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Insani sapiens nomen ferat, aequus iniqui,

Ultra quam satis est, virtutem si petat ipsam108,

ist eine feine Bemerkung der Philosophie. Man kann sowohl die Tugend übermäßig lieben als sich ausschweifend bei einer gerechten Handlung benehmen. Auf diese Behutsamkeit zielt die Schrift, wenn sie sagt: »Seid nicht weiser, als sich gebührt, sondern seid weise mit Zucht!« Ich habe an einem Großen erlebt, daß er die Ehre seiner Religion dadurch verkleinerte, daß er, über alle Beispiele von Personen seines Standes hinaus, sich religiös bezeigte. Ich liebe die gemäßigten Naturen, welche die Mittelstraße halten. Wenn mich auch die Unmäßigkeit, selbst im Guten, nicht in Harnisch bringt, so setzt sie mich doch in Erstaunen und macht mich irre über den Namen, den ich ihr geben soll. Weder die Mutter des Pausanias, welche den ersten Wink gab und den ersten Stein zum Tode ihres Sohnes herbeibrachte, noch der Diktator Posthumius, welcher den seinigen hinrichten ließ, den die Hitze der Jugend so glücklich hingerissen hatte, ein wenig aus seinem Glied hervorzutreten, scheinen mir so gerecht als auffallend. Und ich möchte eine so wilde und eine so teuer erkaufte Tugend weder anraten noch nachahmen. Der Schütze, welcher über die Scheibe hinschießt, fehlt ebensowohl als der, welcher zu kurz schießt. Und die Augen werden mir ebensowohl geblendet, wenn ich plötzlich in ein helles Licht sehe als in eine große Dunkelheit. Callicles sagt beim Plato, die äußerste Grenze der Philosophie sei nachteilig, und rät an, sich nicht tiefer hinein zu wagen, als sofern sie Nutzen gewährt; mäßig getrieben sei sie angenehm und gefällig; am Ende aber mache sie den Menschen wild und unbändig, zum Verächter der Religion und der bürgerlichen Gesetze; zum Feinde des geselligen Umgangs; zum Feinde der menschlichen Freuden; mache unfähig zur Verwaltung öffentlicher Geschäfte, oder dem Nebenmenschen beizustehn, oder sich selbst zu helfen: mache bloß geschickt, sich umsonst nasenstübern zu lassen. Er hat recht! Denn so bald sie übertrieben ist, legt sie unsre natürliche Freiheit in Sklavenketten und verleitet uns durch ihre lästige Spitzfindigkeit, den schönen, ebenen Weg zu verlassen, den die Natur uns anweist. Es ist nach allen Gesetzen erlaubt und recht, unsre Gattin zu lieben: gleichwohl hat die Theologie nötig erachtet, dieser Liebe einen Zaum anzulegen und sie in gewissen Schranken zu halten. Wo ich nicht irre, so las ich einst beim Sankt Thomas, in einer Stelle, wo er die Ehen im verbotenen Grade verdammt, unter anderen angeführten Gründen auch diesen: Es stehe zu befahren, die Neigung zu einer solchen Gattin möchte unmäßig werden. Denn befände sich dabei die eheliche Liebe ganz und völlig, wie sich zieme, und man überlade sie noch dazu mit jener Liebe, die man der Blutsfreundin schuldig, so sei kein Zweifel, dies Übergewicht müsse einen solchen Ehemann über den Schlagbaum der Vernunft hinaustreiben.

Die Wissenschaften, welche die menschlichen Sitten anordnen, als z.B. die Theologie und Philosophie, befassen sich mit allen Dingen. Keine Handlung, sie sei noch so verborgen oder geheim, kann sich ihren Urteilen und ihrer Gerichtsbarkeit entziehen. Wahre Lehrlinge sind es, die ihre Freiheit verfechten. Die Weiblein lassen nach Lust und Belieben den Buhlen ihre Heimlichkeiten erfahren; den Arzt aber? Ja, das verbietet die Schamhaftigkeit. Ich will also, in ihrem Namen, die Männer folgendes lehren, wenn es noch welche geben sollte, die die Sache zu hitzig betreiben, nämlich, das Vergnügen selbst, das sie in Erkenntnis ihrer Frauen genießen, ist verwerflich, wenn nicht Mäßigung dabei beobachtet wird; und können sie in dieser Sache ebensowohl als in einer unerlaubten durch Übermaß und Ausschweifung in Fehler verfallen. Diese unehrbaren Liebesbeweise, zu denen uns die erste Hitze in diesem Spiel treibt, werden nicht bloß nur unanständiger-, sondern sehr schädlicherweise gegen unsre Weiber verwendet. Laß sie doch wenigstens von andrer Hand lernen, unverschämt sein! Sie sind immerdar willig genug zu unseren Bedürfnissen. Ich habe mich dabei immer an die natürliche und einfache Anweisung gehalten.

Der Ehestand ist eine fromme heilige Verbindung. Das ist der Grund, warum das Vergnügen, welches man daraus zieht, ein bedächtliches, ernsthaftes und mit einiger Strenge vermischtes Vergnügen sein muß. Es muß eine gewissermaßen kluge und gewissenhafte Wollust sein. Und, weil ihr Hauptzweck Erhaltung und Fortpflanzung ist, so gibt es einige, die es in Zweifel ziehen, ob, wann die Beschaffung dieses Endzwecks nicht zu hoffen ist, als z.B., wenn schon die Frau über Jahre hinaus ist oder bereits ihre Bürde trägt, es erlaubt sei, dann noch diesen Beweis der Liebe zu begehren. Nach dem Plato wäre es ein Menschenmord. Gewisse Nationen (unter anderen die mohammedanische) verabscheuen die Vereinigung mit einer Frau, während daß sie hohen Leibes ist. Verschiedene andre berühren keine Frau, solange ihr Rosenstock blüht. Zenobia erlaubte ihrem Ehgemahl nur eine Umarmung, hernach enthielt sie sich von ihm entfernt, die ganze Zeit, bis sie entbunden worden; da sie ihm dann erst wieder gestattete, den Zweck der Fortpflanzung zu bezielen. Ein herrliches, großmütiges Beispiel eines Ehebündnisses!

Plato hat von einem Dichter, der auf diesen Handel sehr gierig und heißhungrig gewesen sein mag, folgende Erzählung entlehnt: Jupiter erkannte einst seine Juno mit solcher Glut, daß er nicht Geduld genug hatte, sie zu ihrem Liebeslager zu führen; sondern den harten Fußboden zum Thalamo erhob und über der Freude alle die großen und wichtigen Entschlüsse vergaß, die er mit den übrigen auf dem Olymp versammelten Göttern genommen hatte. Er rühmte dabei, er habe sie diesmal ebenso entzückend befunden, als da er ihr, ihren Eltern unbewußt, das erstemal den Gürtel gelöst.

Die Könige von Persien nahmen ihre Gemahlinnen mit in die Gesellschaft, bei ihren Hoffesten; wenn sie aber fühlten, daß der Wein anfing sie zu erhitzen und daß sie die Wollust gar nicht mehr im Zügel halten könnten, so schickten sie solche zurück nach ihren Wohnungen im Innern des Palastes, um sie an ihren unmäßigen Begierden keinen teilnehmen zu lassen, und ließen dann statt ihrer solche Weibsbilder herbeiführen, denen sie nicht schuldig waren, mit Achtung zu begegnen. Alle Ergötzungen und alle Befriedigungen herbergen nicht wohl zusammen bei aller Art Menschen. Epaminondas hatte einen liederlichen Burschen ins Gefängnis werfen lassen. Pelopidas bat ihn, solchen, ihm zu Gefallen, auf freien Fuß setzen zu lassen. Er schlug es ihm ab, bewilligte es aber einer seiner Dirnen, die ihn gleichfalls darum bat, und sagte dabei, es sei eine Gefälligkeit, die man wohl einer Freundin gewährte, sie sei aber unter der Würde eines Generals. Als Sophokles mit Perikles das Amt der Prätur verwaltete und eben zufälligerweise einen schönen Knaben vorbeigehen sah, sagte er zum Perikles: »Ei, sieh einmal den schönen Knaben!« – »Das wäre so etwas,« antwortete Perikles, »für einen, der nicht Prätor wäre; denn ein Prätor muß nicht nur reine Hände, sondern auch reine Augen haben.«

Der Kaiser Älius Verus antwortete seiner Gemahlin, als sie sich darüber beschwerte, daß er anderen Weibern nachginge, das täte er aus Gewissensdrang; denn der Ehestand sei eine Benennung von Ehre und Würde und hätte mit Tändeleien und sinnlichen Begierden nichts zu tun: und unsere Kirchengeschichte hat uns das Andenken jener Frau in allen Ehren auf bewahrt, die sich von ihrem Ehemann scheiden ließ, weil sie seine unverschämten und häufigen Betastungen weder begünstigen noch dulden wollte. Kurz, es gibt keine noch so erlaubte Wollust, deren unmäßiger Genuß uns nicht zum Vergehen angerechnet werden müßte.

Ganz aufrichtig gesprochen aber, ist der Mensch nicht ein armseliges Tier? Kaum steht es, in seinem natürlichen Zustand, in seiner Macht, ein einziges Vergnügen ganz und rein zu genießen! Und dabei gibt er sich noch Mühe, ihrer aus Überlegung zu entbehren! Als ob er noch nicht elend genug wäre, wenn er sein Elend nicht noch durch Kunst und Nachsinnen vermehrte?

Fortunae miseras auximus arte vias109.

Die menschliche Weisheit gibt sich die dumme Mühe, die Wollust nach Zahl und Süßigkeit zu vermindern, die unser Erbteil ist; eben wie sie sich mit aller Vorliebe beschäftigt, ihre ganze Kunst daran zu verschwenden, die Übel zuzuputzen, zu kämmen und zu schminken, um sie uns weniger scheußlich zu machen. Wäre ich Haupt einer Sekte gewesen, ich hätte einen natürlicheren Weg eingeschlagen, ich will sagen, einen wahreren, bequemeren und heiligeren, und hätte mich vielleicht mächtig genug gemacht, um ihn vorzuschreiben. Obgleich unsre geistlichen und leiblichen Ärzte, nach einem unter sich gemachten Komplotte, keinen Weg zur Genesung finden noch Mittel gegen die Krankheiten der Seele oder des Leibes als durch Qualen, Schmerzen und Leiden. Wachen, Fasten, härne Kleidung, Verbannung in Wüsten und Einsiedeleien, ewige Gefängnisse, Geißeln und andre Büßungen sind des Endes eingeführt; aber unter solchen Umständen, daß es wahre Leiden sein und herbe Bitterkeit bewirken sollen. Wie einem Gallio, von dem man, als er auf die Insel Lesbos ins Elend verwiesen worden, in Rom Nachricht erhielt, daß er sich's dort ganz wohl sein ließe und daß, was man ihm als Strafe auferlegt hätte, zu seiner Bequemlichkeit gedeihe; weswegen man denn einen anderen Entschluß faßte und ihm heimzukommen befohlen und bei seiner Frau in seinem Hause zu wohnen, mit dem Beifügen, sich da ruhig zu halten, um ja die Strafe so einzurichten, daß ihn solche schmerzte. Denn für denjenigen, dem das Fasten die Gesundheit stärkte und Heiterkeit gäbe, dem das Gift besser schmeckte und besser bekäme als Fleisch, ruf den wäre es keine heilsame Arznei; sowenig, als in der anderen Arzneikunde solche Medizin Wirkung tut, die er mit Vergnügen und Wohlgefallen einnimmt. Bitterkeit und Widerwille sind Umstände, die zur Wirkung behilflich sind. Die Natur, welche den Rhabarber als ein gewöhnliches Nahrungsmittel annähme, würde ihre medizinische Kraft stören. Es muß etwas sein, das unseren Magen angreift, um ihn zu heilen; und hier hinkt die gemeine Regel, daß die Sachen nur durch entgegenstehende Dinge geheilt werden. Denn ein Übel heilt hier das andre.

Dieser Eindruck bezieht sich auch gewissermaßen auf jene sehr alte Meinung, da man dem Himmel und der Natur sich durch Mord und Totschlag angenehm zu machen dachte; welche Meinung in allen Religionen aufgenommen war. Noch zur Zeit unsrer Väter würgte Amurath, als er den Isthmus eroberte, der Seele seines Vaters sechzehnhundert junge Griechen, damit dies Blut als Reinigungsbad bei der Aussöhnung der Sünden des Verblichenen dienen möchte. Und in diesen neuen Ländern, die man zu unsrer Zeit entdeckt hat, die, in Vergleichung mit den unsrigen, noch rein, unschuldig und jungfräulich sind, ist der Gebrauch so ziemlich allgemein. Alle ihre Götzen schlürfen Menschenblut, und es gibt dort manche Beispiele von Grausamkeit. Man verbrennt die Menschenopfer lebendig, und halb gebraten nimmt man sie vom Kohlenhaufen weg, um ihnen Herz und Eingeweide aus dem Leibe zu reißen. Andre, besonders Weiber, schindet man lebendig, und mit ihrer blutigen Haut bekleidet oder verlarvt man andre. Auch sieht man nicht weniger Beispiele von Standhaftigkeit und Entschlossenheit. Denn diese armen, zum Opfer erkiesten Menschen, Greise, Weiber, Kinder, gehen einige Tage vorher selbst, herum und betteln die Almosen zusammen, wovon die Kosten bei ihrer Opferung bestritten werden, und beim Schlachtaltar stellen sie sich ein, singend und tanzend mit den übrigen Anwesenden.

Als die Abgesandten des Königs von Mexiko dem Ferdinand Córtez die Größe ihres Herrn begreiflich machen wollten und ihm bereits erzählt hatten, er habe dreißig Fürsten unter sich, deren jeder hunderttausend Krieger auf die Beine bringen könnte, und daß er in der schönsten und festesten Stadt unterm Himmel seine Wohnung habe, so fügten sie noch hinzu, er habe jährlich fünfzigtausend Menschen den Göttern zu opfern. Man sagt wirklich, dieser König habe mit verschiedenen großen benachbarten Völkerschaften Krieg unterhalten, nicht bloß, um die Jugend des Landes zu üben, sondern vornehmlich deswegen, damit er jene Opfer mit Kriegsgefangenen beschicken könne. Anderwärts, in einem gewissen Marktflecken, opferte man, um Córtez zu bewillkommen, fünfzig Menschen auf einmal. Laß mich noch diese Erzählung anführen: Nachdem einige von diesen Völkern vom Córtez geschlagen worden, schickten sie Abgeordnete an ihn, um zu kundschaften und ihn um seine Freundschaft zu bitten. Diese Botschafter überbrachten dreierlei Gattungen von Geschenken auf folgende Weise: »Herr«, sagten sie, »hier sind fünf Sklaven! Bist du ein strenger Gott und nährest du dich von Menschenfleisch und Blut, verzehre sie und wir wollen dir mehr herbringen; bist du ein Gott von sanftmütigem Sinn, so sind hier Federn und Räucherwerk, zum Geschenk für dich; bist du ein Mensch, so nimm dies Geflügel und diese Früchte, die wir dir überbringen.«

Über die Einsamkeit.

Die weitläufige Vergleichung des einsamen mit dem tätigen oder geselligen Leben wollen wir linker Hand liegen lassen. Und was die glatten Worte anlangt, hinter welche sich die Ehrsucht und der Geldgeiz verbergen wollen, »daß wir nicht bloß unsertwegen, sondern für das allgemeine Beste auf dieser Welt sind«, so wollen wir es denen, die eben am Tanze sind, ganz dreist ins Gewissen schieben, und sie mögen die Hand aufs Herz legen und sagen, ob man nicht, gerade im Gegenteil, Stand und Ämter und den Wirrwarr der Welt nur deswegen sucht, um vom allgemeinen Wesen seinen eigenen und besondern Vorteil zu ziehen; die elenden Mittel, wodurch man sich zu unseren Zeiten hineindrängt, zeigen deutlich, daß der Zweck nicht viel taugt. Der Ehrsucht laß uns antworten: daß es gerade sie selbst sei, die uns Gefallen an der Einsamkeit einflößt; denn was flieht sie geflissentlicher als gesellschaftlichen Umgang, was sucht sie emsiger als weiten Spielraum für sich allein? Es läßt sich allenthalben Gutes tun und Böses; wenn indessen der Spruch des Bias wahr ist, daß der schlechteste Teil der größere ist, oder auch der Spruch des Predigers Salomon: Unter tausend ist auch nicht einer, der gut sei -

Rari quippe boni: numero vix sunt totidem quot

Thebarum portae, vel divitis ostia Nili110 -,

so ist die Ansteckung im Gedränge sehr gefährlich. Man muß die verderbten Menschen entweder nachahmen oder sie hassen. Beides aber ist gefährlich, sowohl daß man sie nachahme, weil ihrer so viele; als so viele zu hassen, weil sie uns unähnlich sind. Und haben die Kaufleute recht, welche Seereisen tun, darauf zu sehen, daß keine liederlichen Menschen, Gotteslästerer oder andere Bösewichter mit ihnen ein Schiff besteigen, weil solche Gesellschaft Unglück bringt. Daher sagte Bias gar treffend zu einigen Menschen von solchem Schlage, die in einem wackern Seesturm mit ihm auf einem Schiffe sich befanden und die Götter um Hilfe anflehten: »Haltet doch 's Maul,« sagte er, »damit sie nicht merken, daß ich euch bei mir habe!« Und ein noch bündigeres Beispiel gibt der portugiesische Vizekönig in Indien, Albuquerque: Als er sich auf dem Meere in großer Gefahr befand, nahm er einen jungen Knaben auf die Schultern, in der einzigen Absicht, ihm werde die Unschuld des Kindes in der gemeinschaftlichen Not zur Rettung und zur Empfehlung in die Gunst des Himmels dienen, um ihn an Land zu bringen.

Es ist nicht zu leugnen, der Weise kann allenthalben zufrieden leben; ja selbst im Gedränge der Paläste einsam sein und sich selbst genießen: hat er aber die Wahl, so wird er, sagt die Schule, selbst ihren Anblick fliehen; er wird, wenn es nötig ist, das erste ertragen; steht's aber bei ihm, so wird er das letztere wählen. Ihn dünkt, er habe sich noch nicht hinlänglich der Fehler entschlagen, solange er mit den Lastern anderer kämpfen soll. Charondas belegte diejenigen mit Strafen, welche überzeugt wurden, daß sie sich in schlechten Gesellschaften befunden hätten. Nichts in der Welt ist so ungesellig und zugleich so gesellig als der Mensch; das eine durch seine Schuld und das andre nach seiner Natur. Und deucht mich, Antisthenes habe denjenigen nicht befriedigt, der ihm seinen Umgang mit schlechten Leuten vorrückte, wenn er darauf erwiderte: »Halten doch die Ärzte mit den Siechen Umgang; denn wenn sie den Siechen zur Gesundheit dienen, so schwächen sie ihre eigene durch die Ansteckung, durch fortwährende Besuche und durch häufigen Umgang mit ihnen.« Also ist, nach meiner Meinung, das Resultat einerlei, nämlich: mehr für sich und nach seiner eigenen Gemächlichkeit zu leben. Man sucht aber nicht immer ernsthaft den Weg dahin. Oft meint man den Geschäften entsagt zu haben, und man hat nur damit gewechselt. Es ist nicht viel weniger Last dabei, eine Haushaltung zu regieren als einen ganzen Staat. Womit die Seele einmal beschäftigt ist, daran hängt sie sich ganz; und wenn auch die häuslichen Angelegenheiten minder wichtig sind, so sind sie doch nicht minder lästig. Noch mehr! Wenn wir auch dem Hofe und den öffentlichen Ämtern entsagt haben, so sind wir deswegen doch noch nicht von den vornehmsten Sorgen unsers Lebens entledigt.

Ratio et prudentia curas,

Non locus effusi late maris arbiter aufert111.

Ehrsucht, Geiz, Unentschlossenheit, Furcht und andre Leidenschaften und Begierden verlassen uns deswegen nicht, weil wir die Gegend verändern!

... Et

Post equitem sedet atra cura112.

Sie folgten uns oft nach bis in die Klausen und in die Schulen der Philosophie. Weder Wüsten noch Höhlen in Felsen, noch härenes Gewand, noch Fasten schützen uns dagegen:

Haeret lateri letalis arundo113.

Man sagte dem Sokrates, ein gewisser Mensch habe sich auf seinen Reisen um nichts gebessert. »Das glaub' ich wohl,« sagte er, »er hatte sich ja selbst mitgenommen.«

Quid terras alio calentes

Sole mutamus? Patria quis exsul

Se quoque fugit114?

Wer nicht zuvor seine Seele und sich selbst von der Last erleichtert, die ihn drückt, dem wird sie durchs Rütteln und Schütteln noch schwerer zu tragen werden, so wie ein Schiff leichter segelt, wenn die Ladung gut gestaut ist. Man tut dem Kranken mehr weh als wohl, wenn man ihn den Ort verändern läßt! Das Übel sackt sich wie Mehl, wenn man es stark rüttelt; und ein Pfahl geht tiefer in die Erde, wenn man ihn dreht und wendet. Deswegen ist es nicht genug, sich vom Volke entfernt zu haben, nicht genug, den Ort zu verändern, man muß sich von der Weise des Volks entfernen; man muß sich selbst zu lösen und zu binden verstehen.

Rupi jam vincula dicas:

Nam luctata canis nodum arripit; attamen illi,

Cum fugit, a collo trahitur pars longa catenae115.

Wir nehmen unsre Ketten mit uns. Das ist keine völlige Freiheit. Wir sehen zurück nach den Sachen, die wir dahinten lassen; unser Dichten und Trachten ist darauf gerichtet.

Nisi purgatum est pectus, quae proelia nobis

Atque pericula tunc ingratis insinuandum?

Quantae conscindunt hominem cuppedinis acres

Sollicitum curae? quantique perinde timores?

Quidve superbia, spurcitia ac petulantia, quantas

Efficiunt clades? quid luxus desidiesque116?

Unser Übel liegt in der Seele; die aber kann sich selbst nicht vermeiden:

In culpa est animus, qui se non effugit unquam117.

Also muß man sie bei uns zu Hause führen und ihr ihre Wohnung heimlich machen. Das ist die wahre Einsamkeit, deren man mitten in Städten und an den Höfen der Könige genießen kann; freilich aber genießt man ihrer für sich allein mit mehr Bequemlichkeit. Da es nun aber unser Vorsatz ist, allein zu leben und der Gesellschaft zu entsagen, so laß es uns auch so anfangen, daß unsre Zufriedenheit nur bei uns stehe. Laß uns auf alle Verbindungen Verzicht tun, welche uns an andre Menschen heften. Wir müssen so viel über uns gewinnen, daß wir mit vollem Wissen und Willen allein leben und daran Behagen finden können. Stilpon war aus der allgemeinen Feuersbrunst seiner Stadt entflohen, worin er Frau, Kinder und Fahr und Habe verloren hatte. Demetrius Poliorcetes, der ihn nach dieser großen Verwüstung seiner Geburtsstadt mit unerschrockenem Gesicht einhergehen sah, fragte ihn, ob er keinen Schaden erlitten. Er antwortete, nein, und habe er, gottlob, nichts von dem Seinigen verloren. Ebenso angenehm hört sich's, was der Philosoph Antisthenes sagte, der Mensch müsse sich mit solchem Vorrat versorgen, welcher auf dem Wasser schwimmen und solchergestalt mit ihm dem Schiffbruche entgehen könnte. Gewiß, der Mensch von Verstand hat nichts verloren, solang er sich selbst besitzt. Als die Barbaren die Stadt Nola verwüsteten, hatte dabei Paulinus, der daselbst Bischof war, alles das Seinige eingebüßt und war obendrein gefangengenommen. Dennoch betete er folgendermaßen: »Behüte mich, lieber Herr Gott, daß ich diesen Verlust nicht fühle, denn du weißt, daß sie noch nichts von dem berührt haben, was mein ist.« – Die Reichtümer, die ihn reich, die Güter, die ihn gut machten, waren noch unangetastet.

Darin eben besteht die Richtigkeit der Wahl der Schätze, die weder Motten noch Rost fressen, und des Orts ihrer Niederlage, wozu niemand gelangen und den niemand verraten kann als wir selbst. Sorge derjenige, der's vermag, daß er Weib, Kinder, Vermögen und vor allen Dingen Gesundheit habe; aber laß ihn seine Seele nicht so fest daran hängen, daß er sein ganzes Glück darauf baue. Man muß ein Hinterstübchen für sich absondern, in welchem man seinen wahren Freiheitssitz und seine Einsiedelei aufschlagen kann. Hier müssen wir vernünftigen Umgang mit uns selbst unterhalten; und zwar so abgesondert, daß darin keine andre Bekanntschaft oder Mitteilung fremder Dinge stattfinde. Hier mache man ernsthafte Überlegungen, und hier lache man, als ob man weder Frau noch Kinder, noch Verwandte, noch Hausgesinde hätte, damit, wenn der Fall eintreten sollte, daß man sie verlöre, es einem nicht schwer sei, sich ohne sie zu behelfen. Unsre Seele ist, ihrer Natur nach, für alle Lagen geschickt. Sie ist fähig, sich selbst Gesellschaft zu sein; fähig anzugreifen; fähig sich zu verteidigen, zu empfangen und zu geben; in dieser Einsamkeit haben wir nicht zu besorgen, daß wir vor langweiligem Müßiggange verrosten werden.

In solis sis tibi turba locis118.

Die Tugend ist sich selbst genug; ohne Vorschrift, ohne Worte, ohne Wirkung nach außen. Unter unseren gewöhnlichen Handlungen ist nicht eine unter tausend, die uns selbst angehe. Jenen dort, den du, außer sich selbst vor Wut, die durchlöcherte Mauer hinan klimmen und so vielen Feuerschlünden bloßgestellt siehst, und diesen anderen, den du bedeckt mit Narben, vor Hunger bleich und kraftlos erblickst, fest entschlossen gleichwohl eher zu sterben als jenem das Tor zu öffnen: meinst du, sie wären da für ihr eigenes Interesse? Es hat sich wohl! Für das Interesse einer Person vielleicht, die sie nie mit Augen gesehen haben und die sich um ihre Taten gar nicht bekümmert und während der Zeit im Müßiggang und Wohlleben ihr Leben verträumt. Diesen hier, den du mit keuchender Brust, triefenden Augen, ungewaschen und ungekämmt nach Mitternacht aus seiner Bücherkammer hervorschleichen siehst, von dem denkst du wohl, er forsche in den Büchern, wie er immer mehr und mehr ein rechtschaffener Mann, zufriedener und weiser werden könne? Nichts von alledem! Er will, und sollt's ihm auch das Leben kosten, die Nachwelt das Silbenmaß des plautinischen Verses lehren und die wahre Lesart eines lateinischen Wortes herstellen. Wer gibt nicht gern Gesundheit, Ruhe und Leben hin, um Ehr und Ruhm, so unnütz, leicht und falsch die eingetauschte Münze auch sein mag? Unser Tod machte uns noch nicht Furcht genug, laß uns ja noch die Furcht für unsre Frauen, Kinder und Hausgenossen auf unsre Achseln laden! Unsre Geschäfte machten uns noch nicht genug Sorgen, so laß uns, das Maß vollzumachen und uns den Kopf zu zerbrechen, die Sorgen unsrer Nachbarn und Freunde noch dazu nehmen!

Vah quemquamne hominem in animum instituere, aut!

Parare, quod sit carius, quam ipse est sibi119?

Die Einsamkeit, deucht mich, habe mehr Anschein von vernünftigen Gründen für diejenigen Menschen, welche nach dem Beispiel von Thales der Welt ihre tätigen wirksamen Jahre geweiht hatten. Wenn man genug für andre gelebt hat, so kann man das letzte Endchen des Lebens wenigstens auch für sich selbst leben, auf uns und unsre Ruhe laß uns unsere Gedanken und Vorsätze hinlenken. Es ist keine so leichte Sache, sich mit Sicherheit zurückzuziehen. Ein solcher Rückzug gibt uns alle Hände voll zu tun, ohne daß es noch anderer Unternehmungen bedürfe. Weil Gott uns Zeit und Muße gibt, für die Räumung unsrer Wohnung Einrichtung zu treffen; so laß uns beizeiten die Anstalten machen, unsre Sachen einpacken und von der Nachbarschaft Abschied nehmen, uns loswinden von den leidenschaftlichen Banden, die uns an andre fesseln und uns von uns selbst entfremden.

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