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Udum et molle lutum est; nunc, nunc properandus, et acri

Fingendus sine fine rota71.

Man lehrt uns die Kunst zu leben, wenn unser Leben dahin ist. Hundert Schüler haben sich Krankheiten der Unzucht zugezogen, bevor sie in ihrem Aristoteles bis an das Kapitel der Mäßigung gekommen waren. Cicero sagt, wenn er auch das Alter zweier Menschen leben sollte, würde er sich doch nicht die Zeit nehmen, die lyrischen Dichter zu studieren. Und ich halte die Ergotisten auf eine weit kläglichere Weise für unnütz. Mit unserem Kinde hat es größere Eile: nur die ersten fünfzehn oder sechzehn Jahre des Lebens gehören der Schulerziehung, das übrige gehört fürs Handeln. Eine so kurze Zeit müssen wir auf den notwendigen Unterricht verwenden. Man schaffe den Mißbrauch aus dem Wege! Man entferne die verworrenen Spitzfindigkeiten der Disputierkunst, die unser Leben nicht bessern können, und halte sich an die einfachen Sätze der Philosophie; nur verstehe man, sie richtig zu wählen und vorzutragen; sie sind leichter zu fassen als eine Erzählung des Boccaccio. Ein Kind, das eben der Amme entnommen wird, kann sie begreifen, weit leichter als Lesenlernen oder Schreiben. Die Philosophie hat Lehren für die Kindheit des Menschen wie für sein hinfälliges Alter. Ich bin der Meinung Plutarchs, daß Aristoteles seinen großen Zögling nicht sowohl dabei aufhielt, ihn künstliche Syllogismen drechseln zu lassen oder geometrische Aufgaben zu berechnen, als er ihm vielmehr sichere Anleitung zur Herzhaftigkeit, Tapferkeit, Größe der Seele, Mäßigung und Unerschrockenheit gab. Mit diesen Eigenschaften ausgerüstet, schickte er ihn noch als Kind hin, die Welt zu erobern, mit nicht mehr als dreißig tausend Mann zu Fuß und viertausend zu Roß, mit bloß zweiundvierzigtausend Talern im Kriegsschatz. Die übrigen Künste und Wissenschaften, sagte er, ehrte Alexander zwar und rühmte ihre Vortrefflichkeit und Vorzüge, allein, so viel Vergnügen er daran fand, so war es doch nicht leicht, ihm die Lust beizubringen, sich mit ihrer Ausübung selbst zu befassen.

Petite hinc, iuvenesque senesque,

Finem animo certum, miserisque viatica canis72.

Das ist es, was Epikur im Anfang seines Briefes an Menikäus sagt: Laß den Jüngling sich nicht weigern zu philosophieren noch den Ältesten darob zu ermüden. Wer das Gegenteil tut, scheint dadurch zu sagen, seine Zeit, glücklich zu leben, sei noch nicht gekommen oder sie sei für ihn dahin. Gleichwohl will ich mit diesem allen nicht sagen, daß man den Jüngling einkerkern solle. Ich verlange nicht, daß man ihn dem Zorn und der düsteren Laune seines Schulmeisters überlasse: meine Meinung ist nicht, seinen Geist ins Joch oder auf die Folter zu spannen oder ihn nach der Weise einiger seine vierzehn bis fünfzehn Stunden des Tages wie einen Lastträger unter den Büchern schwitzen zu lassen. Ich würde es nicht einmal billigen, wenn er aus düsterem, melancholischem Temperament unmäßigerweise über den Büchern läge und man ihn darin bestärken wollte. Dergleichen macht junge Leute ungeschickt zum artigen Umgang und hält sie ab von besseren Beschäftigungen. Wie manchen Menschen hab' ich in meinem Leben wegen zu großer Gier nach Wissenschaft verdummt gesehen! Carneades war darauf so närrisch erpicht, daß er sich darüber nicht die Zeit ließ, sich den Bart zu scheren und die Nägel zu küppen. Auch möchte ich unserem Jüngling nicht gern die großmütigen Sitten durch die Rauheit und Grobheit anderer verderben. Ehemals war die französische Lebensart zum Sprichwort geworden als eine Lebensart, die sich früh bei jungen Leuten äußerte, aber nicht lange aushielt. In der Tat sehen wir noch, daß nichts so artig sei als die kleinen Kinder in Frankreich; gewöhnlich aber täuschen solche die Hoffnung, die man sich von ihnen machte, und zeigen als erwachsene Menschen gar keine Vortrefflichkeit. Von gar verständigen Leuten hab' ich sagen gehört, daß die Erziehungsanstalten, wohin man sie zu senden pflegt und deren es in Frankreich so viele gibt, sie so verdummen sollen. In der unsrigen müssen ihm immer Garten, Tisch, Bett, Einsamkeit, Gesellschaft, Vormittag, Nachmittag, alle Stunden einerlei sein. Jeder Ort gut zum Studieren; denn die Philosophie, welche als eine Bildnerin des Verstandes und der Sitten sein hauptsächlichstes Studium ist, hat das Privilegium, allenthalben gegenwärtig zu sein.

Als Isokrates der Orator bei einem Gastmahl ersucht wurde, von seiner Kunst zu sprechen, antwortete er nach jedermanns Urteil sehr richtig: Es ist jetzt nicht die Zeit, von dem zu sprechen, was ich verstehe, und auf dasjenige, wozu es jetzt Zeit wäre, verstehe ich mich nicht. – Denn eine Gesellschaft, die sich versammelt hat, um zu lachen und Wohlleben zu treiben, mit zierlichen Reden oder ästhetischen Abhandlungen unterhalten, hieße ein Mischmasch von Tönen ohne Zusammenhang vortragen. Und dasselbe ließe sich von allen übrigen Wissenschaften sagen. In Ansehung der Philosophie aber, insofern sie vom Menschen und seinen verschiedenen Pflichten handelt, sind alle Weisen der einstimmigen Meinung gewesen, daß man solcher ihrer anmutigen Unterhaltung wegen zu keiner fröhlichen Versammlung oder keinen Spielen den Zutritt versagen dürfe. Und wir sehen, wie sie beim Plato, der sie zu seinem Kränzchen als Gast eingeladen hatte, die Gesellschaft auf eine gefällige, dem Ort und der Zeit angemessene Weise unterhält, obgleich sie von den erhabensten und nützlichsten Sachen spricht.

Aeque pauperibus prodest, locupleribus aeque;

Aeque neglectum pueris senibusque nocebit73.

Also wird er auch gewiß weniger Feierstunden machen wie ein anderer. Aber, gleich wie die Schritte, die wir in einer Galerie spazierend tun, uns nicht so ermüden, täten wir ihrer auch dreimal soviel als auf einem vorgeschriebenen Wege: ebenso werden unsere Lektionen, die wir bei allem unserem Tun so gleichsam als zufälligerweise mitnehmen, ohne an Zeit und Ort gebunden zu sein, hingehen, ohne uns im geringsten zu ermüden. Selbst unsere Spielstunden und unsere Leibesübungen, Laufen, Ringen, Musik, Tanzen, Reiten, Fechten und die Jagd werden einen guten Teil unseres Studierens ausmachen. Ich will, daß ein äußerer Anstand des Körpers, ein gefälliges Wesen der Person im Umgang zu gleicher Zeit gebildet werde als die Seele. Es ist nicht eine Seele, nicht ein Körper, den wir erziehen; es ist ein Mensch. Aus dem müssen wir keine zwei machen. Und wie Plato sagt: man muß den einen nicht abrichten ohne den anderen, sondern sie beide gleich führen und leiten, wie ein Paar an eine Deichsel gespannter Pferde. Und scheint es nach seiner Meinung nicht mehr Zeit und Mühe zu erfordern, den Körper auszubilden als den Geist; und nicht umgekehrt? Übrigens muß bei unserer Erziehungsmethode mit strenger Sanftmut verfahren werden, und nicht, wie wohl es bisher gewöhnlich war. Anstatt den Kindern Lust zum Lernen einzuflößen, machte man ihnen davor Furcht und Grauen. Weg mit Zwang und Gewalt! Nichts erniedrigt und verdummt nach meiner Meinung so arg eine sonst gutgeartete Natur.

Verlangt ihr, daß ein Zögling Schimpf und Strafe fürchtet, so verhärtet solchen nicht dagegen. Härtet ihn ab gegen Schweiß, Kälte, Wind, Sonne und Zufälligkeiten, die er nicht achten lernen muß. Entwöhnt ihn aller Weichlichkeit und Verzärtelung in Kleidung, Essen, Trinken und Schlafen. Gewöhnt ihn an alles. Macht daraus kein schönes Söhnchen und Jungferngesichtchen, sondern einen derben, kräftigen Jüngling. Als Kind, Mann und Greis habe ich immer gleich geglaubt und geurteilt. Unter anderen aber hat mir die innere Einrichtung der meisten Erziehungsanstalten beständig mißfallen. Man hätte gewiß nicht weniger Unheil gestiftet, wenn man mehr der Nachsicht Raum gegeben hätte. Es sind wahre Kerker der gefangenen Jugend. Man macht sie faul und liederlich, indem man sie als faul und liederlich bestraft, bevor sie es noch ist. Man komme nur in die Klassen beim Verhör der Lektionen! Da hört man nichts als Schreien der Kinder unter Schlägen und sieht nichts als zorntrunkene Präzeptoren. Eine vortreffliche Art, den zarten und furchtsamen Seelen der Kinder Lust zum Lernen zu machen, sie mit fürchterlicher Kupfernase dazu anzuleiten, die Hände bewaffnet mit der gottlosen Rute von abscheulicher Gestalt. Hinzugefügt noch, was Quintilian darüber sehr richtig bemerkt hat, daß das hochgebietende Ansehen sehr gefährliche Folgen nach sich zieht und vorzüglich bei unserer Art der Züchtigung. Viel anständiger wäre es, wenn die Klassen mit Blumen und Blättern bestreut wären als mit Fasern von blutigen Birken. Ich würde die Munterkeit, die Freude, Flora und Grazien zu den Lehrstunden einladen, so wie es der Philosoph Speusippus mit seiner Schule machte. Wo ihr Gewinn liegt, da laß auch ihr Geschäft walten. Dem Kinde muß man gesunde Speisen verzuckern, solche aber, die ihm schädlich sind, vergällen. Es ist fast unglaublich, wie Plato in den Gesetzen für seine neue Republik so äußerst sorgfältig für die Fröhlichkeit und den Zeitvertreib der Jugend bedacht ist und wie lange er sich bei ihren Wettlaufen, Spielen, Gesängen, Springen und Tänzen aufhält, welche, wie er sagt, vom Altertum der Aufsicht und dem Schutz der Götter übergeben waren, dem Apoll, den Musen und der Minerva. Er breitet sich aus über tausenderlei Vorschriften für die gymnastischen Spiele. Über die gelehrten Wissenschaften sagt er nur sehr wenig und scheint er besonders die Dichtkunst nur bloß der Musik wegen zu empfehlen. Alles Affektierte und Sonderbare in unseren Sitten und Ständen ist zu vermeiden, weil es der bürgerlichen Gesellschaft nachteilig ist. Wer wundert sich nicht über die Komplexion Demophons, des Haushofmeisters Alexanders, welcher im Schatten schwitzte und im Sonnenschein vor Frost zitterte? Ich habe Leute gekannt, welche vor dem Geruch von Äpfeln schneller flohen als vor Flintenschüssen; andere, die vor einer Maus erschraken; noch andere, die sich übergaben, wenn sie Milch abrahmen; andere, wenn sie ein Federbett wärmen sahen: wie Germanicus, der so wenig den Anblick eines Hahnes als sein Krähen vertragen konnte. Dergleichen Abscheu mag vielleicht in verborgenen Eigenschaften gegründet sein: man würde ihn aber tilgen, bin ich überzeugt, wenn man früh genug dazu täte. Über mich hat die Erziehung so viel vermocht, freilich nicht ohn alle Mühe, daß ich, Bier ausgenommen, alles übrige, was eß- und trinkbar ist, ohne Ekel essen und trinken kann. Noch ist der Körper biegsam, deswegen muß man ihn in alle Falten und Gewohnheiten bringen, und wenn man nur den Willen und die Begierden im Zaume halten kann, so darf man den jungen Menschen dreist für alle Nationen und für alle Gesellschaften zustutzen, selbst, falls es nötig sein sollte, zur Unregelmäßigkeit und Ausschweifung. Er füge sich den Sitten und der Gewohnheit. Er muß alles mitmachen können, nie aber gern etwas mitmachen, was nicht gut und heilsam ist. Selbst die Philosophen wollen es nicht loben, daß Callisthenes dadurch die Gunst des Alexander verscherzte, daß er nicht ein Glas Wein über den Durst mit ihm trinken wollte. Mein Zögling müßte mit dem Prinzen lachen, scherzen und zechen. Ich verlange sogar, daß er selbst in einer Schwelgerei seinen Gesellen in Festigkeit und Ausdauer überlegen sein soll und daß er nicht aus Mangel an Kraft oder Mangel an Wissen tolle Streiche vermeide, sondern aus bloßem Mangel an Willen. Multum interest, utrum peccare aliquis nolit, an nesciat74. Ich meinte wirklich einen Herrn vom Stande, der sowenig als nur irgendein Mensch in ganz Frankreich zur Unmäßigkeit geneigt war, dadurch zu ehren, daß ich ihn in guter Gesellschaft fragte, wie oft er sich wohl in Deutschland, aus Notwendigkeit wegen der Geschäfte des Königs, betrunken hätte. Er nahm es auch im rechten Sinn auf und antwortete, es sei dreimal geschehen, und erzählte dabei die Umstände. Ich kenne Personen, die aus Mangel dieser Fähigkeit sich, weil sie mit dieser Nation zu verhandeln hatten, in schlimmer Verlegenheit befunden haben. Oft habe ich mit großer Bewunderung die vortreffliche Natur des Alcibiades bemerkt, der sich so geschmeidig in ganz verschiedene Lagen fügen konnte, ohne daß seine Gesundheit dabei litt, indem er zuweilen die persische Pracht und Üppigkeit übertraf und zuweilen die Mäßigkeit und Strenge der Lakedämonier, ebenso nüchtern in Sparta war als schlemmend in Ionien.

Omnis Aristippum decuit color, et status, et res75.

So müßte mein Jüngling erzogen sein.

... quem duplici panno patientia velat

Mirabor, vitae via si conversa decebit,

Personamque feret non inconcinnus utramque76.

So sind meine Lehren beschaffen. Der hat sie besser studiert, der sie ausübt, als der sie auswendig gelernt hat. Wenn man ihn sieht, so hört man ihn: wenn man ihn hört, so sieht man ihn. Gott wolle nicht, sagt jemand beim Plato, daß Philosophieren soviel heiße als Dinge lernen und sich der Künste befleißigen! Hanc amplissimam omnium artium bene vivendi disciplinam, vita magis, quam litteris, persecuti sunt77.

Als Leo, Fürst der Phliasier, sich beim Heraclides Ponticus erkundigte, von welcher Kunst oder Wissenschaft er eigentlich Profession mache, antwortete ihm dieser: »Ich weiß weder Kunst noch Wissenschaft, sondern ich bin ein Philosoph.« Man machte dem Diogenes den Vorwurf, daß er als ein Ungelehrter sich mit der Philosophie abgäbe. »Eben darum«, sagte er, »bin ich dazu fähiger.« Hegesias bat ihn, er möchte ihm aus einem Buche vorlesen. »Du bist doch sonderbar«, sagt er zu ihm, »du wählst wahre, natürliche und nicht gemalte Feigen: warum wählst du nicht zu deiner Geistesnahrung wahre, natürliche und nicht geschriebene Sachen?« Mein Schüler soll seine Lektion nicht sowohl aufsagen als ausüben. Er wird solche durch Handlungen in sein Gedächtnis prägen. Man wird sehen, ob er bei seinen Unternehmungen Klugheit braucht; ob bei seinem Betragen Güte und Gerechtigkeit vorwaltet; ob in seinen Reden Verstand und Anmut herrscht; ob Standhaftigkeit in seinen Krankheiten; ob Bescheidenheit in seinen Spielen; ob Mäßigkeit in seiner Wollust; Ordnung in seiner Haushaltung; ob Gleichgültigkeit in seinem Geschmack an Fleisch oder Fischen, an Wein oder Wasser. Qui disciplinam suam non ostentationem scientiae, sed legem vitae putet, quique obtemperet ipse sibi, et decretis pareat78. Der wahre Spiegel unserer Vernunft ist der Lauf unseres Lebens. Zeuxidamus antwortete jemand, der ihn fragte, warum die Lakedämonier die Verordnungen über die Kriegszucht nicht schriftlich abfaßten und ihrer Jugend zu lesen gäben, das geschehe deswegen nicht, weil sie solche an Taten und nicht an Worte gewöhnen wollten. Hiermit vergleiche man nach fünfzehn oder sechzehn Jahren einen von diesen Latinisten aus den Schulklassen, der ebenso viel Zeit daran gewendet hat, bloß sprechen zu lernen. Die Welt treibt nichts als Schwatzen, und ich habe noch keinen Menschen gesehen, der nicht eher mehr als weniger gesprochen hätte, als nötig war. Gleichwohl geht unsere halbe Lebenszeit damit hin. Man hält uns fünf bis sechs Jahre dabei auf, Worte verstehn zu lernen und solche aneinanderzureihen; noch ebenso lange, einen großen Haufen derselben, welcher in vier oder fünf Teile ausgedehnt wird, in ein richtiges Verhältnis zu stellen. Nun noch andere fünf, aufs wenigste, um die Kunst zu wissen, sie behende und geschickt durcheinanderzumischen und zu verweben. Das können wir aber denen überlassen, die davon ausdrücklich Profession machen. Eines Tages, als ich nach Orléans reiste, traf ich in der Ebene diesseits Cléry fünfzig Schritte entfernt hintereinander zwei Schullehrer an, die nach Bordeaux gingen; weiter hinter ihnen sah ich einen Haufen Reiter mit einem Offizier an der Spitze, welches der Comte de Rochefoucault war. Einer meiner Leute erkundigte sich bei dem ersten Schulmann, wer dieser Kavalier sei. Dieser, der den Trupp nicht gesehen hatte, der hinter ihm war und meinte, man spräche von seinem Kollegen, antwortete gar drollig: »Es ist kein Kavalier; er ist ein Grammatikus, und ich bin ein Logikus.« Wir nun aber, die wir nicht darauf ausgehen, weder einen Grammatikus noch einen Logikus zu bilden, sondern einen wackeren Edelmann, wir wollen sie ihre Muße mißbrauchen lassen, wie sie wollen; wir haben wohl sonst was zu tun! Wenn unser Zögling nur einen guten Vorrat von Sachen hat, die Worte werden von selbst kommen, und wollen sie nicht kommen, so wird er sie schon herbeiholen. Ich höre einige sich damit entschuldigen, daß sie sich nicht gehörig ausdrücken können, wobei sie merken lassen wollen, als hätten sie den Kopf voll schöner Sachen, die sie aber aus Mangel an Beredsamkeit nicht von sich geben könnten. Das sind Luftstreiche! Soll ich sagen, was ich davon halte? Es sind Wolkenbilder, die sie sich von dunkeln Begriffen in den Kopf setzen, die sie nicht in ihrer Seele auseinandersetzen, sich nicht deutlich machen und folglich anderen nicht mitteilen können. Sie verstehen sich selbst noch nicht. Man sehe sie nur ein wenig darüber stottern, wenn sie solche zur Welt bringen wollen, so wird man leicht urteilen, daß es nicht Schmerzen der Geburt sind, sondern der Schwangerschaft, und daß sie höchstens an ein Mondkalb lecken.

Meinerseits halt' ich dafür, und Sokrates behauptet, daß jedermann, der in seinem Geist eine lebhafte, deutliche Idee hat, solche darstellen wird, sei's durch Provinzialismen, sei's auch nur durch Gebärden, wenn er stumm ist.

Verbaque praevisam rem non invita sequentur79.

Und wie jener in seiner Prosa ebenso poetisch sagte: cum res animum occupavere, verba ambiunt80 , und jener andere: ipsae res verba rapiunt81. Er weiß so wenig von Ablativ, Konjunktiv, Substantiv oder Grammatik als sein Schuhputzer oder Heringshökerin an der Ecke eines Gässchens, und doch werden uns diese genug vorschwatzen, wenn uns danach gelüstet, und werden sich vielleicht dabei ebenso wenig von den Regeln ihrer Muttersprache entfernen als der beste Schulmagister im Lande. Er weiß nichts von der Redekunst, nicht wie man eingangsweise das Wohlwollen des günstigen Lesers erschleichen müsse, und weiß auch nicht, wozu es nötig wäre. Im Ernst, diese ganze schöne Malerei verbleicht gar schnell vor dem Glanze einer ungeschmückten Wahrheit. Dergleichen Kußhandkünste dienen zu nichts weiter, als dem großen Haufen Honig ums Maul zu schmieren, der noch nicht imstande ist, kräftigere und derbere Speisen zu verdauen, wie Afer dies beim Tacitus deutlich zeigt. Die Abgeordneten von Samos waren zum König Cleomenes von Sparta gekommen, vorbereitet auf eine schöne lange Rede, die ihn zum Kriege gegen den Tyrannen Polykrates aufreizen sollte. Nachdem Cleomenes solche der Länge nach angehört hatte, gab er ihnen zur Antwort: »Des Anfangs und Eingangs eurer Rede erinnere ich mich nicht mehr, folglich auch nicht des Hauptteils derselben; was aber eueren Beschluß anlangt, so kann ich mich darauf nicht einlassen.« – Das war, deucht mich, eine schöne Antwort und machte die Nasen der Redner um viele Zoll länger. Und wie ging's jenen anderen? Die Athenienser hatten einen großen Bau aufzuführen und versammelten sich, unter zwei Baumeistern einen zu wählen. Der erste davon, voller Anmaßungen, trat mit einer wohlstudierten Rede auf, über den Gegenstand dieser Unternehmung und riß das Urteil des Volkes für sich dahin. Der andere aber hatte nur drei Worte: »Ihr Herrn von Athen«, sagt er, »was mein Mitwerber da gesagt hat, das will ich leisten.«

Als Cicero einst eine wohlausgearbeitete Rede hielt, traten viele mit Bewunderung auf seine Seite. Cato aber tat dabei nichts als lachen und sagte: »Wir haben da einen redseligen Konsul.« – Vor- oder nachher gesagt, ein nützlicher Spruch, ein schöner Zug stehen immer am rechten Orte. Schickten sie sich nicht auf das Vorgehende oder Nachfolgende, so sind sie doch schön an und für sich selbst. Ich bin keiner von denen, welche dafür halten, der hübsche Reim mache das gute Gedicht. Mag unser junger Mann eine lange Silbe kurz brauchen, was hängt daran? Wenn seine Erfindung sinnreich ist, wenn Witz und Verstand dabei ihre Pflicht getan haben, so werde ich sagen: Es ist ein guter Dichter, obgleich ein schlechter Versemacher.

Emunctae naris, durus componere versus82.

Man nehme, sagt Horaz, seinem Gedicht Silbenmaß und Klangfuß -

Tempora certa modosque, et, quod prius ordine verbum est,

Posterius facias, praeponens ultima primis ...

Invenias etiam disiecti membra poetae83 -,

dadurch wird es nicht aufhören, Poesie zu sein; selbst die einzelnen Brocken davon werden schön bleiben. Das ist es, was Menander dem antwortete, der ihn ausforschen wollte, als der Tag annahte, an dem er ein Schauspiel versprochen, an welches er aber noch keine Hand gelegt hatte: »Das Schauspiel ist fertig und bereit; ich muß nur erst noch die Verse dazu machen.« Nachdem er Materie und Plan in seinen Gedanken geordnet hatte, hielt er das übrige für sehr leicht. Seitdem Ronsard und Bellay unsere französische Dichtkunst in Aufnahme gebracht haben, wüßte ich nicht den geringsten Lehrling, der nicht Worte aufblase und nicht, ungefähr wie jene, einen Vers auf seine Füße stelle. Aber plus sonat quam valet84 ; es ist Theaterdonner. Für den großen Haufen haben wir niemals so viele Dichter gehabt. So leicht es ihnen aber geworden ist, ihre Reime nachzuklingeln, so weit sind sie zurück, wenn sie die unerschöpfliche Darstellungskunst des einen und die so große Feinheit der Erfindungen des anderen nachahmen wollen. Recht gut! Aber, was wird unser Jüngling tun, wenn man ihm mit der Spitzfindigkeit sophistischer Syllogismen auf den Leib rückt? Wie z.B. Schinken essen reizt zum Trinken; trinken löscht den Durst: ergo löscht Schinkenessen den Durst! Laß ihn darüber lachen; drüber lachen ist viel gescheiter, als darauf antworten. Laß ihn vom Aristipp die spaßhafte Gegenlist borgen: »Warum sollte ich euer Rätsel auflösen, da es mir gebunden schon so viel zu schaffen macht?« Chrysippus sagte zu jemand, der den Cleanthes mit logischen Spitzfindigkeiten zerren wollte: »Necke die Kinder mit deinen Foppereien, aber komm damit den ernsthaften Gedanken eines verständigen Mannes nicht in die Quere!«

Wenn solche gelehrten Schwänke, contorta et aculeata sophismata85, ihm Unwahrheit zur Wahrheit machen sollten, so wären sie freilich gefährlich. Wenn sie aber ohne Wirkung abglitschen und ihm bloß zu lachen geben, so seh' ich nicht, warum er dagegen so ängstlich auf seiner Hut zu sein braucht. Es gibt so dumme Hänse, die zu halben Meilen von ihrem geraden Wege abschweifen können, um einen witzigen Einfall zu haschen. Aut qui non verba rebus aptant, sed res extrinsecas arcessunt quibus verba conveniant86  und der andere: qui alicuius verbi decore placentis vocentur ad id quod non proposuerant scribere87. Ich mag lieber einem anderen einen brav gesagten Gedanken abdrehn und solchen den meinigen einflicken, als den Faden meiner eigenen auftrieseln, um ihn einzudrillen. Umgekehrt, sag' ich, die Worte müssen nachtreten und das Buch tragen, und wenn der Franzose nicht dahin reichen kann, der Gaskogner kann alles. Ich fordere, daß ein Hörer oder Leser von den Sachen überwältigt und seine Imagination davon solchermaßen angefüllt werde, daß er sich der Worte darüber gar nicht bewußt sei. Die Sprache, die ich vorzüglich liebhabe, ist eine Sprache ohne künstliche Ziererei, aber von natürlichem Ausdruck, gleichviel abgeschrieben oder gesprochen, eine kräftige, nachdrückliche Sprache, kurz und gedrungen, nicht sowohl zart, geschmückt und gekrümmt, als andringlich und hastig.

Haec demum sapiet dictio, quae feriet88 ,

lieber schwer, als langweilig; ohne Affektation, ohne Rute, den Zügel der Regel leicht tragend und kühn. Jeder Wurf muß darin seine Stelle füllen; sie muß nicht pedantisch sein, nicht mönchisch, nicht zungendrescherisch, sondern vielmehr soldatisch, wie Sueton die Sprache des Julius Cäsar nennt, ob ich gleich nicht recht einsehe, warum. Ich habe mit Fleiß diese Ungebundenheit nachgeahmt, die man an unserer Jugend, in ihrer Art die Kleidung zu tragen, wahr nimmt. Das trägt seinen Mantel quer über Brust und Rücken, läßt die Kappe herunterhängen bis auf die Schultern und läßt die Strümpfe am Beine schlottern, und das zeigt dann in dieser sonderbaren Zier und künstlichen Nachlässigkeit so ein gewisses stolzes Freiheitsgefühl. Ich finde diese Ungebundenheit aber noch besser angebracht in der Form der Sprache.

Eine Affektation, besonders bei der französischen Lebhaftigkeit und Freiheit, kann einem Hofmann wohl anstehn; und in einer Monarchie muß jeder von Adel auf den Hofton gestimmt sein. Deshalb tun wir wohl, ein wenig auf der Seite des Ungezwungenen und des Kopfwerfens zu hinken. Ich habe ein Gewebe nicht gern, worin die Weberknoten und Nähte sichtbar sind; sowenig wie man an einem schönen Körper die Knochen und Adern muß zählen können. Quae veritati operam dat oratio, incomposita sit et simplex89. Quis accurate loquitur, nisi qui vult putide loqui90?

Die Beredsamkeit, welche uns auf sich selbst zieht, tut den Sachen Gewalt und Unrecht. So wie es bei unseren Kleidungen kindisch ist, sich durch irgend etwas Besonderes und Auffallendes auszuzeichnen, so ist es auch mit der Sprache; das Haschen nach neuen Wendungen und wenig bekannten Worten bezeichnet einen schülerhaften kindischen Ehrgeiz. Möchte mir doch nie ein anderes Wort oder andere Redensarten entfahren, als die man in der Residenz auf dem Fischmarkte versteht! Aristophanes der Grammatiker wußte nicht, was er wollte, da er am Epikur die Kunstlosigkeit seiner Worte tadelte und den Zweck seiner Kunst zu reden, welcher bloß auf Deutlichkeit der Sprache zielte. Das Nachahmen der Sprache ist so leicht, daß es sich ohne Anstand unter einem ganzen Volke verbreitet. Mit dem Nachahmen im Urteilen, im Erfinden geht es nicht so geschwind. Die meisten Leser irren gewaltig, wenn sie meinen, sie hätten einerlei Körper, weil sie Kleider von einerlei Schnitt tragen. Mark und Sehnen borgt man nicht, wie man wohl Mantel und Kleid borgt. Die meisten Personen, mit denen ich umgehe, sprechen wie mein Buch. Ob sie aber ebenso denken wie ich, das weiß ich nicht.

Die Athenienser, sagt Plato, haben zu ihrem Anteil die Sorge für den Reichtum und die Zierlichkeit der Sprache; die Lakedämonier für ihre Kürze; die von Kreta aber für die Fruchtbarkeit der Gedanken vielmehr als für die Sprache. Diese letzten sind die besten. Zenon sagt, er habe zwei Gattungen von Schülern: die einen, die er φιλόλογος, gierig Sachen zu lernen, nannte, wären seine Lieblinge; die anderen λογόφιλος, dächten auf nichts als auf die Sprache. Das heißt aber nicht soviel gesagt, als sei es nicht eine recht hübsche Sache um die Reinheit und Richtigkeit der Sprache! Nur ist es nicht so wichtig, als wozu man's macht, und ich ärgere mich nur darüber, daß wir unser ganzes Leben darauf verwenden sollen.

Ich würde erstlich meine Muttersprache und die Sprache meiner Nachbarn, mit denen ich gewöhnlich den meisten Verkehr habe, gut wissen wollen. Es ist allerdings ein fein und lieblich Ding um das Griechische und das Latein, nur kauft man es gar zu teuer. Ich will hier eine Art und Weise sagen, wie man es wohlfeileren Kaufs wie gewöhnlich haben kann. Man hat solche mit mir selbst eingeschlagen. Wer will, mag sich derselben bedienen. Nachdem sich mein Vater seliger auf alle menschenmögliche Weise bei gelehrten und sachkundigen Männern nach einer vorzüglichen Erziehungsart erkundigte, ward er von dem Nachteil belehrt, der sich bei der gewöhnlichen Weise befindet, und ward ihm gesagt, daß diese Länge der Zeit, welche wir darauf verwenden, die Sprachen der Griechen und Römer zu lernen, die ihnen nichts kostete, die einzige Ursache sei, warum wir uns nicht bis zur Größe der Seele und der Höhe der Wissenschaften erheben könnten, die man bei diesen alten Völkern wahrnähme. Ich glaube gleichwohl nicht, daß das die einzige Ursache sei. Indessen war das Mittel, welches mein Vater ergriff, folgendes: Noch an der Brust und noch bevor sich meine Zunge gelöst hatte, übergab er mich einem Deutschen, der nachmals als ein berühmter Arzt in Frankreich starb. Dieser verstand gar kein Französisch, aber umso besser das Lateinische. Er hatte ihn ausdrücklich verschrieben und sehr gute Bedingungen gemacht, und dieser hatte mich beständig auf den Armen. Neben sich hatte er noch zwei andere von minderer Wissenschaft, die beständig um mich sein mußten, um es dem ersten zu erleichtern. Diese nun sprachen kein anderes Wort mit mir als Latein. Für die übrigen Personen des Hauses war es eine unverbrüchliche Regel, daß weder mein Vater noch meine Mutter, weder männliche noch weibliche Bediente in meiner Gegenwart ein Wort sprechen durfte als die paar lateinischen Brocken, die jeder gelernt hatte, um mit mir zu pappeln. Groß bis zum Bewundern waren die Fortschritte, die ein jeder darin machte. Mein Vater und meine Mutter lernten darüber Latein genug, um es zu verstehn, und selbst genug, um sich im Notfall darin auszudrücken, ebenso wie diejenigen von den Bedienten, welche am meisten mit mir zu tun hatten. Kurz, wir latinisierten uns dermaßen, daß noch für die Dörfer um uns her etwas abkrümmelte, woselbst man noch Überbleibsel findet und wo es zur Gewohnheit geworden ist, verschiedene Handwerker und ihr Gerät mit lateinischen Namen zu nennen. Mich selbst anlangend, so wußte ich in meinem siebenten Jahre ebenso wenig von der französischen oder perigordischen Sprache als von der arabischen; und ohne Kunst, ohne Buch, ohne Grammatik oder Vokabelbuch, ohne Rute und ohne Tränen hatte ich ein so echtes, reines Latein gelernt, als mein Lehrer es wußte; denn wodurch hätte ich es vermischen oder verderben sollen? Wenn man mir zur Übung, wie es in Schulen gebräuchlich ist, ein Thema aufgeben wollte, so gab man es mir, wie sonst den anderen auf französisch, in schlechtem Latein, um es in gutes zu bringen. Und Nicolas Grouchi, der de comitiis Romanorum geschrieben hat, Wilhelm Guerente, der den Aristoteles kommentiert hat, Georg Buchanan, der große schottländische Dichter, Marc Anton Muret (welchen Frankreich und Italien für den größten Redner seinerzeit erkennen), meine Hauslehrer haben mir oft gesagt, daß ich in meiner Kindheit diese Sprache solchergestalt am Schnürchen gewußt habe, daß sie sich fürchteten, mir zu nahezukommen. Buchanan, den ich nachher wieder im Gefolge des verstorbenen Marschalls de Brissac gefunden habe, sagte mir, er arbeite an einem Plan der Erziehung der Kinder und daß er die meinige zum Muster nähme; denn ihm war damals die Erziehung dieses Grafen de Brissac aufgetragen, der sich hernach so brav und so tapfer bewiesen hat.

Betreffend das Griechische, das ich nun fast ganz wieder ausgeschwitzt habe, so machte mein Vater den Plan, solches mich durch einen Sprachmeister lehren zu lassen; jedoch nach einer neuen Methode; spielend und im Spazierengehen. Wir warfen uns die Deklinationen zu, so wie diejenigen zu tun pflegen, welche vermittelst gewisser Karten und Spielzeuge die Arithmetik und die Geometrie lernen. Denn unter anderem war auch meinem Vater geraten worden, meinen Willen ohne Zwang so zu leiten, daß ich aus eigenem Antrieb die Wissenschaften und meine Pflichten liebte, und meine Seele mit Liebe und Sanftmut zu bilden, ohne Strenge und Härte. Das ging bis zu der, möcht' ich sagen, Schwärmerei, daß, weil einige Menschen der Meinung sind, es schade dem zarten Gehirne der Kinder, wenn man sie des Morgens plötzlich und mit Gewalt aus dem Schlafe wecke, indem sie tiefer und fester schlafen als erwachsene Personen, er mich immer durch Musik aufwecken ließ und also beständig jemand im Dienste hatte, der ein Instrument spielen konnte.

Dieser Zug mag hinreichend sein, um vom übrigen zu urteilen, und auch die Fürsorge und zärtliche Liebe eines so guten Vaters zu preisen, dem man die Schuld nicht beimessen kann, wenn er keine Früchte eingeerntet hat, die einer so sorgfältigen Kultur entsprächen. Das lag an zwei Ursachen: Die erste war die Unfruchtbarkeit und Ungeschlachtheit des Ackers; denn ob ich gleich von guter und fester Gesundheit war und dabei zugleich von mildem und biegsamem Naturell, so war ich doch mitunter so träge, weichlich und schläfrig, daß man mich dem Müßiggang nicht zu entreißen vermochte, nicht einmal um zu spielen. Das was ich sah, sah ich richtig; und unter dieser schwerfälligen Komplexion unterhielt ich kühne Ideen und solche Meinungen, die über mein Alter gingen. Mein Witz war langsam und ging nicht weiter, als man ihn leitete; von Begriff war ich schleppend, meine Erfindungskraft war schlaff, und dabei war noch mein Gedächtnis unglaublich schwach. Zweitens: so wie diejenigen, welche ein heftiger Wunsch treibt, von irgendeinem Übel zu genesen, endlich jeden Rat ohne Unterschied befolgen, so ließ sich endlich mein guter Vater bei seiner gewaltigen Furcht, ich möchte ihm mit einer Sache fehlschlagen, die ihm so sehr am Herzen lag, vom allgemeinen Wahne hinreißen, welcher immer demjenigen nachschlendert, welcher vorangeht (wie die Kraniche), und fügte sich in die gewöhnliche Weise; denn er hatte die Männer nicht mehr um sich, die ihm den ersten Erziehungsplan an die Hand gegeben, den er aus Italien mitgebracht hatte, und sandte mich, da ich ungefähr sechs Jahre alt war, ins Guyenner Kolleg, das damals sehr blühend und das beste in Frankreich war. Hier wendete er alle mögliche Sorgfalt an, sowohl um mir die gelehrtesten Privatlehrer auszuwählen, als die übrigen Umstände meines Unterhalts einzurichten, worin er sich verschiedene besondere Punkte vorbehielt, die in der Schulanstalt nicht gewöhnlich waren. Unterdessen war's und blieb's eine öffentliche Schule. Mein Latein ward von Stund an verdorben, und nachher hab' ich all meine Fertigkeit darin aus Mangel an Übung verloren. Und meine bisherige ungewöhnliche Erziehung diente weiter zu nichts, als mich gleich bei meiner Ankunft den Sprung in die ersten Klassen tun zu lassen. Denn mit dreizehn Jahren, da ich das Kollegium verließ, hatte ich meinen Kursum (wie sie es nennen) vollendet; und zwar ohne irgendeinen Nutzen, den ich gegenwärtig in Rechnung zu bringen wüßte.

Die erste Neigung, die ich zum Lesen bekam, entsprang aus dem Vergnügen an den Fabeln der Verwandlungen von Ovid. Denn in meinem siebenten oder achten Jahre entzog ich mich jedem anderen Vergnügen, um solche zu lesen; umso mehr, da die Sprache gleichsam meine Muttersprache war und das Buch das leichteste für mich, das ich kannte, und zugleich, wegen seines Inhalts, für mein Alter das angemessenste. Denn die Lancelots du Lac, die Amadis, die Huons de Bordeaux und dergleichen alte Tröster von Romanen, woran sich die leselustige Jugend erfreute, kannte ich nicht einmal dem Titel nach, wie ich solche noch bis auf diese Stunde dem Inhalt nach nicht kenne; so genau war die Enteilung meiner Zeit. Ich ward dadurch nachlässiger, meine anderen mir vorgeschriebenen Lektionen zu treiben. Hierbei kam es mir außerordentlich zustatten, daß ich es mit einem verständigen Manne von Präzeptor zu tun hatte, der bei dieser und ähnlichen Ausschweifungen auf eine sehr feine Art ein Auge zuzudrücken wußte. Denn dadurch las ich die Aeneis des Vergil in einem Zuge ganz durch, und dann den Lukrez, hierauf den Plautus und italienische Komödien, die mich alle durch den Reiz der Fabel anlockten. Wäre er töricht genug gewesen, mich in diesem Gang zu stören, so hätte ich, wie ich glaube, aus dem Collegio nichts mitgebracht als die Bücherscheu, wie es fast mit unserem ganzen Adel der Fall ist. Er betrug sich dabei sehr klüglich und tat, als ob er davon nichts merkte; er verschärfte meinen Hunger, indem er mich diese Bücher nur verstohlenerweise verschlingen ließ und mich sanfterweise zu meiner Schuldigkeit für die übrigen regelmäßigen Studien anhielt. Denn das vornehmste, was mein Vater bei denjenigen suchte, welchen er mich anvertraute, war Gutmütigkeit und ein sanfter Charakter; auch hatte mein eigener keine anderen Fehler als Langsamkeit und Trägheit. Es war nicht zu befahren, daß ich etwas Böses täte, sondern daß ich nichts täte. Niemand prophezeite, daß ich ein schlechter Mensch werden würde, aber wohl ein unnützer Mann. Man sah voraus, ich würde ein Faulenzer werden, aber kein böser Mensch. Ich fühle wohl, daß es so eingetroffen sei. Die Klagen, die mir in den Ohren gellen, laufen darauf hinaus: er tut nichts; er ist kalt in den Pflichten der Freundschaft, der Verwandtschaft und des bürgerlichen Lebens; ist zu eigenwillig, zu wegwerfend. Die Beleidigendsten selbst sagen nicht, warum hat er gekauft, warum hat er nicht bezahlt?, sondern: warum quittiert er nicht, warum gibt er nicht? – Ich würde es für eine große Güte aufnehmen, wenn man keine anderen Wirkungen von meinen verdienstlichen Werken verlangte. Aber sie sind ungerecht, daß sie, was ich nicht schuldig bin, viel strenger fordern, als von sich selbst zu fordern, wofür sie Schuldner sind. Indem sie mich dazu verdammen, tilgen sie den Wert der Handlung und den Dank, der mir dafür gebührte, da erzeigte Wohltaten von meiner lässigen Hand umso wichtiger sein sollten, in Rücksicht dessen, daß die Reihe des Nehmens noch niemals an mir gewesen ist. Ich kann umso freier über das meinige schalten, weil es mehr mein ist, und über mich selbst, weil ich mehr der meinige bin. Wäre ich indessen der Mann, der sein Tun hübsch herausstreichen möchte, so könnte ich vielleicht diese Vorwürfe zurückgeben und könnte einigen der guten Leute begreiflich machen, daß sie eigentlich nicht darüber böse sind, daß ich nicht genug tue, sondern darüber, daß ich mehr tun könnte, als ich wirklich tue.

Meine Seele war nichtsdestoweniger dabei für sich, in der Stille, ganz geschäftig und urteilte sicher und frei über die Dinge, die sie kannte, und dachte für sich selbst nach, ohne sich gängeln zu lassen. Und unter anderem glaub' ich wirklich, daß sie ganz und gar unfähig gewesen sein würde, der Gewalt und dem Zwange nachzugeben. Darf ich aus meiner Kindheit dies noch anführen, daß es mir leicht ward, ohne Blödigkeit aufzutreten, und daß ich Biegsamkeit genug in Stimme und Gebärden besaß, um die Rollen gut auszuführen, die ich übernahm.

Alter ab undecimo tum me vix ceperat annus91.

Ich habe die Hauptrollen aus Buchanans, aus Guerentes und Murets lateinischen Tragödien gespielt, welche in unserm Collegio zu Guyenne mit Würde vorgestellt wurden. In diesem Punkte war Andreas Goveanus, wie in allen übrigen seines Amtes, ohn allen Vergleich der größte Schuldirektor in Frankreich; und mich hielt man darin für Meister oder wenigstens für einen Altgesellen. Es ist eine Übung, auf welche ich für vornehmer Leute Kinder nichts zu sagen habe; und habe ich seitdem unsere Prinzen selbst damit abgeben gesehen; nach edlem, ehrlichem und löblichem Beispiel einiger unter den Alten, bei denen es Leuten von Stand und Ehre sogar erlaubt war, daraus ein Gewerbe zu machen; und in Griechenland Aristoni tragico actori rem aperit: huic et genus et fortuna honesta erant; nec ars, quia nihil tale apud Graecos pudori est, ea deformabat92. Denn ich habe immer die Leute für unbesonnen gehalten, welche diese Ergötzlichkeit verdammen; und diejenige für ungerecht, welche solchen Schauspielern, die Verdienste haben, keine Erlaubnis erteilen wollen, in unseren guten Städten zu spielen, und den Einwohnern diese öffentliche Lustbarkeiten nicht gönnen.

Gute Polizeianstalten sorgen dafür, die Bürger zu versammeln und zu vereinigen, sowohl zur feierlichen Übung der öffentlichen Andacht als auch zur Übung fröhlicher Spiele; dadurch wird Geselligkeit und Freundschaft befördert, und überdem könnte man dem Volke keinen besser geordneten Zeitvertreib verstatten als einen solchen, der in aller Gegenwart und selbst unter den Augen obrigkeitlicher Personen stattfindet. Ich würde es nicht mehr als billig finden, wenn der Landesherr zuweilen, zum Zeichen seiner väterlichen Huld und Gewogenheit, auf seine Kosten den Untertanen damit ein Vergnügen machte und wenn man in volkreichen Städten besondere Anstalten und Gebäude für solche Schauspiele errichtete; dadurch würden schlimmere Gelage und heimliche Lustarten sich vermindern. Aber wieder auf meine Materie zu kommen: Man muß hauptsächlich darauf arbeiten, Lust und Liebe zum Studieren zu erregen; sonst erzielt man weiter nichts als mit Büchern bepackte Esel. Man gibt ihnen mit Karbatschenhieben den ganzen Schulbeutel voll Wissenschaft zum Aufheben und Bewahren, welche man, um es recht zu machen, nicht bloß bei sich zur Herberge nehmen, sondern als trautes Gemahl heimführen muß.

Über die Freundschaft.

Nachdem ich das Benehmen eines Malers, den ich im Hause habe, betrachtete, ist mir die Lust angekommen, in seine Fußstapfen zu treten. Er wählt den schönsten Platz auf der Mitte jeder Wand, worauf er ein Gemälde zeichnet und mit aller seiner Kunst ausführt, und den leeren Raum ringsherum füllt er aus mit Grotesken, deren einziger Wert in der Mannigfaltigkeit und Laune besteht. Was enthält dies Buch hier, beim Lichte besehen, anderes als Grotesken und phantastische Körper, die aus verschiedenen Gliedern zusammengestoppelt sind, die keine bestimmte Gestalt haben, in keine Ordnung gehören, außer der Natur, außer allem Verhältnis sind, es müßte denn ein bloß zufälliges sein?

Desinit in piscem mulier formosa superne93.

Ich gehe nun zwar wohl mit meinem Maler bis zu diesem zweiten Punkt; bei dem ersten und besten aber da hapert's! Denn so weit reicht meine Kunst nicht, daß ich mich unterstehen könnte, mich an ein reiches, schönes, nach den Regeln der Kunst geordnetes Gemälde zu wagen. Ich bin darauf verfallen, eins von Etienne de la Boétie zu borgen, welches all meinem übrigen Gepinsel Ehre machen soll. Es ist eine Abhandlung, der er den Namen gab: Freiwillige Knechtschaft. Diejenigen aber, die nichts davon wußten, haben sie nachdem weit schicklicher Wider einen getauft. Er schrieb sie als eine Übungsarbeit in seiner frühen Jugend, zu Ehren der Freiheit, wider die Despoten. Sie ist unter sachkundigen Männern von Hand zu Hand gegangen und hat viel Lob und Beifall erhalten, denn sie ist artig geschrieben und sehr reichen Inhalts. Dennoch läßt sich wohl dabei sagen, daß es nicht das beste sei, was er hätte schreiben können. Und hätte er in einem reifern Alter, da ich ihn kannte, einen solchen Vorsatz gefaßt, wie der meinige ist, seine Einfälle zu Papier zu bringen, so würden wir manche vortreffliche Sachen, welche dem Ruhm des Altertums sehr nahekommen dürften, von ihm erhalten haben; denn ich wüßte niemand, den ich ihm, vorzüglich was Naturgaben betrifft, an die Seite stellen könnte. Er hat aber nichts weiter hinterlassen als diese Abhandlung, und diese auch nur durch Zufall; dennoch glaube ich nicht, daß er sie wieder vor die Augen bekommen hat, nachdem er sie einmal hatte entwischen lassen; und noch ein paar Aufsätze über das Jänneredikt, das so berufen durch die innern Kriege ist, welche vielleicht auch noch anderwärts ihren Platz bekommen. Das ist es alles, was ich von seinem Nachlaß habe sammeln können (ob er meiner gleich noch, da ihm der Tod schon an der Kehle saß, so höchst freundschaftlich gedachte und mir in seinem Testament seine Bücher und seine Papiere vermachte) außer dem einen Bande von seinen Werken, den ich herausgegeben habe. Und habe ich diesem Stücke außerordentlich viel zu verdanken, weil es die Veranlassung zu unserer Bekanntschaft gab. Denn es ward mir lange vorher mitgeteilt, ehe ich ihn persönlich kannte, und erfuhr ich zuerst dadurch seinen Namen; solchergestalt beförderte es diejenige Freundschaft, welche wir, solange es Gott gefiel, miteinander gepflogen haben und welche so innig, so vollkommen war, daß man gewiß von viel dergleichen nicht lesen wird; und unter den Menschen heutigen Tages findet sich davon gar keine Spur mehr. Um eine solche Freundschaft zu stiften, werden so viele Zufälligkeiten erfordert, daß es schon viel ist, wenn das Glück solche nur alle dreihundert Jahre einmal zusammentreffen läßt.

Es scheint, die Natur habe uns zu nichts eigentlicher und näher bestimmt als zur Geselligkeit. Und Aristoteles sagt, die besten Gesetzgeber haben mehr Sorge für die Freundschaft als für die Gerechtigkeit getragen. Nun aber macht diese den höchsten Grad ihrer Vollkommenheit aus. Denn überhaupt sind alle die Freundschaften, welche aus Wollust, aus Eigennutz und Not, öffentliche oder häusliche, errichtet werden, umso weniger schön und herzlich und daher umso minder Freundschaft, als sich andere Ursachen, andere Zwecke und anderer Genuß hineinmischen als die Freundschaft selbst. Ebensowenig machen die vier Arten des Altertums, getrennt und jede für sich oder zusammengenommen, den eigentlichen wahren Charakter der Freundschaft aus, als da sind: Verbindungen des Naturverhältnisses, der Geselligkeit, des Gastrechts oder der physischen Liebe. Vom Vater zum Kinde ist es vielmehr Ehrerbietung.

Die Freundschaft nimmt ihre eigentliche Nahrung von der vertraulichen Mitteilung, welche unter Eltern und Kindern, wegen des zu großen Abstandes der Jahre, nicht stattfinden kann und wohl gar die Pflichten der Natur beleidigen könnte; denn teils lassen sich alle geheimen Gedanken des Vaters dem Kinde nicht mitteilen, weil das eine unschickliche Gleichheit nach sich ziehen würde, teils können die Belehrungen und Warnungen, welche unter die vornehmsten Pflichten der Freundschaft gehören, vom Kinde zum Vater nicht stattfinden. Es sind Völkerschaften bekannt geworden, wo die Kinder, nach eingeführter Gewohnheit, ihre Väter töteten; und andere, wo die Väter ihre Kinder umbrachten, um der Beschwerde auszuweichen, sie zuweilen mit sich zu schleppen, und natürlicherweise hängt die Unterhaltung der einen ab von dem Verderben der anderen. Es hat Philosophen gegeben, welche dies Band der Natur verachtet haben; zum Beispiel Aristipp, welcher, als man ihm die Neigung zu Gemüt führte, die er seinen Kindern schuldig wäre, weil sie von ihm ihren Ursprung hätten, von seinem Speichel auswarf und dabei sagte: der hätte auch seinen Ursprung von ihm!, erzeugte der Mensch doch auch Ungeziefer und Würmer.

Und jener andere, den Plutarch bereden wollte, sich mit seinem Bruder zu versöhnen, sagte: »Ich mache mir deswegen nicht mehr aus ihm, weil ich mit ihm aus einer Höhle abstamme.« Allerdings ist der Name Bruder schön und voller Süßigkeit, deswegen ich auch unser Bündnis darauf gründete; allein das ineinander verwickelte Interesse, die Teilung der Erbschaften und der Umstand, daß der Reichtum des älteren Bruders die Armut der jüngeren verursacht, macht sehr große Erkältungen und erschlafft die Banden der Bruderliebe; die Brüder, welche ihr Fortkommen in der Welt auf einerlei Wegen und mit einerlei Mitteln bewirken sollen, die können nicht umhin, sie müssen sich zuweilen stoßen und einander ins Zeug geraten. Noch mehr! Warum findet man die trauliche Eintracht und die gegenseitige Mitteilung, welche wahre und vollkommene Freundschaften erzeugen, bei dieser hier nicht? Der Vater und der Sohn können ganz entgegengesetzter Gemütsart sein; ebenso Brüder. Es ist mein Sohn, es ist mein Verwandter; aber es ist ein störrischer Mensch, ein Bösewicht, oder ein Narr. Dazu kommt dann noch, daß dies Freundschaften sind, wozu uns die Gesetze und Pflichten der Natur verbinden, wobei keine Wahl stattfindet und dabei der freie Wille nicht mitwirken kann wie bei der bloßen Herzensfreundschaft. Ich kann wohl sagen, daß ich Familienfreundschaft im höchstmöglichen Maße empfunden und genossen habe, denn mein Vater war bis in sein graues Alter der beste und gütigste, den jemals die Welt gesehen hat, und dabei bin ich von einer Familie, die von seiten der brüderlichen Liebe und Eintracht, von Vater auf Sohn, als musterhaft berühmt ist.

Et ipse Notos in fratres animi paterni94.

Are sens