissenschaftlichen Dingen, antwortete: Die Prinzessin sei ihm deswegen umso lieber, und eine Ehefrau sei gelehrt genug, wenn sie das Wams ihres Ehemanns von seinem Hemde zu unterscheiden verstände.

Es ist auch kein so großes Wunder, als man's anschreit, daß unsere Vorfahren sich nicht sonderlich viel aus Gelehrsamkeit gemacht haben und daß wir solche noch heutzutage nur zufälligerweise bei den vornehmsten Räten unserer Könige finden; und wenn nicht der einzige Endzweck, den man uns zu unseren Zeiten vorhält, uns durch die Rechtswissenschaft, die Arzneikunde, die Theologie und durch die Pädagogik zu bereichern, sie nicht noch in Ansehen erhielte, so würden wir sie ohne Zweifel noch in ebenso zerlappten Mänteln auftreten sehn als vordem. Schade darum, wenn sie uns weder richtig denken noch handeln lehrt. Postquam docti prodierunt, boni desunt52. Alle andere Wissenschaft ist demjenigen nachteilig, der nicht die Kenntnis der Güte hat.

Sollte aber die Ursache, die ich vorhin suchte, nicht darin zu finden sein, daß weil bei uns in Frankreich unser Studieren fast keinen anderen Zweck hat als Broterwerb, und weniger solche Menschen, die von der Natur zu besseren als bloß einträglichen Geschäften bestimmt sind, sich den Studien widmen als andere oder, wenn sie es tun, nicht lange Zeit darauf verwenden (indem sie, bevor sie an den Wissenschaften Geschmack gewinnen können, einen Stand ergreifen, der nichts mit den Büchern zu tun hat) und also gewöhnlicherweise, um sich ganz den Wissenschaften zu widmen, keine anderen übrigbleiben als Jünglinge von unbemittelten Eltern, die dadurch ihren Unterhalt zu gewinnen suchen? Menschen aber aus dieser Klasse, deren Seelen durch Geburt, durch häusliche Erziehung und Beispiele von der niedrigsten Art herabgewürdigt worden, machen selten einen echten Gebrauch von den Früchten der Wissenschaften. Denn die Wissenschaften zünden kein Licht in einer Seele an, die keinen Brennstoff hat, machen auch keinen Blinden sehend. Ihr Geschäft ist, nicht das Gesicht zu geben, sondern es den Menschen richtig brauchen zu lehren; seinen Gang ordentlich einzurichten, wenn der Mensch nur von Haus aus gerade ist und zum Gehn tüchtige Beine hat.

Are sens