Mit eben der Gewandheit riet einer ihrer Gesandten bei den Atheniensern (der eine Änderung in gewissen Verordnungen bewirken sollte), dem Perikles, der zur Entschuldigung der Weigerung anführte, es sei im Gesetz verboten, eine Tafel wegzunehmen, worauf ein einmal gegebenes Gesetz geschrieben stände: er solle sie dann nur umwenden, denn das sei nicht verboten. Plutarch lobt am Philopoemen, daß er zum Regieren geboren gewesen und nicht nur nach den Gesetzen, sondern wenn es die Not des Gemeinwesens erfordert, selbst die Gesetze zu regieren verstanden habe.
Von der Pedanterei.
In meiner Jugend hab' ich mich oft darüber ereifert, wann ich in der italienischen Komödie beständig einen Pedanten als lustige Person auftreten sah und dabei bemerkte, daß die Benennung Magister bei uns eben keine ehrenvolle Bedeutung enthielt. Denn, da ich ihnen zur Aufsicht übergeben war, was konnte ich weniger tun, als für ihre Ehre zu eifern? Ich gab mir alle Mühe, sie wegen der natürlichen Mißhelligkeit im Betragen zwischen dem rohen Haufen und den seltenen Personen von vorzüglichem Verstand und Wissenschaften zu entschuldigen; umso mehr, da zwischen beiden eine ganz entgegengesetzte Lebensweise obwaltet. Darin aber steckte für mich ein unauflösliches Rätsel, daß die wackersten Männer gerade diejenigen waren, bei denen sie in ärgster Verachtung standen. Ich will nur unseren guten Du Bellay anführen: Mais je hay par sur tout un sçavoir pedantesque38.
Beidem ist die Gewohnheit schon alt, denn Plutarch sagt, Grieche und Gelehrter wären bei den Römern Spottnamen. Nachmals bei zunehmendem Alter habe ich gefunden, daß man eine sehr große Ursach hatte und daß magis magnos clericos non sunt magis magnos sapientes39. Wie es aber zugehe, daß eine mit den Kenntnissen von so vielen Dingen bereicherte Seele nicht lebendiger, nicht tätiger werde und daß ein plumper Geist die Gedanken und Urteile der vortrefflichsten Köpfe, welche die Welt hervorgebracht hat, auswendig lernen könne, ohne sich zu bilden, das begreife ich noch jetzt nicht. Wer so viele fremde große und starke Gedanken aufnehmen und beherbergen soll, sagte mir ein junges Fräulein, erste Hofdame unserer Prinzessinnen, als sie auf jemand zu reden kam, muß notwendig seine eigenen zusammendrängen und in die Enge ziehn, um den anderen Platz zu machen. Ich möchte gern sagen: gleichwie die Pflanzen von zu vieler Geilung ersticken und die Lampen von zu viel Öl verlöschen, so geht's dem Verstand bei zu vielem Studieren und zu vielen Materien, indem er bei zu großer Verschiedenheit von Gegenständen sich abstumpft und verwirrt und darüber versäumt, sich zu entwickeln; und diese Last verkrümmt und verkrüppelt ihn. Aber, es befindet sich ganz anders, denn unsere Seele erweitert sich in dem Maße, als sie sich anfüllt; und aus den Beispielen des Altertums sieht man ganz im Gegenteil, daß die fähigsten Männer zur Besorgung der öffentlichen Geschäfte, die größten Feldherrn und große weise Ratgeber in Staatssachen dabei zugleich für ihre Zeiten sehr gelehrt waren.
Was diejenigen Philosophen anbetrifft, die sich aller öffentlichen Geschäfte entschlagen, so sind solche freilich zuweilen durch die Freiheit der Bühne zu ihrer Zeit dem Gelächter preisgegeben, weil ihre Meinungen und ihre Sitten sie lächerlich machten. Wollt ihr sie zu Richtern in einem Prozeß machen, wer recht hat? Über die Handlungen eines Menschen? Da werdet ihr übel ankommen! Sie untersuchen noch, ob Leben, ob Bewegung in der Natur vorhanden, ob der Mensch etwas anderes sei als ein Ochs; was es sei: Handeln und Leiden; was Gesetze und Gerechtigkeit für Tiere sind. Reden sie von einer obrigkeitlichen Person oder sprechen sie mit ihr, so geschieht es mit unehrerbietiger, unhöflicher Freiheit. Hören sie einen Prinzen oder einen König preisen, so ist's für sie ein Hirt, untätig wie ein anderer Hirt, mit nichts beschäftigt, als seine Herde zu melken und zu scheren, nur plumper noch. Und schätzt man etwa einen Mann etwas höher, weil er zweitausend Acker Feldes bebaut, so werden sie höhnisch; denn sie haben sich gewöhnt, die ganze Welt als ihr Eigentum zu betrachten.
Rühmt sich jemand seines Adels, weil er sieben reiche Ahnherrn zählt, so achten sie ihn wenig, weil er keine richtigen Begriffe vom allgemeinen Bild der Natur hat, nicht bedenkt, wieviel jeder von uns Vorfahren gehabt hat, worunter Reiche, Arme, Könige, Knechte, Gebildete und Ungebildete sich befinden. Und wäre einer der fünfzigste Enkel von Herkules, sie schelten ihn eitel, wenn er auf dieses Geschenk des Glücks irgend einigen Wert setzt. Also verachtete sie der Ungelehrte als Leute, welche die ersten und gemeinsten Dinge nicht verständen und dabei eingebildet und hochmütig wären. Allein dies platonische Gemälde ist weit von dem verschieden, welches auf unsere Männer paßt. Jene beneidete man als solche, die über die gemeinen Dinge erhoben wären und öffentliche Geschäfte verachteten und als Menschen, welche sich eine sonderbare unnachahmliche Lebensart vorgeschrieben, die sich auf Regeln gewisser übermütiger Einbildungen steife und der Gewohnheit zuwider sei: diese verachtet man, weil sie sich unter der gewöhnlichen Lebensart halten, weil sie zu öffentlichen Geschäften untauglich sind, weil sie von noch niedrigeren Sitten sind als der ungelehrte Haufen: Odi homines ignava opera, philosopha sententia40. Was jene Philosophen anbetrifft, sag' ich: so wie sie groß waren in Wissenschaften, so waren sie es auch, und noch größer, in allen Handlungen des Lebens.
Und ebenso, wie man von dem syrakusanischen Geometer sagt (welchen man in seinen Rechnungen störte, damit er etwas zur Verteidigung seines Vaterlandes erfinden und ins Werk setzen möchte), daß er unverweilt solche fürchterliche Werkzeuge zustande brachte, die solche Wirkung taten, daß sie allen menschlichen Glauben überstiegen – und er gleichwohl selbst auf diese seine Erfindung mit Gleichgültigkeit herabsah und meinte, er habe damit die Würde seiner Kunst erniedrigt, für welche seine Werke nichts weiter wären als Lehrlingsarbeit und leichte Spielerei –: also auch jene, wenn man sie zuweilen auf die Probe des Handelns gestellt hat, so hat man sie einen so hohen Flug nehmen sehn, daß man wohl wahrnehmen konnte, ihr Herz und ihre Seele hätten sich durch ihre großen Kenntnisse bis zum Bewundern erweitert und bereichert. Dabei aber, weil sie sahen, daß die Stellen der politischen Regierung von unfähigen Menschen eingenommen waren, haben sie sich davon entfernt. Und derjenige, welcher den Crates fragte, wie lange das Philosophieren getrieben werden müsse, erhielt folgende Antwort: Solange bis es keine Eseltreiber mehr sind, die unsere Kriegsheere anführen. – Heraklit trat seinem Bruder die königliche Regierung ab. Und den Ephesern, welche ihm darüber Vorwürfe machten, daß er vor den Tempeln mit den Kindern spiele, antwortete er: Ist es nicht besser, dies zu tun, als in eurer Gesellschaft den Staat regieren? Andere, deren Ideen höher hinaufstiegen, als die Güter dieser Welt reichen, achteten die Richtstühle der Gerechtigkeit und selbst die Throne der königlichen Würden für niedrig und gering. Und Empedokles schlug die königliche Krone aus, welche die Agrigentiner ihm anboten.
Thales sprach zuweilen verächtlich von den Sorgen der Nahrung und der Begierde, reich zu werden. Man rückte ihm vor, es ginge ihm wie dem Fuchs, der nicht die Beeren erreichen konnte und sie also für sauer verschrie. Nun kam ihn die Lust an, ihnen, bloß zum Zeitvertreib, das Gegenteil zu weisen, und nachdem er, für das Mal, seine Wissenschaft bis zum Dienst des Gewinnes herabgewürdigt hatte, leitete er einen Handel ein, der ihm in Zeit von einem Jahr solche Reichtümer einbrachte, daß die Erfahrensten in diesem Gewerbe kaum in ihrem ganzen Leben dabei so viel hatten gewinnen können. Aristoteles erzählt von einigen, die jenem und dem Anaxagoras und ihresgleichen gesagt hätten, sie wären wohl weise gewesen, aber nicht klug, weil sie für nützlichere Dinge nicht Sorge genug getragen; abgesehen davon, daß ich diesen Unterschied unter den Worten nicht wohl verdauen kann, so dient es auch meinen Männern zu keiner Entschuldigung; und in Erwägung des dürftigen und kleinlichen Gehalts, womit sie sich abspeisen lassen, hätten wir vielmehr Anlaß zu sagen, sie wären keins von beiden, weder weise noch klug.
Ich lasse diese erste Ursache fallen und glaube, es sei besser zu sagen, dies Übel entstehe aus ihrer schlechten Art, sich mit den Wissenschaften zu benehmen, und daß nach der gewöhnlichen Weise, wie wir unterrichtet werden, es kein Wunder ist, wenn weder Schüler noch Lehrer dadurch nicht weiser, obgleich gelehrter werden.
Wirklich zielt die Sorge und der Aufwand unserer Väter für uns auf weiter nichts ab, als uns den Kopf mit Wissenschaften anzufüllen. Den Verstand und das Herz zu bilden, daran wird nicht gedacht. Ruft dem Volk von einem Vorübergehenden zu: O der gelehrte Mann!, und bei einem zweiten: O der gute Mann! Es wird sich nicht abhalten lassen, seine Blicke und seine Verehrung auf den ersten zu richten. Ein dritter hatte recht zu rufen: O der Schafsköpfe! – Wir pflegen gemeiniglich zu fragen: Weiß er Griechisch? Weiß er Latein? Macht er Verse oder schreibt er in Prosa? Ob er aber besser oder verständiger geworden sei, welches doch wohl die Hauptsache wäre, das bleibt linker Hand liegen! Wir sollten uns erkundigen, welches der nützlichste Gelehrte, nicht wer der größte Gelehrte sei. Wir arbeiten nur darauf, das Gedächtnis vollzupfropfen, und lassen Verstand und Gewissen leer. Gerade wie die Vögel zuweilen ausfliegen, Körner aufzupicken und sie im Schnabel halten, ohne sie zu kosten, um damit ihre Jungen zu ätzen, so plündern unsere Pedanten die Wissenschaft aus Büchern, fassen sie aber nur auf den Rand der Lippen, um sie wieder auszuspein und dem Wind zu übergeben. Es ist sehr lustig, wie sich die Torheit so ganz natürlich an mein eigenes Beispiel heftet. Ist es nicht eben dasselbe, was ich an den meisten Stellen dieses Buches tue? Da schlendere ich herum und picke bald aus diesem, bald aus jenem Buch einen Spruch, der mir gefällt, nicht um ihn aufzubewahren, denn ich habe keine Vorratskammer, sondern ihn in dieses zu übertragen; wo er gleichwohl, die Wahrheit zu sagen, ebenso wenig mir gehört als an seiner ersten Stelle.
Wir sind, so glaub' ich, nur gelehrt in der Wissenschaft des Gegenwärtigen, nicht des Vergangenen, ebenso wenig als des Zukünftigen. Was aber das ärgste ist, auch von ihr ziehen weder Meister noch Jünger die mögliche Nahrung, sondern sie geht bloß von Hand zu Hand, zum einzigen Zweck, damit zu prunken, davon zu sprechen und Erzählungen daraus zu ziehn, wie geprägte Zahlpfennige, unnütz zu allem übrigen Gebrauch als zum Rechnen und Zählen. Apud alios loqui didicerunt, non ipsi secum41. Non est loquendum, sed gubernandum42.
Die Natur, um zu zeigen, daß bei ihrem Verfahren allemal die weisesten Regeln zugrunde liegen, läßt oft bei solchen Nationen, welche die wenigste Kunstbildung haben, Geistesprodukte erscheinen, welche mit Produkten der größten Kunst um den Vorzug streiten. Wie auf meine Materie das gaskognische von einer Schalmei her entnommene Sprichwort sehr fein sagt: Das Blasen kann ich auch, aber beim Fingern ha pert's. »So sagt Cicero«; »das sind die Sitten des Plato«; »das sind die eigenen Worte des Aristoteles«: das können wir freilich! Was sagen wir aber selbst, wir? Was tun wir? Was ist unser Urteil? Wissen wir denn nichts mehr zu sprechen als ein Starmatz?
Dieses Benehmen erinnert mich an den reichen Römer, der sich's angelegen sein ließ, mit großen Kosten Männer, die in aller Art Wissenschaft beschlagen waren, zusammenzubringen, die beständig um ihn sein mußten, damit, wenn er unter seinen Freunden Anlaß hätte, von der einen oder der anderen zu reden, sie statt seiner auftreten und allezeit fertig sein sollten, bald einen bündigen Spruch, bald einen Vers aus dem Homer zu liefern, je nachdem was ein jeder in seinem Kopfe vorrätig hätte; und dabei glaubte, diese Gelehrsamkeit sei seine eigene, weil solche in den Köpfen seiner Leuten stecke. So, wie es auch diejenigen machen, deren ganzes Wissen in ihrem kostbaren Büchervorrat liegt. Ich kenne einen solchen, welcher, wenn ich frage, ob er dies oder jenes weiß, mir ein Buch abfordert, um es darin aufzusuchen, und sich nicht getraut, mir zu sagen, er habe die Krätze am After, ohne auf der Stelle im Wörterbuch unter A und K nachzuschlagen, was After und was Krätze heißt. Wir stellen uns zur Hut und Wache über Fremder Wissen und Meinungen und lassen es damit gut sein; zum Eigentum sollten wir uns solche machen!
Wir gleichen eigentlich jenem Mann, der des Feuers bedürftig, zu seinem Nachbar ginge, um welches zu holen, und wann er bei demselben ein hübsches, hellbrennendes Feuer fände, sich dabei niedersetzte, sich wärmte und nun weiter nicht daran dächte, welches mit nach Hause zu nehmen. Was hilft's uns, den Magen mit Speisen zu füllen, wenn sie nicht verdaut werden, sich nicht in Nahrungssaft wandeln? Wenn sie uns nicht Wachstum und Kräfte geben? Können wir glauben, daß Lukullus, den das Studieren ohne weitere Erfahrung zu einem großen Feldherrn bildete, ebenso wie unsere jetzige Mode ist, studiert habe? Wir lehnen uns so stark auf fremde Schultern, daß wir darüber unsere eigenen Kräfte vernichten. Will ich mich gegen die Furcht vor dem Tode waffnen? So geschieht es auf Kosten des Seneca. Suche ich Trost für mich selbst oder für einen anderen? Ich borg' ihn von Cicero. Ich hätte es aus mir selbst geschöpft, hatte man mich darauf geübt. Ich liebe diese mittelbare oder erbettelte Gelehrsamkeit nicht sonderlich. Durchs Wissen anderer mag es sein, daß wir gelehrter werden, weiser aber werden wir gewiß nicht anders als durch unsere eigene Weisheit.
Μισῶ σοφιστήν, ὅστις ουχ᾽ αυτω σοφός43. Ex quo Ennius: Nequidquam sapete sapientem, qui ipse sibi prodesse non quiret44. ... Si cupidus, si vanus, et Euganea quantumvis mollior agna45. Non enim paranda nobis solum, sed fruenda sapientia est46.
Diogenes lachte über die Schulfüchse, welche sich so emsig über die Leiden des Ulyß bekümmern und von ihren eigenen nichts wissen; über die Musiker, welche ihre Pfeifen rein stimmen und ihre Sitten ungestimmt lassen; über die Zungendrescher, welche darauf studieren, von Gerechtigkeit zu schwatzen, nicht sie zu üben. Wenn unsere Seele nicht eine bessere Richtung dadurch bekommt, wenn wir dadurch nicht ein gesunderes Urteil erhalten, so möchte mein Zögling meinethalben seine Zeit damit hingebracht haben, Ball zu schlagen, so hätte sein Körper doch wenigstens an Stärke zugenommen. Man sehe ihn nach so viel verbrachten Jahren von Universitäten kommen: Wer ist ungeschickter als er, zu Geschäften angestellt zu werden? Was sich am meisten an ihm erkennen läßt, ist, daß sein Latein und sein Griechisch ihn dümmer und einbilderischer gemacht haben, als er war, da er von Hause hinreiste. Er sollte mit genährter, voller Seele zurückkommen, aber er hat sie nur aufgeblasen. Sie ist nicht größer geworden, sondern nur aufgeschwollen.
Diese Meister und Lehrer sind, was Plato von den Sophisten sagt, unter allen Menschen diejenigen, welche dem Menschen am nützlichsten zu sein versprechen und dennoch nicht nur dasjenige nicht ausbessern, was man ihnen anvertraut, wie doch Zimmerleute und Maurer tun, sondern es sogar verhunzen und sich noch obendrein bezahlen lassen, daß sie es verhunzt haben. Wenn das Gesetz des Protagoras, das er seinen Schülern vorschlug, befolgt würde, daß sie ihm entweder bezahlen sollten, was er forderte, oder daß sie im Tempel beschwören sollten, wie hoch sie den Nutzen schätzen, den sie aus seinem Unterricht gezogen und demzufolge ihn für seine Mühe belohnen sollten, so würden sich meine Herren Pädagogen mächtig hinter den Ohren krauen, wenn sie sich auf den Eid meiner Erfahrung berufen hätten. Meine ungelehrten Landsleute nennen diese hochgelehrten Herren sehr spaßhafterweise Übergelehrte, Überstudierte; gleichsam zu sagen, als wäre es bei ihnen durch Studieren übergeschnappt, wie man auch wohl zu sagen pflegt. Und wahr ist's, die meiste Zeit scheint es, als hätten sie den gesunden Menschenverstand aus dem Kopf hinweg studiert. Denn man sehe dagegen nur einen Bauer oder Schuster und Schneider! Sie gehen einfältig und unbefangen ihren Gang fort; sprechen von dem, was sie wissen; jene, um sich zu erheben und zu brüsten mit ihrem Wissen, das auf der Oberfläche ihres Gehirns herumschwimmt, straucheln ohne Unterlaß in ihren Spannfesseln. Hübsche Worte hört man freilich dann und wann von ihnen; aber es gehört jemand dazu, der sie in Ordnung brächte. Den Galen kennen sie wohl, aber den Kranken gar nicht. Sie haben euch schon mit Gesetzen den Kopf ganz angefüllt, worauf es aber bei euerem Rechtsstreit eigentlich ankommt, davon wissen sie noch kein Wort. Von allen und jeden Dingen verstehen sie die Theorie; sucht nur jemand, der sie in Anwendung bringe!
Ich hatte einen Freund bei mir im Hause, der, indem er mit einem dieser Herrn zu tun hatte, zum Zeitvertreib ein gewisses Rotwelsch ohne Sinn und Bedeutung nachahmte, nur, daß er zuweilen ein Wort einflocht, das dem Klange nach Beziehung auf ihren Streit hatte, und dadurch seinen Dummkopf von Gegner ganze Tage lang foppte, der beständig meinte, er antworte auf die Einwendungen, die er vorgebracht hatte. Und doch hatte der Mann ein Fakultätsdiplom über seine Gelehrsamkeit aufzuweisen.
Vos, o patricius sanguis, quos vivere par est
Occipiti caeco, posticae occurrite sannae47.
Wer dies Geschlecht, das sehr zahlreich ist, in der Nähe beleuchtet, der wird wie ich finden, daß sie die meiste Zeit sowenig sich selbst als andere verstehen und daß sie zwar ein gutes, volles Gedächtnis, aber einen sehr hohlen Verstand haben. Wofern nicht die Natur sich ein eigenes Geschäft daraus machte, sie anders zu organisieren, wie ich beim Adrian Turnebus gefunden habe. Dieser, ohne jemals etwas anderes getrieben zu haben als Literatur – in welcher er nach meiner Überzeugung der größte Mann seit den letzten tausend Jahren her war –, hatte dabei gleichwohl nichts anderes an sich, das einen Pedanten verriet, als den Schnitt seines Kleides und einige äußere Manieren, die vielleicht nicht zum hohlen Tone des Hofschranzen paßten. (Und ich hasse unsere Leute, die sich vielmehr über einen altmodischen Schoß oder Ärmel ärgern als über eine schiefe Seele und aus dem Kratzfuß eines Menschen, aus seinen Stiefeln, aus seiner Haarkrause vorher verkünden, was an ihm sei.) Denn im übrigen war er in seinem Wesen der höflichste, artigste Mann von der Welt. Ich hab' ihn oft mit allem Fleiß in Materien verwickelt, die ihm gar nicht geläufig waren: er sah darin so klar, umfaßte alles so schnell und mit so richtigem Urteil, daß man hätte denken sollen, er hätte in seinem Leben nichts anderes getrieben als Kriegskunst und Staatswissenschaft. Das sind schöne und starke Seelen -
Quis arte benigna
Et meliore luto finxit praecordia Titan48 -,
die sich durch eine schlechte Erziehung durcharbeiten.
Es ist aber nicht genug, daß unsere Erziehung uns nicht verderbe, sie soll und muß uns eigentlich besser machen. Es gibt bei uns in Frankreich einige Parlamente, welche die Räte und Advokaten, die sie aufnehmen sollen, nur bloß aus ihrer Wissenschaft examinieren; andere hingegen prüfen auch ihren Verstand, indem sie ihnen diesen oder jenen Rechtsspruch zur Beurteilung vorlegen. Diese letzteren scheinen mir weit richtiger zu verfahren. Und obgleich zu einer solchen Bedienung beides nötig ist, so ist doch das Wissen von geringerem Wert als ein richtiger Verstand. Dieser kann zur Not ohne jenes auslangen; aber nicht dieses ohne jenen. Denn wie der griechische Vers es ausdrückt: Ὡς ουδὲν ἡ μάϑησις, ἢν μὴ νοῦς παρη49.
Was hilft die Wissenschaft ohne Verstand, sie anzuwenden? Wollte der Himmel, wir wären in Ansehung unserer Rechtspflege so glücklich, daß jene ansehnlichen Gerichtsverwalter mit ebenso viel Verstand und Gewissen begabt wären, als es ihnen am Wissen nicht mangelt! Non vitae sed scholae discimus50.
Nun aber muß man das Wissen der Seele nicht umtun als ein Gewand, sondern ihr als einen lebendigen Geist einhauchen. Man muß sie damit nicht anfeuchten, sondern durch und durch färben; und wenn es die Seele nicht ändert und ihren unvollkommenen Zustand nicht bessert, so wäre es wahrlich besser, sich nicht weiter damit zu befassen. Es wäre ein zweischneidiges Schwert, das seinem Führer beschwerlich wird und ihn selbst verwundet, wenn es in schwachen Händen ist, die es nicht zu brauchen wissen; ut fuerit melius non didicisse51.
Vielleicht auch ist dies die Ursache, warum wir wie die Theologie nicht viel Kenntnis vom weiblichen Geschlecht verlangen und daß Franz, Herzog von Bretagne, Sohn Johanns des Fünften, als man mit ihm von seiner Vermählung mit Isabella, einer schottländischen Prinzessin, sprach und ihn merken ließ, sie sei sehr einfach erzogen und ohne allen Unterricht in wissenschaftlichen Dingen, antwortete: Die Prinzessin sei ihm deswegen umso lieber, und eine Ehefrau sei gelehrt genug, wenn sie das Wams ihres Ehemanns von seinem Hemde zu unterscheiden verstände.
Es ist auch kein so großes Wunder, als man's anschreit, daß unsere Vorfahren sich nicht sonderlich viel aus Gelehrsamkeit gemacht haben und daß wir solche noch heutzutage nur zufälligerweise bei den vornehmsten Räten unserer Könige finden; und wenn nicht der einzige Endzweck, den man uns zu unseren Zeiten vorhält, uns durch die Rechtswissenschaft, die Arzneikunde, die Theologie und durch die Pädagogik zu bereichern, sie nicht noch in Ansehen erhielte, so würden wir sie ohne Zweifel noch in ebenso zerlappten Mänteln auftreten sehn als vordem. Schade darum, wenn sie uns weder richtig denken noch handeln lehrt. Postquam docti prodierunt, boni desunt52. Alle andere Wissenschaft ist demjenigen nachteilig, der nicht die Kenntnis der Güte hat.
Sollte aber die Ursache, die ich vorhin suchte, nicht darin zu finden sein, daß weil bei uns in Frankreich unser Studieren fast keinen anderen Zweck hat als Broterwerb, und weniger solche Menschen, die von der Natur zu besseren als bloß einträglichen Geschäften bestimmt sind, sich den Studien widmen als andere oder, wenn sie es tun, nicht lange Zeit darauf verwenden (indem sie, bevor sie an den Wissenschaften Geschmack gewinnen können, einen Stand ergreifen, der nichts mit den Büchern zu tun hat) und also gewöhnlicherweise, um sich ganz den Wissenschaften zu widmen, keine anderen übrigbleiben als Jünglinge von unbemittelten Eltern, die dadurch ihren Unterhalt zu gewinnen suchen? Menschen aber aus dieser Klasse, deren Seelen durch Geburt, durch häusliche Erziehung und Beispiele von der niedrigsten Art herabgewürdigt worden, machen selten einen echten Gebrauch von den Früchten der Wissenschaften. Denn die Wissenschaften zünden kein Licht in einer Seele an, die keinen Brennstoff hat, machen auch keinen Blinden sehend. Ihr Geschäft ist, nicht das Gesicht zu geben, sondern es den Menschen richtig brauchen zu lehren; seinen Gang ordentlich einzurichten, wenn der Mensch nur von Haus aus gerade ist und zum Gehn tüchtige Beine hat.
Gelehrsamkeit ist ein gutes Apothekerpulver; in der ganzen Apotheke aber gibt es kein einziges, das kräftig genug wäre, sich ohne alles Verderben brauchbar zu erhalten, wenn das Gefäß nichts taugt, worin es aufbewahrt wird. Es gibt Menschen, die zwar ganz hell sehen, dabei aber schielen; und also zwar das Gute sehen, an ihm aber vorbeigehen; die Wissenschaft zwar erblicken, aber nicht zum Anwenden ergreifen. Die wichtigste Verordnung, die Plato für seine Republik machte, war, seine Bürger sollten nach ihren natürlichen Fähigkeiten zu Ämtern angestellt werden. Die Natur kann alles und tut alles. Lahme taugen nicht zu Übungen des Körpers, und zu Übungen des Geistes keine verkrüppelten Seelen. Gemeine Bastardseelen sind der Philosophie unwürdig. Wenn wir einen Menschen in zerrissenen Schuhen sehen, pflegen wir nach dem Sprichwort zu sagen: Es ist in der Ordnung, wenn's am Schuster ist! Ebenso, scheint es, liegt's in der Erfahrung, daß wir oft einen Augenarzt mit entzündeten Augen antreffen, einen Theologen, dessen Sitten nicht sehr geistlich sind, und daß die Gelehrten gewöhnlich unanstelliger sind als andere Menschen.
Aristo Chius hatte vor alters recht zu sagen: die Philosophen schadeten ihren Zuhörern; umso mehr, da die wenigsten Seelen fähig sind, den Unterricht gehörig zunutze zu machen, welcher, wenn er nicht zum Guten angewandt wird, zum Verderben ausschlägt. ᾽Ασώτους ex Aristippi, acerbos ex Zenonis schola exire53. In der schönen Erziehungsweise, die Xenophon von den Persern rühmt, finden wir, daß sie ihre Kinder die Tugend lehrten, wie andere Nationen die Wissenschaften zu lehren pflegten. Plato sagt: Das älteste, zum Throne bestimmte Kind eines Königs sei folgendermaßen erzogen: Nach seiner Geburt übergab man es nicht etwa Weibern, sondern den vornehmsten Verschnittenen, die um die Könige zu sein pflegen. Diese sorgten für die Gesundheit und Schönheit seines Körpers; und wenn der Knabe sieben Jahre alt war, so lehrten sie ihn Reiten und Jagen. War er bis ins vierzehnte gelangt, so übergaben sie ihn den Händen von vier Männern; des Weisesten, des Gerechtesten, des Mäßigsten und des Tapfersten von der Nation. Der erste lehrte ihn die Religion; der zweite beständig wahr sein; der dritte seine Begierden im Zaum halten; der vierte sich vor nichts fürchten.
Es ist äußerst merkwürdig, daß in der vortrefflichen Gesetzgebung des Lykurg, die man ihrer Vollkommenheit halber einzig in ihrer Art hält, gleichwohl bei der höchsten Sorgfalt für die Nahrung der Kinder, als eine der wichtigsten Pflichten des Staates und im Sitze der Musen selbst, so wenig Rücksicht auf Wissenschaft genommen ist; gleichsam, als ob man dieser hochherzigen Jugend, die kein anderes Joch dulden wollte als die Herrschaft, der Tugend, anstatt unserer heutigen Lehrer in den Wissenschaften nur Lehrer der Tapferkeit, der Klugheit und der Gerechtigkeit zu geben für nötig erachtet habe. Ein Beispiel, dem Plato in seiner Gesetzgebung gefolgt ist. Der Lakedämonier Verfahren beim Unterricht der Jünglinge bestand darin, daß sie ihnen Fragen über Beurteilung der Menschen und ihrer Handlungen aufgaben, und wenn sie eine Person oder eine Tat verdammten oder lobten, mußten sie Gründe für ihr Urteil beibringen; auf diese Weise schärften sie zugleich ihren Verstand und lernten das Recht. Astyages befragt beim Xenophon den Cyrus über seine letzte Lektion; sie bestand darin, antwortete er: Ein aufgeschossener Bub' in unserer Schule hatte einen kurzen Rock an, den gab er einem seiner Kameraden, der kleiner von Wuchs war, und zog dem seinen Rock aus, der länger war. Unser Präzeptor machte mich zum Richter über diesen Fall. Mein Urteil ging dahin: Man müsse es bei dem Tausche bewenden lassen, und beide schienen dabei gewonnen zu haben, indem des einen Rock dem anderen besser paßte: hierüber gab er mir erst einen Wischer, daß ich unrecht hätte; denn ich hätte mir beigehn lassen, aufs Schickliche zu achten, da man doch vor allen Dingen aufs Recht sehn müsse, nach welchem niemand mit Gewalt das seinige genommen werden dürfe; und darüber wäre er noch gebakelt worden; gerade so, wie es in unseren Schulen hergeht, wenn ein Schüler den ersten Aorist von τύπτω54 vergessen hat. Mein Rektor würde mir eine hübsche Rede in genere demonstrativo halten müssen, bevor er mich überzeugte, daß seine Schule ebensogut wäre als jene. Die Alten haben den Weg kürzen wollen; und weil doch einmal die Wissenschaften, selbst dann wenn man sie zu sich nähme wie die gebratenen Lerchen vom Bratspieß, uns doch nichts weiter lehren können als Klugheit, Tapferkeit und Entschlossenheit, so haben sie gleich, ohne alle Umschweife, ihren Kindern geradezu die eigentlichen Wirkungen zeigen und sie unterrichten wollen, nicht durch Hörensagen, sondern durch Handlungen selbst, und bildeten sie sonach nicht bloß durch Gabe des Worts, sondern vorzüglich durch Beispiele und Handlungen; damit es in ihren Seelen nicht wohne wie eine Wissenschaft, sondern wie eine von ihr unzertrennliche Natur und Gewohnheit; nicht wie etwas Erlerntes, sondern wie ein angeborener Besitz. Bei einer Unterredung über diesen Punkt fragte man den Agesilas, was man nach seiner Meinung die Kinder lehren müsse; das, was sie zu tun haben, wenn sie Männer geworden sind, antwortete er. Es ist kein Wunder, daß eine solche Schulmethode so herrliche Wirkungen hervorbrachte. Man reiste, sagt man, nach den anderen Städten in Griechenland, um Redner, Maler und Tonkünstler zu suchen; nach Lakedämon aber reiste man, um Gesetzgeber, Staatsmänner und Feldherrn zu finden. Zu Athen lernte man schön sprechen und hier schön handeln. Dort ein sophistisches Argument zergliedern und die Täuschung listig verschraubter Worte enthüllen. Hier sich vor dem Reiz der Wollust hüten und mit großer Tapferkeit die Drohungen des Unglücks und des Todes zernichten. Die Athenienser haschten nach Worten, die Lakedämonier nach Taten. Dort war eine ununterbrochene Übung der Zunge; hier eine immerwährende Übung der Seele. Daher es auch nicht befremdlich erscheinen muß, wenn sie, als Antipater von ihnen fünfzig Kinder zu Geiseln forderte, ganz das Widerspiel von dem taten, was wir getan hätten, und zur Antwort gaben, sie wollten ihm lieber zweimal soviel erwachsene Männer geben. So hoch schätzten sie den Verlust der Erziehung ihres Landes. Wenn Agesilas den Xenophon überreden will, seine Kinder nach Sparta zu schicken, um sie dort erziehn zu lassen, so meint er damit nicht, daß sie die Rede- oder Disputierkünste erlernen sollen, sondern, wie er sagt, die höchste Wissenschaft unter allen zu lernen, nämlich die Wissenschaft zu gehorchen und zu befehlen.
Es macht einem großen Spaß zu sehn, wie Sokrates auf seine Weise den Hippias zum besten hat, als ihm dieser erzählt, wie er in gewissen kleinen Städten von Sizilien ansehnliche Summen mit Informieren gewonnen, in Sparta hingegen nicht einen Heller verdient habe. Wie die Spartaner unwissende Leute wären, welche weder Geometrie noch Arithmetik verstünden, nichts weder auf die Wohlredenheit noch auf die Dichtkunst hielten, sondern sich bloß dabei aufhielten, die Reihe der Könige zu wissen, den Anfang und den Verfall der Staaten und dergleichen losen Plunder – und wie nun am Ende Sokrates ihn nach und nach dahin lenkt zu gestehn, daß doch die öffentliche Regierungsform vortrefflich sei sowie ihr häusliches Leben glücklich und tugendhaft, und ihm dann am Schluß die Entbehrlichkeit seiner Künste zu erraten überläßt.
Die Beispiele aus dieser militärischen und aus allen ihr ähnlichen Erziehungsanstalten lehren uns, daß das Studium der Wissenschaften die Gemüter eher weichlich und weibisch macht als fest und kriegerisch. Der stärkste Staat, der gegenwärtig auf der Welt zu sein scheint, ist das türkische Reich. Ein Volk, das dazu erzogen wird, die Waffen zu schätzen und die Wissenschaften zu verachten. Ich finde Rom weit tapferer, bevor es gelehrt war. Die kriegerischsten Nationen unserer Zeit sind die rohsten und unwissendsten. Die Skythen, die Parther, Tamerlan u.a.m. dienen uns hier zum Beweise. Als die Goten Griechenland verheerten, standen die Büchervorräte sämtlich in Gefahr, dem Feuer geopfert zu werden. Ein Mann rettete sie dadurch, daß er die Meinung ausbreitete, man müsse diesen ganzen Hausrat den Feinden lassen, weil er vermögend sei, sie von kriegerischen Übungen abzuhalten und an eine stillsitzende, müßige Lebensart zu verwöhnen. Als unser König Karl VIII. fast ohne einmal den Degen zu ziehn Meister von Neapel und einem großen Teil von Toskana ward, so schrieben die Herrn in seinem Gefolge diese unverhoffte Leichtigkeit im Erobern dem Umstand zu, daß die Prinzen und der Adel von Italien mehr darnach strebten, reich und gelehrt zu werden als stark und kriegerisch.
Über die Kinderzucht: an Madame Diane de Foix, Gräfin de Gurson.
Niemals hab' ich einen Vater gesehn, der seinen Sohn, wenn er auch gleich bucklig oder grindig war, nicht für sein Kind erkannt hätte; obwohl er, wenn er nicht ganz von Zärtlichkeit berauscht ist, schon merkt, wo's ihm fehlt; aber bei alledem ist es sein Kind. So geht's mir! Ich sehe besser als jeder andere, daß dies hier Träumereien eines Menschen sind, der von den Wissenschaften nur die äußere Rinde in seiner Kindheit gekostet hat und sich ihrer nicht weiter erinnert als nach ihren Hauptzügen und das dazu nur undeutlich. Ein wenig von allem, auf gut französisch, und im ganzen nichts. Und läuft alles darauf hinaus, daß ich weiß, es gibt eine Arzneigelahrtheit, eine Jurisprudenz, vier Teile in der Mathematik und so im Bausch und Bogen die Anwendung, die man davon macht. Und so ungefähr weiß ich auch, was die Wissenschaften überhaupt für Nutzen fürs menschliche Leben verheißen; tiefer aber hineinzudringen, mir über den Aristoteles, den Monarchen der neuen Philosophie die Nägel zerkäuen oder auf irgendeine Scienz zu erpichen, das war nie meine Sache. Auch könnte ich von keiner einzigen der freien Künste die ersten Grundzüge zu Papier bringen. Und das müßte ein elender Tertianer sein, der sich nicht für gelehrter zu halten berechtigt wäre als ich! Denn ich würde schön dastehn, wenn ich ihn über seine Lektion examinieren sollte. Und wenn man mich mit Gewalt dazu zwänge, so wäre ich genötigt, ihm, schülerhaft genug, einige allgemeine Fragen vorzulegen, um bloß zu erfahren, ob er Menschenverstand und Mutterwitz hätte; das wäre aber eine Lektion, die unseren Tertianern ebenso fremd sein würde als mir die ihrigen.
Ich habe keinen ordentlichen Umgang mit irgendeinem unserer soliden Bücher bestätigt; die Werke des Plutarch und des Seneca ausgenommen, aus denen ich schöpfe wie die Danaiden, ich füll' immer an, und es leert sich immer aus. Ich bringe zwar wohl etwas davon auf dies Blatt, auf mich selbst aber sowenig als nichts. Fürs Bücherlesen ist so mein Kasus die Geschichte oder die Poesie, welche ich aus besonderer Neigung liebe; denn, wie Cleanthes sagte, geradeso wie der Klang, der in die enge Röhre einer Trompete eingezwängt war, viel heller und stärker herausdringt, ebenso, deucht's mich, schwingt sich ein durch die Klangfüße der Dichtkunst beflügelter Gedanke schneller in meine Seele und reißt sie mit sich fort. Was die natürlichen Fähigkeiten betrifft, in deren Besitz ich bin (wovon ich hier ein Pröbchen vorlege), so fühle ich wohl, daß sie unter der Last erliegen. Mein Fassungsvermögen und meine Urteilskraft tappen im Blinden, schwanken, straucheln und stolpern; und selbst dann, wenn ich so weit gegangen bin, als ich gekonnt habe, so hab' ich mir doch niemals selbst ein Genügen getan. Ich sehe wohl immer vor mir sich das Feld öffnen; aber es liegt noch beständig in einem Nebel, den ich nicht durchdringen kann. Und wenn ich mich darauf einlasse, so ohne viel Federlesens von allem zu sprechen, was mir in den Sinn kommt, und dabei keine anderen Hilfsmittel anwende als meine eigenen und natürlichen Kräfte; wenn mir's begegnet, wie es oft geschieht, daß ich zufälligerweise in guten Schriftstellern eben gerade solche Stellen finde, als ich zu behandeln mir vorgenommen habe – wie es mir eben mit Plutarch und seiner Abhandlung über die Stärke der Einbildungskraft widerfährt –, und ich mich dann in Vergleichung mit diesen Leuten so schwach und so winzig, so schwerfällig und so schläfrig erkenne, so komme ich mir selbst als mitleids- und verachtenswert vor. Aber das macht mir gleichwohl ein Vergnügen, daß meine Meinungen die Ehre haben, oft mit den Meinungen jener Männer zusammenzutreffen, und daß ich ihnen wenigstens von ferne folge und das sage, was mich wahr dünkt. Auch freut mich's, das zu haben, was nicht jedermann hat, den himmelweiten Unterschied zu erkennen, der zwischen ihnen ist und mir; damit lasse ich gleichwohl meine Erfindungen hinlaufen, so schwach und geringfügig ich sie zur Welt bringe, ohne die Mängel, die mich diese Vergleichung daran entdecken lassen, zu bekleistern oder zu belappen. Man muß gar kräftige Schenkel haben, wenn man es unternehmen will, mit diesen Leuten Schulter an Schulter geschlossen gleichen Schritt zu halten. Die unbesonnenen Schriftsteller unserer Zeit, welche in ihre leeren Werke ganze Stellen aus alten Autoren einschalten, um sich Ehre zu erwerben, tun gerade das Gegenteil. Denn dieser unendliche Abstich des Glanzes macht ihr eigenes Gesicht so bleich, so hager und so häßlich, daß sie weit mehr dadurch verlieren als gewinnen. Folgende waren zwei entgegengesetzte Phantasien. Der Philosoph Chrysippus mischte in seine Bücher nicht nur bloß einzelne Stellen, sondern ganze Werke anderer Autoren und in eines die ganze Medea vom Euripides, und Apollodor sagt darüber: wenn jemand herausnähme, was Fremden gehörte, so würden nur leere Blätter übrigbleiben. Epikur hingegen hat in den dreihundert Rollen, die er geschrieben, nicht einen einzigen Autor allegiert.
Vor einigen Tagen stieß ich eben auf eine solche Passage: ich war ermüdet und ermattet, hinter so blut- und saftlosen französischen Worten herzujagen, die so leer an Sinn und Inhalt waren, daß man nichts Treffenderes von ihnen sagen konnte als französische Worte; nach einer langen und verdrießlichen Jagd traf ich auf eine entzückende Stelle, die sich majestätisch bis in die Wolken erhob. Hätte ich den Abhang ein wenig sanft gefunden und den Steig ein wenig linde, so wäre darüber nichts zu sagen gewesen. Aber es war eine so schroffe, abgeschnittene Anhöhe, daß ich bei den sechs ersten Worten gewahr ward, wie ich in die andere Welt aufflöge; von da an entdeckte ich die Schlucht, aus der ich kam, so tief, so tief, daß ich mich niemals habe überwinden können, wieder hinunterzusinken. Hätte ich eine meiner Abhandlungen mit dem, was ich auf jener Höhe fand, ausgeschmückt, so würde solches die Dummheit der übrigen Stellen zu sehr ins Licht gestellt haben.
In anderen meine eigenen Fehler züchtigen, scheint mir ebenso erlaubt zu sein als an mir selbst, wie ich oft tue, die Fehler anderer zu rügen. Man muß sie allenthalben vor Gericht ziehn und ihnen gar keine Freistatt zugestehn. Ich weiß auch, wie kühnerweise ich selbst es unternehme, jedesmal meine eigenen Fabrikwaren der eingeschwärzten gleichzumachen, so daß man keinen Unterschied merke, nicht ohne eine verwegene Hoffnung, das Auge des Kenners zu täuschen. Aber ich suche es ebenso sehr durch die Anwendung, die ich davon mache, als durch meine Erfindung und durch meine Kräfte zu bewerkstelligen. Übrigens ringe ich auch nicht in Bausch und Bogen mit jenen alten Kämpfern oder Faust gegen Faust, sondern in leichten Versuchen und kleinen, wiederholten Gängen. Ich lasse mich nicht ein auf Faustkampf, ich betaste sie bloß und gehe nicht sowohl als ich mich bereden lasse zu gehn. Ja, könnte ich ihnen Fuß halten; ehrlicher Mann genug wär' ich; denn ich packe sie nur da an, wo sie die stärksten Sehnen haben. Es zu machen, wie ich von einigen wahrgenommen habe, die sich mit fremden Waffen dergestalt bedecken, daß sie nicht einmal eine Fingerspitze bloß geben und die ihr Vorhaben durchsetzen, wie das bei einer gemeinen Materie hinter den Meinungen der Alten für diejenigen leicht genug ist, die solche zusammenflicken, unkennbar machen und für ihr Eigentum ausgeben wollen: Aber erstlich ist es ungerecht und niederträchtig, indem sie nichts im Vermögen haben, womit sie sich zeigen könnten und sich also bloß mit fremden Schätzen breitmachen; und ferner ist's eine plumpe Dummheit, indem sie sich durch solche Mausereien ein Lob des unwissenden Haufens erschleichen und sich bei Leuten von Verstand, die dieses erborgte Mosaik mit Hohnlachen schauen, in üblen Ruf setzen, deren Lob doch nur allein von Bedeutung ist. Meinerseits möchte ich nichts so ungern tun als dies. Ich sage nie einem anderen etwas, als um es mir umso nachdrücklicher zu sagen. Dies ist keine Anspielung auf die Centos, die als solche in die Welt geschickt werden; und ich bekenne, daß ich zu meiner Zeit sehr sinnreiche Centos gesehen habe, unter anderen eines unter dem Namen eines gewissen Capilupus, ungerechnet der älteren. Das sind Geister, welche sich bald hier, bald dort sehen lassen wie Lipsius in der gelehrten und künstlichen Webefabrik seiner Politik. Dem sei wie ihm wolle, was ich sagen will ist, laß diese Possen noch so possierlich sein, ich bin nichts weniger als entschlossen, sie zu verheimlichen, sowenig als ein Konterfei meines glatzigen, grauenden Kopfes, das der Maler nicht nach einem vollkommenen Modell, sondern nach meinem Kopf und meinem Gesicht gemacht hätte. Denn ebenso sind auch hier meine Launen und Meinungen: ich gebe solche für das, was ich glaube, nicht für das, was man glauben müsse. Ich will damit weiter nichts als mich hergeben, wie ich bin; vielleicht bin ich morgen ganz anders, wenn sich meine Denkungsart ändert und bessert. Ich habe nicht das Ansehen, Glauben zu fordern, und verlang' es auch nicht. Denn ich fühle, daß ich zu wenig weiß, um andere zu unterrichten. Jemand, der vor einiger Zeit das vorige Kapitel gesehen hatte, sagte mir, ich hätte mich ein wenig ausführlicher über die Kinderzucht herauslassen sollen. Aber, Madame, wenn ich über diesen Gegenstand etwas Auszeichnendes zu sagen wüßte, wem könnte ich es besser zum Geschenk bestimmen als dem kleinen Mann, der Sie bedroht, nächstens durch einen wackeren Ausfall sich von Ihnen zu trennen. (Sie sind selbst zu wacker, um nicht Ihrer Nachkommenschaft einen tapferen Mann an die Spitze zu stellen!) Denn, da ich an der Schließung Ihrer Vermählung so viel Anteil hatte, so hab' ich auch einiges Recht und einigen Anteil an dem Glück und dem Wohlergehen, die daraus entstehen werden. Außer dem, daß die verjährten Ansprüche, die Sie auf meine dienstwilligste Ergebenheit haben, mich hinlänglich verbinden, zu allem, was Sie betrifft, Ehre, Vorteil und Wohlfahrt zu wünschen. Die Wahrheit aber ist, daß ich über den Gegenstand nichts weiter weiß, als daß die größte Schwierigkeit und das Wichtigste des menschlichen Wissens da zusammentreffen, wo es auf die physische und moralische Erziehung der Kinder ankommt. Geradeso wie beim Ackerbau die Arbeiten, welche vor dem Pflanzen hergehn, bestimmt und leicht sind und sogar das Pflanzen selbst – wenn aber nachher das Gepflanzte anfängt festzuwurzeln und aufzuwachsen, eine mächtige Verschiedenheit und Schwierigkeit der Behandlung eintritt, ebenso ist es beschaffen mit dem Menschen. Ihn zu pflanzen bedarf's keines so großen Fleißes, ist er aber geboren, so übernimmt man eine ganz andere Aufsicht voller Sorge und Furcht, ihn zu nähren und zu erziehn. Die Anzeichen seiner Neigungen sind im kindischen Alter so schwach und undeutlich; was er verspricht, so ungewiß und unzuverlässig, daß es fast unmöglich ist, mit einigem Grunde darauf zu bauen. Man betrachte nur den Cimon, den Themistokles und tausend andere, wie ungleich ihre Kindheit ihren männlichen Jahren war. Die Jungen der Bären und der Hunde zeigen ihren natürlichen Hang. Die Menschen aber, welche sehr früh zu Angewohnheiten, in Meinungen und für Gesetze gebildet werden, ändern oder verstellen sich sehr leicht. Aber ebenso schwer ist es, den Hang der Natur zu zwingen; daher es denn kommt, daß man sich lange auf einem einmal unrichtig gewählten Wege vergebens zermartert und viele Zeit darauf verwendet hat, Kinder zu Dingen zu erziehn, wozu sie von der Natur nicht bestimmt sind. Indessen ist bei dieser Schwierigkeit meine Meinung, daß man ihnen immerhin zu den besten und nützlichsten Sachen Anleitung gebe und nicht zuviel auf die Zeichen und Vorbedeutungen gebe, die wir aus den Bewegungen der Kinder zu ziehn pflegen. Plato scheint mir in seiner Republik zu viel Gewicht darauf zu legen. Die Wissenschaften, Madame, sind eine schöne Zierde und ein sehr nützliches Werkzeug, vorzüglich für Personen auf einer solchen Stufe des Glücks wie Sie. Die Wahrheit zu sagen, sind solche in niedrigen, armen Händen nicht so anwendbar. Die Wissenschaften und Künste zeigen ihren hohen Wert, als Hilfsmittel einen Krieg zu führen, ein Volk zu regieren, die Freundschaft eines Fürsten oder einer Nation zu erhalten, lieber als einen logischen Schluß zu formieren, einen Appellationsprozeß zu führen oder eine Schachtel Pillen zu verschreiben. Also, ich bin überzeugt, Madame, daß Sie dies Feld bei der Erziehung der Ihrigen nicht vernachlässigen werden, da Sie selbst die Süßigkeit davon genossen haben und dabei selbst aus einem gelehrten Geschlechte sind, denn wir besitzen noch die Schriften der alten Grafen de Foix, von denen Sie und der Herr Graf, Ihr Gemahl, abstammen; und Franz, Herr de Candale, Ihr Oheim, gibt noch täglich andere heraus, welche den Ruhm von dieser Eigenschaft Ihres Geschlechtes auf viele Jahrhunderte verbreiten werden. Also will ich Ihnen hierüber nur eine meiner Grillen sagen, die ich gegen die allgemeine Meinung hege: das ist alles, was ich in dieser Sache zu Ihrem Befehl darlegen kann.