"Unleash your creativity and unlock your potential with MsgBrains.Com - the innovative platform for nurturing your intellect." » » Michel von Montaigne Essais Book Online

Add to favorite Michel von Montaigne Essais Book Online

Select the language in which you want the text you are reading to be translated, then select the words you don't know with the cursor to get the translation above the selected word!




Go to page:
Text Size:

Gelehrsamkeit ist ein gutes Apothekerpulver; in der ganzen Apotheke aber gibt es kein einziges, das kräftig genug wäre, sich ohne alles Verderben brauchbar zu erhalten, wenn das Gefäß nichts taugt, worin es aufbewahrt wird. Es gibt Menschen, die zwar ganz hell sehen, dabei aber schielen; und also zwar das Gute sehen, an ihm aber vorbeigehen; die Wissenschaft zwar erblicken, aber nicht zum Anwenden ergreifen. Die wichtigste Verordnung, die Plato für seine Republik machte, war, seine Bürger sollten nach ihren natürlichen Fähigkeiten zu Ämtern angestellt werden. Die Natur kann alles und tut alles. Lahme taugen nicht zu Übungen des Körpers, und zu Übungen des Geistes keine verkrüppelten Seelen. Gemeine Bastardseelen sind der Philosophie unwürdig. Wenn wir einen Menschen in zerrissenen Schuhen sehen, pflegen wir nach dem Sprichwort zu sagen: Es ist in der Ordnung, wenn's am Schuster ist! Ebenso, scheint es, liegt's in der Erfahrung, daß wir oft einen Augenarzt mit entzündeten Augen antreffen, einen Theologen, dessen Sitten nicht sehr geistlich sind, und daß die Gelehrten gewöhnlich unanstelliger sind als andere Menschen.

Aristo Chius hatte vor alters recht zu sagen: die Philosophen schadeten ihren Zuhörern; umso mehr, da die wenigsten Seelen fähig sind, den Unterricht gehörig zunutze zu machen, welcher, wenn er nicht zum Guten angewandt wird, zum Verderben ausschlägt. ᾽Ασώτους ex Aristippi, acerbos ex Zenonis schola exire53. In der schönen Erziehungsweise, die Xenophon von den Persern rühmt, finden wir, daß sie ihre Kinder die Tugend lehrten, wie andere Nationen die Wissenschaften zu lehren pflegten. Plato sagt: Das älteste, zum Throne bestimmte Kind eines Königs sei folgendermaßen erzogen: Nach seiner Geburt übergab man es nicht etwa Weibern, sondern den vornehmsten Verschnittenen, die um die Könige zu sein pflegen. Diese sorgten für die Gesundheit und Schönheit seines Körpers; und wenn der Knabe sieben Jahre alt war, so lehrten sie ihn Reiten und Jagen. War er bis ins vierzehnte gelangt, so übergaben sie ihn den Händen von vier Männern; des Weisesten, des Gerechtesten, des Mäßigsten und des Tapfersten von der Nation. Der erste lehrte ihn die Religion; der zweite beständig wahr sein; der dritte seine Begierden im Zaum halten; der vierte sich vor nichts fürchten.

Es ist äußerst merkwürdig, daß in der vortrefflichen Gesetzgebung des Lykurg, die man ihrer Vollkommenheit halber einzig in ihrer Art hält, gleichwohl bei der höchsten Sorgfalt für die Nahrung der Kinder, als eine der wichtigsten Pflichten des Staates und im Sitze der Musen selbst, so wenig Rücksicht auf Wissenschaft genommen ist; gleichsam, als ob man dieser hochherzigen Jugend, die kein anderes Joch dulden wollte als die Herrschaft, der Tugend, anstatt unserer heutigen Lehrer in den Wissenschaften nur Lehrer der Tapferkeit, der Klugheit und der Gerechtigkeit zu geben für nötig erachtet habe. Ein Beispiel, dem Plato in seiner Gesetzgebung gefolgt ist. Der Lakedämonier Verfahren beim Unterricht der Jünglinge bestand darin, daß sie ihnen Fragen über Beurteilung der Menschen und ihrer Handlungen aufgaben, und wenn sie eine Person oder eine Tat verdammten oder lobten, mußten sie Gründe für ihr Urteil beibringen; auf diese Weise schärften sie zugleich ihren Verstand und lernten das Recht. Astyages befragt beim Xenophon den Cyrus über seine letzte Lektion; sie bestand darin, antwortete er: Ein aufgeschossener Bub' in unserer Schule hatte einen kurzen Rock an, den gab er einem seiner Kameraden, der kleiner von Wuchs war, und zog dem seinen Rock aus, der länger war. Unser Präzeptor machte mich zum Richter über diesen Fall. Mein Urteil ging dahin: Man müsse es bei dem Tausche bewenden lassen, und beide schienen dabei gewonnen zu haben, indem des einen Rock dem anderen besser paßte: hierüber gab er mir erst einen Wischer, daß ich unrecht hätte; denn ich hätte mir beigehn lassen, aufs Schickliche zu achten, da man doch vor allen Dingen aufs Recht sehn müsse, nach welchem niemand mit Gewalt das seinige genommen werden dürfe; und darüber wäre er noch gebakelt worden; gerade so, wie es in unseren Schulen hergeht, wenn ein Schüler den ersten Aorist von τύπτω54  vergessen hat. Mein Rektor würde mir eine hübsche Rede in genere demonstrativo halten müssen, bevor er mich überzeugte, daß seine Schule ebensogut wäre als jene. Die Alten haben den Weg kürzen wollen; und weil doch einmal die Wissenschaften, selbst dann wenn man sie zu sich nähme wie die gebratenen Lerchen vom Bratspieß, uns doch nichts weiter lehren können als Klugheit, Tapferkeit und Entschlossenheit, so haben sie gleich, ohne alle Umschweife, ihren Kindern geradezu die eigentlichen Wirkungen zeigen und sie unterrichten wollen, nicht durch Hörensagen, sondern durch Handlungen selbst, und bildeten sie sonach nicht bloß durch Gabe des Worts, sondern vorzüglich durch Beispiele und Handlungen; damit es in ihren Seelen nicht wohne wie eine Wissenschaft, sondern wie eine von ihr unzertrennliche Natur und Gewohnheit; nicht wie etwas Erlerntes, sondern wie ein angeborener Besitz. Bei einer Unterredung über diesen Punkt fragte man den Agesilas, was man nach seiner Meinung die Kinder lehren müsse; das, was sie zu tun haben, wenn sie Männer geworden sind, antwortete er. Es ist kein Wunder, daß eine solche Schulmethode so herrliche Wirkungen hervorbrachte. Man reiste, sagt man, nach den anderen Städten in Griechenland, um Redner, Maler und Tonkünstler zu suchen; nach Lakedämon aber reiste man, um Gesetzgeber, Staatsmänner und Feldherrn zu finden. Zu Athen lernte man schön sprechen und hier schön handeln. Dort ein sophistisches Argument zergliedern und die Täuschung listig verschraubter Worte enthüllen. Hier sich vor dem Reiz der Wollust hüten und mit großer Tapferkeit die Drohungen des Unglücks und des Todes zernichten. Die Athenienser haschten nach Worten, die Lakedämonier nach Taten. Dort war eine ununterbrochene Übung der Zunge; hier eine immerwährende Übung der Seele. Daher es auch nicht befremdlich erscheinen muß, wenn sie, als Antipater von ihnen fünfzig Kinder zu Geiseln forderte, ganz das Widerspiel von dem taten, was wir getan hätten, und zur Antwort gaben, sie wollten ihm lieber zweimal soviel erwachsene Männer geben. So hoch schätzten sie den Verlust der Erziehung ihres Landes. Wenn Agesilas den Xenophon überreden will, seine Kinder nach Sparta zu schicken, um sie dort erziehn zu lassen, so meint er damit nicht, daß sie die Rede- oder Disputierkünste erlernen sollen, sondern, wie er sagt, die höchste Wissenschaft unter allen zu lernen, nämlich die Wissenschaft zu gehorchen und zu befehlen.

Es macht einem großen Spaß zu sehn, wie Sokrates auf seine Weise den Hippias zum besten hat, als ihm dieser erzählt, wie er in gewissen kleinen Städten von Sizilien ansehnliche Summen mit Informieren gewonnen, in Sparta hingegen nicht einen Heller verdient habe. Wie die Spartaner unwissende Leute wären, welche weder Geometrie noch Arithmetik verstünden, nichts weder auf die Wohlredenheit noch auf die Dichtkunst hielten, sondern sich bloß dabei aufhielten, die Reihe der Könige zu wissen, den Anfang und den Verfall der Staaten und dergleichen losen Plunder – und wie nun am Ende Sokrates ihn nach und nach dahin lenkt zu gestehn, daß doch die öffentliche Regierungsform vortrefflich sei sowie ihr häusliches Leben glücklich und tugendhaft, und ihm dann am Schluß die Entbehrlichkeit seiner Künste zu erraten überläßt.

Die Beispiele aus dieser militärischen und aus allen ihr ähnlichen Erziehungsanstalten lehren uns, daß das Studium der Wissenschaften die Gemüter eher weichlich und weibisch macht als fest und kriegerisch. Der stärkste Staat, der gegenwärtig auf der Welt zu sein scheint, ist das türkische Reich. Ein Volk, das dazu erzogen wird, die Waffen zu schätzen und die Wissenschaften zu verachten. Ich finde Rom weit tapferer, bevor es gelehrt war. Die kriegerischsten Nationen unserer Zeit sind die rohsten und unwissendsten. Die Skythen, die Parther, Tamerlan u.a.m. dienen uns hier zum Beweise. Als die Goten Griechenland verheerten, standen die Büchervorräte sämtlich in Gefahr, dem Feuer geopfert zu werden. Ein Mann rettete sie dadurch, daß er die Meinung ausbreitete, man müsse diesen ganzen Hausrat den Feinden lassen, weil er vermögend sei, sie von kriegerischen Übungen abzuhalten und an eine stillsitzende, müßige Lebensart zu verwöhnen. Als unser König Karl VIII. fast ohne einmal den Degen zu ziehn Meister von Neapel und einem großen Teil von Toskana ward, so schrieben die Herrn in seinem Gefolge diese unverhoffte Leichtigkeit im Erobern dem Umstand zu, daß die Prinzen und der Adel von Italien mehr darnach strebten, reich und gelehrt zu werden als stark und kriegerisch.

Über die Kinderzucht: an Madame Diane de Foix, Gräfin de Gurson.

Niemals hab' ich einen Vater gesehn, der seinen Sohn, wenn er auch gleich bucklig oder grindig war, nicht für sein Kind erkannt hätte; obwohl er, wenn er nicht ganz von Zärtlichkeit berauscht ist, schon merkt, wo's ihm fehlt; aber bei alledem ist es sein Kind. So geht's mir! Ich sehe besser als jeder andere, daß dies hier Träumereien eines Menschen sind, der von den Wissenschaften nur die äußere Rinde in seiner Kindheit gekostet hat und sich ihrer nicht weiter erinnert als nach ihren Hauptzügen und das dazu nur undeutlich. Ein wenig von allem, auf gut französisch, und im ganzen nichts. Und läuft alles darauf hinaus, daß ich weiß, es gibt eine Arzneigelahrtheit, eine Jurisprudenz, vier Teile in der Mathematik und so im Bausch und Bogen die Anwendung, die man davon macht. Und so ungefähr weiß ich auch, was die Wissenschaften überhaupt für Nutzen fürs menschliche Leben verheißen; tiefer aber hineinzudringen, mir über den Aristoteles, den Monarchen der neuen Philosophie die Nägel zerkäuen oder auf irgendeine Scienz zu erpichen, das war nie meine Sache. Auch könnte ich von keiner einzigen der freien Künste die ersten Grundzüge zu Papier bringen. Und das müßte ein elender Tertianer sein, der sich nicht für gelehrter zu halten berechtigt wäre als ich! Denn ich würde schön dastehn, wenn ich ihn über seine Lektion examinieren sollte. Und wenn man mich mit Gewalt dazu zwänge, so wäre ich genötigt, ihm, schülerhaft genug, einige allgemeine Fragen vorzulegen, um bloß zu erfahren, ob er Menschenverstand und Mutterwitz hätte; das wäre aber eine Lektion, die unseren Tertianern ebenso fremd sein würde als mir die ihrigen.

Ich habe keinen ordentlichen Umgang mit irgendeinem unserer soliden Bücher bestätigt; die Werke des Plutarch und des Seneca ausgenommen, aus denen ich schöpfe wie die Danaiden, ich füll' immer an, und es leert sich immer aus. Ich bringe zwar wohl etwas davon auf dies Blatt, auf mich selbst aber sowenig als nichts. Fürs Bücherlesen ist so mein Kasus die Geschichte oder die Poesie, welche ich aus besonderer Neigung liebe; denn, wie Cleanthes sagte, geradeso wie der Klang, der in die enge Röhre einer Trompete eingezwängt war, viel heller und stärker herausdringt, ebenso, deucht's mich, schwingt sich ein durch die Klangfüße der Dichtkunst beflügelter Gedanke schneller in meine Seele und reißt sie mit sich fort. Was die natürlichen Fähigkeiten betrifft, in deren Besitz ich bin (wovon ich hier ein Pröbchen vorlege), so fühle ich wohl, daß sie unter der Last erliegen. Mein Fassungsvermögen und meine Urteilskraft tappen im Blinden, schwanken, straucheln und stolpern; und selbst dann, wenn ich so weit gegangen bin, als ich gekonnt habe, so hab' ich mir doch niemals selbst ein Genügen getan. Ich sehe wohl immer vor mir sich das Feld öffnen; aber es liegt noch beständig in einem Nebel, den ich nicht durchdringen kann. Und wenn ich mich darauf einlasse, so ohne viel Federlesens von allem zu sprechen, was mir in den Sinn kommt, und dabei keine anderen Hilfsmittel anwende als meine eigenen und natürlichen Kräfte; wenn mir's begegnet, wie es oft geschieht, daß ich zufälligerweise in guten Schriftstellern eben gerade solche Stellen finde, als ich zu behandeln mir vorgenommen habe – wie es mir eben mit Plutarch und seiner Abhandlung über die Stärke der Einbildungskraft widerfährt –, und ich mich dann in Vergleichung mit diesen Leuten so schwach und so winzig, so schwerfällig und so schläfrig erkenne, so komme ich mir selbst als mitleids- und verachtenswert vor. Aber das macht mir gleichwohl ein Vergnügen, daß meine Meinungen die Ehre haben, oft mit den Meinungen jener Männer zusammenzutreffen, und daß ich ihnen wenigstens von ferne folge und das sage, was mich wahr dünkt. Auch freut mich's, das zu haben, was nicht jedermann hat, den himmelweiten Unterschied zu erkennen, der zwischen ihnen ist und mir; damit lasse ich gleichwohl meine Erfindungen hinlaufen, so schwach und geringfügig ich sie zur Welt bringe, ohne die Mängel, die mich diese Vergleichung daran entdecken lassen, zu bekleistern oder zu belappen. Man muß gar kräftige Schenkel haben, wenn man es unternehmen will, mit diesen Leuten Schulter an Schulter geschlossen gleichen Schritt zu halten. Die unbesonnenen Schriftsteller unserer Zeit, welche in ihre leeren Werke ganze Stellen aus alten Autoren einschalten, um sich Ehre zu erwerben, tun gerade das Gegenteil. Denn dieser unendliche Abstich des Glanzes macht ihr eigenes Gesicht so bleich, so hager und so häßlich, daß sie weit mehr dadurch verlieren als gewinnen. Folgende waren zwei entgegengesetzte Phantasien. Der Philosoph Chrysippus mischte in seine Bücher nicht nur bloß einzelne Stellen, sondern ganze Werke anderer Autoren und in eines die ganze Medea vom Euripides, und Apollodor sagt darüber: wenn jemand herausnähme, was Fremden gehörte, so würden nur leere Blätter übrigbleiben. Epikur hingegen hat in den dreihundert Rollen, die er geschrieben, nicht einen einzigen Autor allegiert.

Vor einigen Tagen stieß ich eben auf eine solche Passage: ich war ermüdet und ermattet, hinter so blut- und saftlosen französischen Worten herzujagen, die so leer an Sinn und Inhalt waren, daß man nichts Treffenderes von ihnen sagen konnte als französische Worte; nach einer langen und verdrießlichen Jagd traf ich auf eine entzückende Stelle, die sich majestätisch bis in die Wolken erhob. Hätte ich den Abhang ein wenig sanft gefunden und den Steig ein wenig linde, so wäre darüber nichts zu sagen gewesen. Aber es war eine so schroffe, abgeschnittene Anhöhe, daß ich bei den sechs ersten Worten gewahr ward, wie ich in die andere Welt aufflöge; von da an entdeckte ich die Schlucht, aus der ich kam, so tief, so tief, daß ich mich niemals habe überwinden können, wieder hinunterzusinken. Hätte ich eine meiner Abhandlungen mit dem, was ich auf jener Höhe fand, ausgeschmückt, so würde solches die Dummheit der übrigen Stellen zu sehr ins Licht gestellt haben.

In anderen meine eigenen Fehler züchtigen, scheint mir ebenso erlaubt zu sein als an mir selbst, wie ich oft tue, die Fehler anderer zu rügen. Man muß sie allenthalben vor Gericht ziehn und ihnen gar keine Freistatt zugestehn. Ich weiß auch, wie kühnerweise ich selbst es unternehme, jedesmal meine eigenen Fabrikwaren der eingeschwärzten gleichzumachen, so daß man keinen Unterschied merke, nicht ohne eine verwegene Hoffnung, das Auge des Kenners zu täuschen. Aber ich suche es ebenso sehr durch die Anwendung, die ich davon mache, als durch meine Erfindung und durch meine Kräfte zu bewerkstelligen. Übrigens ringe ich auch nicht in Bausch und Bogen mit jenen alten Kämpfern oder Faust gegen Faust, sondern in leichten Versuchen und kleinen, wiederholten Gängen. Ich lasse mich nicht ein auf Faustkampf, ich betaste sie bloß und gehe nicht sowohl als ich mich bereden lasse zu gehn. Ja, könnte ich ihnen Fuß halten; ehrlicher Mann genug wär' ich; denn ich packe sie nur da an, wo sie die stärksten Sehnen haben. Es zu machen, wie ich von einigen wahrgenommen habe, die sich mit fremden Waffen dergestalt bedecken, daß sie nicht einmal eine Fingerspitze bloß geben und die ihr Vorhaben durchsetzen, wie das bei einer gemeinen Materie hinter den Meinungen der Alten für diejenigen leicht genug ist, die solche zusammenflicken, unkennbar machen und für ihr Eigentum ausgeben wollen: Aber erstlich ist es ungerecht und niederträchtig, indem sie nichts im Vermögen haben, womit sie sich zeigen könnten und sich also bloß mit fremden Schätzen breitmachen; und ferner ist's eine plumpe Dummheit, indem sie sich durch solche Mausereien ein Lob des unwissenden Haufens erschleichen und sich bei Leuten von Verstand, die dieses erborgte Mosaik mit Hohnlachen schauen, in üblen Ruf setzen, deren Lob doch nur allein von Bedeutung ist. Meinerseits möchte ich nichts so ungern tun als dies. Ich sage nie einem anderen etwas, als um es mir umso nachdrücklicher zu sagen. Dies ist keine Anspielung auf die Centos, die als solche in die Welt geschickt werden; und ich bekenne, daß ich zu meiner Zeit sehr sinnreiche Centos gesehen habe, unter anderen eines unter dem Namen eines gewissen Capilupus, ungerechnet der älteren. Das sind Geister, welche sich bald hier, bald dort sehen lassen wie Lipsius in der gelehrten und künstlichen Webefabrik seiner Politik. Dem sei wie ihm wolle, was ich sagen will ist, laß diese Possen noch so possierlich sein, ich bin nichts weniger als entschlossen, sie zu verheimlichen, sowenig als ein Konterfei meines glatzigen, grauenden Kopfes, das der Maler nicht nach einem vollkommenen Modell, sondern nach meinem Kopf und meinem Gesicht gemacht hätte. Denn ebenso sind auch hier meine Launen und Meinungen: ich gebe solche für das, was ich glaube, nicht für das, was man glauben müsse. Ich will damit weiter nichts als mich hergeben, wie ich bin; vielleicht bin ich morgen ganz anders, wenn sich meine Denkungsart ändert und bessert. Ich habe nicht das Ansehen, Glauben zu fordern, und verlang' es auch nicht. Denn ich fühle, daß ich zu wenig weiß, um andere zu unterrichten. Jemand, der vor einiger Zeit das vorige Kapitel gesehen hatte, sagte mir, ich hätte mich ein wenig ausführlicher über die Kinderzucht herauslassen sollen. Aber, Madame, wenn ich über diesen Gegenstand etwas Auszeichnendes zu sagen wüßte, wem könnte ich es besser zum Geschenk bestimmen als dem kleinen Mann, der Sie bedroht, nächstens durch einen wackeren Ausfall sich von Ihnen zu trennen. (Sie sind selbst zu wacker, um nicht Ihrer Nachkommenschaft einen tapferen Mann an die Spitze zu stellen!) Denn, da ich an der Schließung Ihrer Vermählung so viel Anteil hatte, so hab' ich auch einiges Recht und einigen Anteil an dem Glück und dem Wohlergehen, die daraus entstehen werden. Außer dem, daß die verjährten Ansprüche, die Sie auf meine dienstwilligste Ergebenheit haben, mich hinlänglich verbinden, zu allem, was Sie betrifft, Ehre, Vorteil und Wohlfahrt zu wünschen. Die Wahrheit aber ist, daß ich über den Gegenstand nichts weiter weiß, als daß die größte Schwierigkeit und das Wichtigste des menschlichen Wissens da zusammentreffen, wo es auf die physische und moralische Erziehung der Kinder ankommt. Geradeso wie beim Ackerbau die Arbeiten, welche vor dem Pflanzen hergehn, bestimmt und leicht sind und sogar das Pflanzen selbst – wenn aber nachher das Gepflanzte anfängt festzuwurzeln und aufzuwachsen, eine mächtige Verschiedenheit und Schwierigkeit der Behandlung eintritt, ebenso ist es beschaffen mit dem Menschen. Ihn zu pflanzen bedarf's keines so großen Fleißes, ist er aber geboren, so übernimmt man eine ganz andere Aufsicht voller Sorge und Furcht, ihn zu nähren und zu erziehn. Die Anzeichen seiner Neigungen sind im kindischen Alter so schwach und undeutlich; was er verspricht, so ungewiß und unzuverlässig, daß es fast unmöglich ist, mit einigem Grunde darauf zu bauen. Man betrachte nur den Cimon, den Themistokles und tausend andere, wie ungleich ihre Kindheit ihren männlichen Jahren war. Die Jungen der Bären und der Hunde zeigen ihren natürlichen Hang. Die Menschen aber, welche sehr früh zu Angewohnheiten, in Meinungen und für Gesetze gebildet werden, ändern oder verstellen sich sehr leicht. Aber ebenso schwer ist es, den Hang der Natur zu zwingen; daher es denn kommt, daß man sich lange auf einem einmal unrichtig gewählten Wege vergebens zermartert und viele Zeit darauf verwendet hat, Kinder zu Dingen zu erziehn, wozu sie von der Natur nicht bestimmt sind. Indessen ist bei dieser Schwierigkeit meine Meinung, daß man ihnen immerhin zu den besten und nützlichsten Sachen Anleitung gebe und nicht zuviel auf die Zeichen und Vorbedeutungen gebe, die wir aus den Bewegungen der Kinder zu ziehn pflegen. Plato scheint mir in seiner Republik zu viel Gewicht darauf zu legen. Die Wissenschaften, Madame, sind eine schöne Zierde und ein sehr nützliches Werkzeug, vorzüglich für Personen auf einer solchen Stufe des Glücks wie Sie. Die Wahrheit zu sagen, sind solche in niedrigen, armen Händen nicht so anwendbar. Die Wissenschaften und Künste zeigen ihren hohen Wert, als Hilfsmittel einen Krieg zu führen, ein Volk zu regieren, die Freundschaft eines Fürsten oder einer Nation zu erhalten, lieber als einen logischen Schluß zu formieren, einen Appellationsprozeß zu führen oder eine Schachtel Pillen zu verschreiben. Also, ich bin überzeugt, Madame, daß Sie dies Feld bei der Erziehung der Ihrigen nicht vernachlässigen werden, da Sie selbst die Süßigkeit davon genossen haben und dabei selbst aus einem gelehrten Geschlechte sind, denn wir besitzen noch die Schriften der alten Grafen de Foix, von denen Sie und der Herr Graf, Ihr Gemahl, abstammen; und Franz, Herr de Candale, Ihr Oheim, gibt noch täglich andere heraus, welche den Ruhm von dieser Eigenschaft Ihres Geschlechtes auf viele Jahrhunderte verbreiten werden. Also will ich Ihnen hierüber nur eine meiner Grillen sagen, die ich gegen die allgemeine Meinung hege: das ist alles, was ich in dieser Sache zu Ihrem Befehl darlegen kann.

Das Amt des Privatlehrers, den Sie ihm geben werden, von dessen Wahl die ganze Wirkung der Erziehung abhängt, hat verschiedene andere wichtige Zweige, die ich aber nicht berühre, weil ich nichts Triftigeres darüber vorzubringen weiß; und von dem Artikel, worüber ich ihm meinen Rat zu erteilen mir beigehn lasse, mag er mir so viel glauben, als ihm davon glaubwürdig erscheint. Einem Kind von vornehmem Haus, das man den Wissenschaften zuführen will (nicht aus Absicht auf Gewinn – denn ein so niedriger Zweck wäre der Huld und Milde der Musen unwürdig, und hängt dabei ab von Zufälligkeiten –, auch eben nicht sowohl auf äußere Bequemlichkeiten als auf sein eigenes Wohl, um sein Inneres damit zu zieren und zu bereichern und um ihn vielmehr zu einem brauchbaren als gelehrten Mann zu bilden), wollte ich, daß man sorgfältig wäre, einen Führer zu wählen, dessen Kopf viel mehr hell und klar wäre, als voll geschüttelt und gerüttelt; daß man zwar auf beides, aber mehr auf Sitten und Verstand als auf Gelehrsamkeit bei ihm achtet, und daß er sich in seinem Amt auf eine neue Art benehme. Man schreit uns immer in die Ohren, als ob man's in einen Trichter schüttete, und unser Tun dabei ist nichts anderes als wieder sagen, was man uns gesagt hat. Nun wünscht ich aber, daß er hierin eine Verbesserung machte und gleich anfangs, nach dem Maße der Fähigkeiten der Seele, die er zu bearbeiten hat, damit begönne, ihr die Dinge in ihrem eigenen Licht vorzulegen, damit sie ihnen Geschmack abgewinnen und für sich selbst in die Sachen finden und für sich wählen möge. Zuweilen müßte er dem Zögling auf den Weg helfen und zuweilen ihn allein gehn lassen. Er muß nicht immer den Ton geben und allein reden; er muß ihn auch hören und ihn seinerseits sprechen lassen. Sokrates und nach ihm Arcesilaus ließen erst ihre Schüler reden und sprachen erst hernach mit ihnen. Obest plerumque iis, qui discere volunt, auctoritas eorum, qui docent55. Es ist gut, daß er ihn vor sich trottieren lasse, damit er seinen Gang kennen und beurteilen lerne, wie tief er sich zu ihm herablassen müsse, um sich seinen Kräften gleichzuhalten. Versäumt man dieses Verhältnis, so verdirbt man alles. Um es zu treffen und sich aufs gemessenste danach zu richten, ist unter allen Pflichten, die ich von einem Hofmeister erfordere, die dringendste. Und es ist die Wirkung einer hohen und starken Seele, sich zu diesem kindischen Gang herablassen und ihn leiten zu können. Ich trete fester und sicherer auf, wenn ich bergan, als wenn ich bergab gehe. Es ist kein Wunder, wenn nach heutiger Gewohnheit gewisse Erzieher, welche es unternehmen, eine ganze Herde Kinder von so verschiedenen Geistesfähigkeiten und Gemütsarten in eine und dieselbe Lektion zu nehmen und nach einem Plane zu unterrichten, unter dem ganzen Haufen kaum zwei oder drei finden, die noch einigermaßen gute Früchte ihrer Zucht bringen! Der Hofmeister muß von seinem Zögling nicht bloß Rechnung von den Worten seiner Lektion fordern, sondern von ihrem Sinn und ihrem Inhalt. Er muß von dem Nutzen, den er daraus gezogen hat, nicht nach dem Zeugnis des Gedächtnisses seines Zöglings, sondern nach seinem Leben urteilen! Er muß ihn das, was er gelernt hat, unter tausenderlei Gestalten betrachten lassen, um es auf so mancherlei Art Gegenstände anzuwenden und zu sehn, ob er es richtig gefaßt und sich zu eigen gemacht hat, nach den Vorschriften des Plato. Es ist ein Zeichen der Unverdaulichkeit, wenn man die Speisen wieder aus dem Magen gibt, wie man sie verschlungen hat. Der Magen hat dann sein Werk nicht beschafft und hat das, was man ihm zum Verdauen gab, weder nach Materie noch Form verändert. Unsere Seele beugt und schmiegt sich gar zu gern auf guten Glauben, nach dem Willen und den Meinungen anderer; folgt gar gern den Steigen und Pfaden anderer und folgt gleichsam wie eine Gefangene dem Ansehen derer, die sich ihr als Lehrer und Führer aufdringen. Man hat uns so sehr an Leitseile gewöhnt, daß wir des freien Ganges fast nicht mehr gewohnt sind. Unsere Freiheit und eigene Kraft ist dahin. Numquam tutelae suae fiunt56. Ich habe in Pisa einen hübschen Mann sehr genau gekannt, der ein so arger Aristotelianer war, daß sein vornehmster Lehrsatz hieß: Der Probierstein aller gegründeten Meinungen, aller Wahrheiten sei die Übereinstimmung mit den Lehren des Aristoteles. Außerdem gäbe es weiter nichts als Chimären und Possen; denn Aristoteles habe alles ergründet und alles gesagt. Diese seine Meinung, die man ein wenig zu allgemein und zu ausgedehnt verstanden hatte, veruneinigte ihn ein wenig stark und lange mit der Inquisition zu Rom. Laß den Hofmeister also jede Meinung durchs Sieb schlagen und nichts in den Kopf seines Zöglings setzen, was sich bloß auf Ansehen und Kredit fußt. Er muß ihn ebenso wenig auf ein Prinzip des Aristoteles als auf ein Prinzip des Epikur oder der Stoiker schwören lassen. Man lege ihm die Verschiedenheit der Meinungen vor; kann er darunter wählen, umso besser; wo nicht, so laß ihn zweifeln.

Che non men che saper, dubbiar m'aggrata57.

Denn nimmt er die Meinung des Xenophon oder des Aristoteles an, nach seiner eigenen Erwägung, so sind es nicht mehr die ihrigen, sondern seine eigenen. Wer einem anderen folgt, folgt niemand; er findet nichts, weil er eigentlich nichts sucht. Non sumus sub rege; sibi quisque se vindicet58. Laß ihn vor allen Dingen wissen, was er weiß. Er muß wenigstens ihren Ideengang kennenlernen, ihre Lehrsätze braucht er nicht zu beschwören. Laß ihn geradezu vergessen, wenn's ihm gut deucht, woher er seine Meinungen hat; laß ihn sich solche aber zu eigen machen. Wahrheit und Vernunft sind ein allgemeines Gut und sind kein ausschließenderes Eigentum dessen, der sie zuerst, als dessen, der sie nachher gesagt hat. Sie sind kein Eigentum Platos oder das meinige, weil er und ich solche gleich richtig einsehen. Die Bienen sammeln hier und allerorten von Blumen, aber sie machen daraus Honig, der ihnen ganz eigen gehört. Es ist weder Thymian mehr noch Majoran. Ebenso wird der Zögling das, was er von anderen borgt, verändern und verwandeln, um ein ihm eigenes Werk daraus zu bilden; das heißt, sein Urteil, seine Erziehung, seine Arbeit und sein Studium wird dahin gehn, sich selbst zu bilden. Mag er immer verbergen, womit er sich ausgeholfen, und mir zeigen, was er selbst gemacht hat. Diejenigen, welche borgen und stehlen, prunken mit ihren Gebäuden und Ankaufungen, ohne zu sagen, was sie von fremdem Gut dazu haben. Wir sehen nicht, was die Richter und Advokaten für Geschenke einnehmen, sondern nur, wie sich ihre Familie aufnimmt und ihr Staat sich vermehrt. Niemand hält öffentliche Rechnung über seine Einnahme. Seine Ausgaben verheimlicht niemand; die gibt jedermann zur Schau. Der Gewinn unseres Studierens ist, wenn wir dadurch besser und weiser geworden sind. Epicharmus pflegte zu sagen: der Verstand ist's, welcher hört und sieht; der Verstand zieht Nutzen von allem, er ordnet alles, er wirkt, herrscht, regiert, alles übrige ist blind, taub und ohne Seele.

Es ist ausgemachte Wahrheit, wir machen unseren Zögling dadurch träg und schüchtern, daß wir ihm nicht die Freiheit lassen, etwas für sich selbst und nach seinem eigenen Kopfe zu tun. Wer fragt jemals seinen Untergebenen, was er von der Rhetorik, von der Grammatik, von dieser oder jener Sentenz des Cicero halte? Man bläut uns diese Dinge ins Gedächtnis, nach der Länge aufgeschrieben, wie die Orakelsprüche, von welchen Buchstaben und Silben das Wesentliche ausmachen. Aber Auswendigwissen ist kein Wissen: das heißt nur behalten, was man seinem Gedächtnis zum Aufbewahren gegeben hat. Das, was man gehörig weiß, darüber schaltet man, ohne den Lehnsherrn zu fragen, ohn erst in sein Buch zu gucken. Büchergelehrsamkeit ist eine leidige Gelehrsamkeit. Ich verlange, daß sie zur Zierde diene, nicht zur Grundlage; nach der Meinung des Plato, welcher sagt: in Standhaftigkeit, Treue und Aufrichtigkeit bestehe die wahre Philosophie; die übrigen Wissenschaften, welche auf etwas anderes lenken, wären bloße Schminke. Ich möchte wohl sehn, daß die Herren Paluel oder Pompee, diese schönen Tänzer unserer Zeit, ihre Kapriolen bloß durchs Zusehn lehrten, ohne ihre Schüler von der Stelle zu bewegen, wie jene unseren Verstand unterrichten wollen, ohn ihn in Tätigkeit zu setzen. Oder, daß man uns lehrte, ein Pferd zu regieren, eine Lanze führen, die Laute spielen, nach Noten singen, ohne uns darin zu üben, wie unsere Lehrer hier uns richtig urteilen und regelmäßig sprechen lehren wollen, ohne uns im Sprechen oder im Urteilen zu üben. Nun aber dient bei diesem Lernen alles, was sich unseren Augen darstellt, so gut als ein gelehrtes Buch. Schalksstreiche eines Pagen, Tölpeleien eines Knechtes, Tischgespräche sind ebenso viele neue Materien. Dieserwegen ist der Umgang mit Menschen von so außerordentlichem Nutzen! So wie das Besuchen fremder Länder; nicht nur nach der Sitte unserer Noblesse sich zu belehren (wie viele Schritte die Santa Rotonda im Umfang enthält oder wie fein die Leibwäsche der Signora Livia sei oder, wie andere, um aufs genaueste zu wissen, wieviel ein Neronskopf, der in einer Ruine gefunden, breiter oder länger ist als eben derselbe auf einer ähnlichen Medaille), sondern um vorzüglich den Charakter dieser Nationen, ihre Sitten und Gesetze kennenzulernen, um unser Gehirn an dem ihrigen zu reiben und zu glätten! Ich wollte, daß man damit anfinge, den Zögling von Kindsbeinen an herumzuführen, und zwar zuerst, um zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, zu unseren benachbarten Nationen, bei denen die Sprache weit von der unsrigen abweicht und für welche, wenn man nicht beizeiten dazu tut, die Zunge die Biegsamkeit verliert. Auch findet der Satz allgemeinen Beifall: Es sei nicht gut, ein Kind im Schoße seiner Eltern zu erziehn. Die natürliche Liebe macht selbst die verständigsten Eltern zu weichherzig und nachgiebig. Sie sind unfähig, das Kind zu strafen noch es mit einfacher Kost genährt zu sehn, welches doch ebenso nötig ist, als daß ein Kind nicht ewig gegängelt werde, sondern auch mit etwas Gefahr frei gehn und handeln lerne. Sie können nicht dulden, daß das Kind von seinen Übungen in Staub und Schweiß zurückkomme, daß es kalt trinke, heiß trinke; können nicht ansehn, daß es ein mutiges Pferd besteige oder im Kontrafechten tüchtige Florettstöße bekomme oder daß eis eine geladene Flinte abschieße, welche stoßen möchte. Denn es ist keine andere Hilfe: wer es zum braven Mann erziehn will, muß es wahrhaftig in seiner Jugend nicht verweichlichen und muß oft die Regeln der Ärzte hintansetzen.

Vitamque sub divo et trepidis agat

In rebus59.

Es ist nicht genug, seine Seele festzumachen, es muß ihm auch die Muskeln stählen. Die Seele ist viel zu geschäftig, wenn sie keine Hilfe hat, und hat zu viel zu tun, wenn sie zwei Ämtern vorstehen soll. Ich weiß, wie sich die meinige in der Gesellschaft eines so weichen, fühlbaren Körpers plackt, der sich so sehr auf sie steift und stützt. Und werde ich bei meinem Bücherlesen oft gewahr, daß meine Meister, in ihren Schriften, in manchen Beispielen dasjenige für Größe der Seele und Stärke des Geistes ausgeben, was eigentlich mehr von der Dicke der Haut und der Härte der Knochen abhängt. Ich habe Männer, Weiber und Kinder gesehen, die so geboren waren, daß ihnen eine Tracht Prügel nicht so viel machte, als mir ein Nasenstüber machen würde; die bei den Schlägen, die man ihnen gab, weder die Zunge bewegten noch die Augenbrauen zuckten. Wenn die Athleten in Ansehung der Geduld die Philosophen nachäfften, so ist es mehr ein Beweis der Stärke ihrer Sehnen als ihres Geistes und Herzens. Denn sicherlich, die Gewohnheit, ohne Ermüdung zu arbeiten, ist einerlei mit der Gewohnheit, ohne Ungeduld Schmerz zu ertragen. Labor callum obducit dolori60. Man muß den Zögling zu den Mühseligkeiten der Arbeit und den Unbequemlichkeiten der Leibesübungen gewöhnen, um ihn gegen allerlei Schmerz unempfindlicher zu machen; dahin gehören Verrenkungen der Glieder, Schmerzen in den Eingeweiden, Brennmittel auf der Haut, sogar Gefängnis und Marter der Folter. Denn selbst den letzteren kann er zu gewissen Zeiten ausgesetzt sein so gut wie die Bösewichter. Wir haben die Exempel! Wer die Gesetze bestreitet, droht dem Rechtschaffenen mit Geißel und Strick. Überdem noch wird das Ansehen des Hofmeisters, das über den Zögling uneingeschränkt sein soll, durch die Gegenwart der Eltern unterbrochen und geschmälert. Dazugenommen den Respekt, den das Hausgesinde dem jungen Herrn zeigt, und die Idee, die er sich von der Größe und Hoheit seiner Familie macht, so sind das nach meiner Meinung keine kleinen Hindernisse bei seinem Alter. In dieser Schule des Umgangs mit Menschen habe ich auch die Unbequemlichkeit bemerkt, daß, anstatt uns die Kenntnis von anderen zu erwerben, wir nur darauf arbeiten, uns anderen bemerklich zu machen, und mehr Mühe geben, unsere Ware an Mann zu bringen, als neue einzusammeln. Stillschweigen und Bescheidenheit sind sehr schickliche Eigenschaften für den menschlichen Umgang. Man muß das Kind mit seinem Wissen, sparsam und haushälterisch sein, lehren, wenn es bereits welches erworben hat, und sich über die Dummheiten und Fabeln nicht zu entrüsten, die etwa in seiner Gegenwart zu Markte gebracht werden.

Denn es ist eine unhöfliche Anmaßung, alles herabzuwürdigen, was nicht nach unserem Geschmack ist. Laß es ihm genügen, sich selbst zu bessern; und nicht anderen darüber Vorwürfe zu machen, was es sich selbst zu tun versagt; noch die öffentlichen Sitten reformieren wollen. Licet sapere sine pompa, sine invidia61. Es vermeide das Bild eines angemaßten und ungesitteten Reformators der Welt und den kindischen Ehrgeiz, feiner zu scheinen, weil es anders denkt und als ob es eine so schwere Sache wäre zu tadeln, neue Sachen vorzubringen und sich dadurch einen großen Namen zu erwerben. So wie es nur großen Dichtern anständig ist, sich poetischer Freiheiten zu bedienen, so ist es auch nur bei großen und vorzüglichen Seelen erträglich, wenn sie sich die Freiheit nehmen, sich über die Gewohnheit hinwegzusetzen. Si quid Socrates et Aristippus contra morem et consuetudinem fecerunt, idem sibi ne arbitretur licere: magnis enim illi et divinis bonis hanc licentiam assequebantur62. Man muß es lehren, sich in kein Gespräch oder in Wortstreit einzulassen, als wenn es einen Gegner findet, der es mit ihm aufnehmen kann, und selbst alsdann sich nicht aller Wendungen bedienen, die ihm zustatten kommen könnten, sondern bloß der dienlichsten. Man flöße ihm Delikatesse ein in der Wahl und Darlegung seiner Gründe und Liebe zum Zweckdienlichen, folglich zur Kürze. Vorzüglich bringe man es dahin, daß es vor der Wahrheit die Waffen strecke und sich ihr ergebe, sobald es sie erblickt, sei es, daß es sie auf seiten seines Gegners gewahr werde oder in seinem eigenen Geist vermittelst eines lichtvollen Augenblicks. Denn man wird es ja auf keinen Lehrstuhl stellen, um eine vorgeschriebene Rolle herzusagen. Es hänge keiner Sekte an, als weil es sie billigt. Auch wird es keiner Profession angehören, in der man mit baren Pfennigen die Freiheit bezahlt, seine Fehler zu erkennen und zu bereuen. Neque, ut omnia, quae praescripta et imperata sint, defendat, necessitate ulla cogitur63. Ist der Hofmeister meines Sinnes, so wird er den Willen des Zöglings dahin lenken, ein treuer, anhänglicher und tapferer Dienstmann seines Fürsten zu werden, wird ihm aber die Begierde abkühlen, ihm aus anderer Rücksicht zu dienen als aus öffentlicher Staatsbürgerpflicht. Außer verschiedenen anderen Unbequemlichkeiten, welche durch diese besonderen Verbindlichkeiten unsere Freiheit kränken, ist das Urteil eines gemieteten oder gekauften Menschen entweder weniger unbefangen und weniger frei, oder es hat den Schein der Unbesonnenheit und Undankbarkeit gegen sich. Ein wahrer Hofmann kann kein anderes Gesetz, keinen anderen Willen haben, als vorteilhaft von seinem Herrn zu sprechen und zu denken, der ihn unter so viel tausend Untertanen gewählt hat, um ihn zu nähren und mit seiner Hand zu erhöhn. Diese Gunst, dieser Nutzen bestechen nicht ohne alle Ursache seine Offenherzigkeit und blenden sein Urteil. Gleichwohl sieht man gewöhnlicherweise, daß die Sprache dieser Leute von der Sprache anderer in einem Staat sehr verschieden und in dergleichen Materien nicht sehr zuverlässig ist. Aus den Reden des Zöglings müssen sein Gewissen und seine Tugend hervorleuchten; und sie müssen bloß die Vernunft zur Führerin haben. Man mache es ihm einleuchtend, daß die Fehler gestehn, die er in seinen eigenen Schlüssen entdeckt – würden sie auch von niemand als von ihm selbst bemerkt –, eine Wirkung der verbesserten Einsicht und Aufrichtigkeit sei, welches die vornehmsten Dinge sind, wonach er strebt; daß Eigensinn und Widersprechungsgeist niedrige Eigenschaften sind und sich meistens nur bei kleinen Seelen zeigen. Hingegen, sich besinnen, seine Meinung bessern, in der Hitze des Streits selbst eine schlechte Sache aufgeben, seltene, starke und philosophische Eigenschaften bezeichnen. Man muß ihn darauf aufmerksam machen, daß er die Augen überall habe, wenn er in Gesellschaft ist. Denn ich finde, daß die ersten Stühle gewöhnlich von Personen eingenommen werden, welche die wenigsten Fähigkeiten haben, und daß die größten Glücksgüter nicht gar oft mit den aufgeklärtesten Köpfen vereinigt sind. Ich habe indessen gesehen, daß man sich am oberen Ende einer Tafel über die Schönheit einer Tapete oder über den Geschmack des Malvasiers unterhielt und daß viele schöne Züge des Gesprächs vom anderen Ende der Tafel verlorengingen. Er muß die Tiefe eines jeden erforschen; Hirten, Handwerker, Reisende, alles muß er hervorziehn und von jedes Waren etwas nehmen; denn in der Haushaltung ist alles zu gebrauchen. Selbst Dummheit und Schwachheit anderer werden ihm zur Lehre gereichen. Wenn er auf die Manieren und das Betragen eines jeden fleißig achtet, so wird er Lust bekommen, sich die guten zu eigen zu machen, und wird die schlechten verachten. Man flöße ihm eine bescheidene Neugier ein, nach allem zu fragen: alles, was um ihn her sonderbar ist und sich auszeichnet, muß er besehn. Ein Gebäude, einen Springbrunnen, einen Menschen; die Walstätte einer ehemaligen Schlacht, den Zug Cäsars oder Karls des Großen.

Quae tellus sit lenta gelu, quae putris ab aestu,

Ventus in Italiam quis bene vela ferat64.

Er muß sich erkundigen nach den Sitten, den Einkünften und den Verbindungen dieses und jenes Fürsten. Das sind Dinge, die es sehr angenehm zu erfahren und sehr nützlich ist zu wissen. In diesem Umgang mit Menschen will ich auch, und zwar hauptsächlich, jene mit eingeschlossen wissen, die nur noch in den Büchern leben. Vermittelst der Geschichte wird er sich mit den großen Seelen der besten Zeitalter bekannt machen. Es ist ein eitles Studium, wird vielleicht einer oder der andere sagen; es ist aber, richtig genommen, ein Studium von sehr schätzbarem Nutzen und das einzige, welches wie Plato sagt, die Lakedämonier sich vorbehalten hatten. Welchen Vorteil wird er nicht in diesem Fache vom Lesen der Lebensbeschreibungen unseres Plutarchs ziehen! Aber laß unseren Hofmeister auch nicht vergessen, was eigentlich der Zweck seines Amtes ist, und laß ihn so seinem Untergebenen nicht sowohl Jahr und Tag der Zerstörung von Karthago als die Charaktere Hannibals und Scipios bekannt machen. Nicht sowohl, wo Marcellus starb, sondern warum es nicht mit seiner Pflicht bestand, dort zu sterben. Er lehre ihn nicht sowohl die Begebenheiten selbst als richtig darüber urteilen. Dies ist nach meiner Meinung unter allen gerade die Materie, womit sich unser Geist in einem höchst verschiedenen Maße beschäftigt. Ich habe im Livius hundert Dinge gelesen, die dieser oder jener nicht darin gefunden hat. Plutarch hat noch hundert andere darin gelesen, die wieder mir entwischt sind und welche vielleicht Livius nicht hineingelegt hatte. Einige lesen ihn bloß, um aus ihm Grammatik zu lernen; andere die philosophische Zergliederungskunst, vermöge welcher man in die verborgenen Teile unserer Natur eindringt. Man findet beim Plutarch viele gründlich ausgearbeiteten Abhandlungen, die es sehr verdienen, daß man sich damit bekannt mache; denn nach meiner Meinung ist er darin Altmeister. Er hat aber tausend Dinge nur ganz leicht berührt. Er winkt bloß mit dem Finger, welchen Weg wir zu nehmen haben, wenn wir ihm folgen wollen; und zuweilen begnügt er sich, mitten im wärmsten Vortrag abzubrechen und es bei einem leichten Hinwurf bewenden zu lassen. Diese Winke muß man sammeln und in einem Magazin aufbewahren. Wie seinen Ausspruch: die Bewohner Asiens wären nur einem Despoten untertan, weil sie eine Silbe nicht aussprechen könnten! Das Wort Nein nämlich, welches vielleicht dem Böethius Stoff und Anlaß zu seiner Schrift »Die freiwillige Knechtschaft« gab. Zuweilen stellt er in dem Leben eines Mannes eine Handlung oder ein Wort, welche unbedeutend schienen, in ein solches Licht, daß solche einen wichtigen Sinn bekommen. Es ist schade, daß die Menschen von so großem Verstand so sehr die Kürze lieben! Unstreitig gewinnt dadurch ihr Ruhm; aber wir verlieren dabei. Plutarch will lieber, daß wir ihn seines richtigen Verstandes wegen rühmen als seiner Gelehrsamkeit. Er will uns lieber sein Begehren lassen als uns sättigen. Er wußte, daß man selbst von guten Dingen zuviel sagen könne und daß Alexandrides demjenigen, welcher den Ephoren einen guten aber zu langen Vortrag tat, mit Recht den Verweis gab: »O Fremdling, gute Sachen sagst du, du sagst sie nur nicht gut.« Wer einen magern Leib hat, trägt gern einen ausgestopften Wams, und denen, welchen die Materie schwindet, schwellen die Worte.

Man zieht eine unvergleichliche Klarheit für den menschlichen Verstand aus dem fleißigen Umgang mit Menschen. Wir sind alle in Haufen zusammengedrängt und sehn nicht weiter, als unsere Nasen reichen. Als Sokrates befragt war, woher er gebürtig sei, antwortete er nicht: »aus Athen«, sondern: »aus der Welt.« Dieser Weise, dessen Geist besser genährt und weniger umgrenzt war, umfaßte die ganze Welt wie seine Vaterstadt; weihte seine Kenntnis, seinen Umgang und sein Wohlwollen dem ganzen Menschengeschlecht; nicht wie wir, wir sehen nur unter uns herab. Wenn in meinem Dorf der Weinstock verfriert, so zieht mein Pfarrer daraus den Schluß, daß Gott über das ganze Menschentum zürne, und urteilt, daß den Kannibalen davon schon das Zäpflein geschossen sei. Wer schreit beim Anblick unserer bürgerlichen Kriege nicht, daß die Maschine zu Trümmern gehe und daß uns der Jüngste Tag schon bei der Kehle fasse! Ohne sich zu besinnen, daß man schon weit ärgere Dinge erlebt hat und daß zehntausend Teile der Welt sich's indessen weidlich wohl sein lassen. Wenn ich hingegen die Ausgelassenheit und Ungestraftheit dieser Kriege betrachte, so bewundere ich vielmehr, daß sie so menschlich sind und so mild. Wem es um den Kopf herum hagelt, den dünkt das Gewitter über die ganze Himmelssphäre zu wüten, und jener Savoyard sagte: Wenn der einfältige König von Frankreich sein Glück recht zu brauchen gewußt hätte, so wäre er der Mann danach, der bei meinem Herzog hätte Haushofmeister werden können. – Seine Imagination konnte sich bis zu keiner größeren Höhe erheben als der seines Fürsten und Herrn.

Wir sind alle, weniger oder mehr, in diesem Irrtum. Ein Irrtum von großem und nachteiligem Einfluß. Wer sich aber das große Bild unserer Mutter Natur gleichsam wie in einem Gemälde in ihrer ganzen Majestät vorstellt; wer in ihrem Gesichte eine so allgemeine, so beständige Abänderung sieht; wer sich darin betrachtet, und nicht bloß sich selbst, sondern ein ganzes Reich, wie den Strich von einer sehr zarten Spitze – nur der schätzt die Dinge nach ihrer wahren Größe. Diese große Welt, welche einige noch wie Spezies unter ein Genus multiplizieren, ist der Spiegel, in den wir schauen müssen, um unseren wackeren Balken wahrzunehmen. Kurz, ich verlange, daß sie das Buch meines Schülers sein soll. So vielerlei Charaktere, Sekten, Urteile, Meinungen, Gesetze und Gewohnheiten lehren uns, richtig von unseren eigenen zu urteilen, und überzeugen unseren Verstand von seiner Unvollkommenheit und von seiner natürlichen Schwäche; und das ist keine leichte Lektion. So manche Staatsrevolutionen und Umkehrungen der öffentlichen Glückseligkeit so mancher Reiche lehren uns, aus unserem eigenen kein so großes Wunderwerk machen. So viele Heldennamen, so viele Siege und Eroberungen, die in der Vergessenheit begraben liegen, machen die Hoffnung lächerlich, durch Gefangennahme von zehn Landmilizen und die Eroberung eines mit Zaum und Schlagbaum befestigten Ortes, den vor der Einnahme kein Mensch dem Namen nach kannte, unseren Namen zu verewigen. Der Hochmut und Dünkel mancher fremden Prunkgepränge, die so aufgeblasene Majestät mancher Höfe und Großen befestigt und stärkt unsere Sehkraft, daß sie den schimmernden Glanz der unsrigen ausstehn kann, ohne zu blinzeln. So viele Millionen, die vor uns begraben sind, machen uns beherzt, uns nicht davor zu fürchten, so guter Gesellschaft in die andere Welt zu folgen; und so im übrigen. Unser Leben, sagt Pythagoras, ist gleich einem Zuge nach der großen und volkreichen Versammlung bei den olympischen Spielen. Einige üben den Körper, um dadurch den Preis zu erringen, einige sind darunter (und das sind nicht die verächtlichsten), die dort keinen anderen Vorteil suchen, als zu sehn, wie und warum jede Sache so und nicht anders gemacht wird, die sich bloß als Zuschauer bei dem Leben anderer Menschen verhalten, um danach ihr eigenes zu beurteilen und einzurichten. Mit den Beispielen kann man sehr füglich die anwendbarsten Vorschriften der Philosophie verbinden, an welchen man die Handlungen der Menschen, als das Gold am Probierstein, reiben muß. Man muß ihm sagen:

... quid fas optare, quid asper

Utile nummus habet; patriae carisque propinquis

Quantum elargiri deceat: quem te deus esse

Jussit, et humana qua parte locatus es in re;

Quid sumus, aut quidnam victuri gignimur65.

Was Wissen ist und was Unwissenheit; was der Endzweck alles Lernens ist; was Tapferkeit ist, was Mäßigkeit und Gerechtigkeit; was sich zwischen Ehrgeiz und Geldreiz bemerken läßt; was zwischen Knechtschaft und Folgsamkeit; zwischen Zügellosigkeit und Freiheit. An was für Kennzeichen man die wahre und dauernde Zufriedenheit erkennt. Inwieweit man Tod, Schmerz und Schande zu fürchten hat.

Et quo quemque modo fugiatque feratque laborem66.

Was für Triebfedern uns in Bewegung setzen und was uns auf so mancherlei Art wünschen und handeln läßt. Denn nach meiner Meinung müssen die ersten Weisheitslehren, womit man seinen Verstand erquickt, darin bestehn, daß sie seine Sitten lenken und seine Empfindungen; daß sie ihn lehren, sich selbst erkennen, gut leben und gut sterben. Unter den freien Künsten laß uns mit der Kunst anfangen, die uns frei macht. Sie dienen freilich alle, ohne Widerrede, auf gewisse Weise zum Unterricht für unser Leben und dessen Anwendung; wie alle anderen Dinge gewissermaßen dazu ebenfalls dienen. Aber laß uns diejenigen wählen, welche uns geradewegs und vermöge ihrer Natur dienen. Wenn wir die Bedürfnisse unseres Leben in ihre richtigen und natürlichen Grenzen einzuschränken wüßten, so würden wir finden, daß der größte Teil der Wissenschaften, welche im Gebrauch sind, für uns von keinem Gebrauch sind. Und daß selbst bei denen, welche es sind, es solche unnütze Ausdehnungen und Vertiefungen gibt, über die wir besser täten, hinwegzusehn; und daß wir nach dem Rat des Sokrates uns mit unserem Studieren bloß an die halten sollen, welche nützen:

... Sapere aude,

Incipe: Vivendi qui recte prorogat horam,

Rusticus expectat dum defluat amnis, at ille

Labitur, et labetur, in omne volubilis aevum67.

Es ist eine Herzenseinfalt, unsere Kinder lehren:

Quid moveant Pisces, animosaque signa Leonis,

Lotus et Hesperia quid Capricornus aqua68,

die Wissenschaft der Gestirne und Kenntnis des Ganges der achten Sphäre, eh' sie noch ihre eigenen kennen.

Τὶ δ᾽ἀστράσιν Βοώτεω,

Τὶ Πλειάδεσσι κάμοι69.

Anaximenes schrieb an Pythagoras: Aus welcher Absicht könnte ich mich mit dem Geheimnis der Gestirne befassen, da ich Tod und Knechtschaft beständig vor meinen Augen schweben sehe? Denn damals rüsteten sich die persischen Könige zum Kriege gegen sein Vaterland. Ein jeder muß so sagen, der von Ehrsucht, Geldgeiz, Übermut, Aberglauben bekämpft wird und in seinem Inneren noch dergleichen andere Feinde des Lebens hegt: Soll ich mich um den Lauf der Dinge dieser Welt bekümmern?

Nachdem man den Zögling gelehrt hat, was nötig ist, um ihn weiser und besser zu machen, so mag man ihn mit der Logik, Physik, Geometrie und Rhetorik bekannt machen; und welche Wissenschaft er dann auch wählt, da einmal sein Verstand gebildet worden, so wird er davon bald Meister werden. Sein Unterricht werde ihm bald durch trauliche Gespräche, bald durch Bücher beigebracht. Zuweilen gebe ihm der Lehrer die Schriftsteller selbst in die Hände, die zu diesem Zwecke tauglich sind; zuweilen gebe er ihm daraus Saft und Mark ganz zubereitet. Sollte der Lehrer selbst nicht hinlängliche Bekanntschaft mit den Büchern haben, um die zu seiner Absicht dienlichen Stellen auffinden zu können, so muß man ihm einen Literator zugeben, der, so oft es nötig tut, die erforderliche Munition herbeischaffe, um solche seinem Zögling zuzuteilen. Und wer kann wohl daran zweifeln, ob diese Lehrart leichter sei als die Lehrart des Gaza? Diese gibt trockene, nahrlose Vorschriften und hohle Worte und leere Schalen ohne Kern, nichts, das dem Geist Nahrung gäbe; in unserer findet die Seele eine frische, gesunde Weide. Unsere Frucht ist bei weitem größer und gedeiht weit eher zur Reife.

Es ist seltsam, daß es in unserem Jahrhundert mit uns dahin gekommen, daß selbst bei Leuten von Verstand die Philosophie bis zu einem bedeutungsleeren Worte, ohne allen Nutzen, ohne allen Wert, weder in Meinung noch in Wirkung, herabgesunken ist. Ich glaube, die Ergos, die sich ihrer Zugänge bemächtigt haben, sind schuld daran. Man hat groß unrecht, sie den Kindern als unzugänglich vorzumalen und ihnen solche mit mürrischem, grämlichem und schreckendem Gesicht abzubilden. Wer hat sie in diese bleiche, runzlige Larve vermummt? Nichts ist heiterer, munterer, fröhlicher; fast möcht' ich sagen, scherzhafter! Sie predigt nichts als Frohsinn und Wohlleben. Trübe und finstere Mienen sind ein Zeichen, daß sie da nicht herbergt. Als Demetrius der Grammatiker im Tempel zu Delphos einen Haufen Philosophen beisammensitzen sah, sagte er: Entweder ich betrüge mich, oder euere so heiteren, friedlichen Gesichter sagen mir, daß ihr eben in keiner wichtigen Unterredung begriffen seid. – Worauf einer unter ihnen, Heracleon der Megarier, antwortete: Mögen diejenigen, welche untersuchen, ob das Futurum von βάλλω ein doppeltes λλ hat, oder welche die Abstammung der Komparative χειρον und βέλτιον oder der Superlative χείριστον und βέλτιστον ausfindig machen wollen, die Stirnen runzeln, wenn sie sich von ihrer Wissenschaft unterhalten; was aber die philosophischen Untersuchungen anlangt, so machen solche gewöhnlich diejenigen froh und munter, die sich damit abgeben, und nichts weniger als finster und mürrisch.

Deprendas animi tormenta latentis in aegro

Corpore; deprendas et gaudia: sumit utrumque

Inde habitum facies70.

Eine Seele, in welcher die Philosophie ihre Wohnung genommen hat, muß durch ihre Gesundheit auch ihren Körper gesund machen. Sie muß ihre Ruhe und ihr Wohlbehagen selbst von außen scheinen und leuchten lassen; muß das Betragen des Körpers nach dem ihrigen abmessen und es folglich mit einem angenehmen, festen Mute bewaffnen, mit lebhaften, frohen Bewegungen und mit einem zufriedenen und gefälligen Anstand. Der sicherste Stempel der Weisheit ist ein ununterbrochener Frohsinn: ihr Anblick ist wie der Luftraum über dem Monde, beständig heiter. Baroco und Baralipton aber machen ihre Leute so schmutzig und räucherig, nicht die Weisheit, denn die kennen sie nur aus Hörensagen. Wie? Ihr Geschäft ist, die Stürme in der Seele zu legen und Hunger und Fieber lachen zu lehren: nicht durch Täuschung und Vorspiegelung, sondern durch vernünftige, faßliche Gründe. Sie leitet gerade hin zur Tugend, die nicht, wie die Schule lehrt, auf der Spitze eines steilen, schroffen, unzugänglichen Berges gepflanzt ist. Diejenigen, welche bis zu ihr gelangt sind, sagen im Gegenteil, sie wohne in einer fruchtbaren, lieblichen Ebene, von daraus sie zwar alle Dinge in der Tiefe unter sich sieht, zu welcher man aber gleichwohl, wenn man richtige Anweisung hat, durch schattige, von Blumenduft umwehte, leicht sich hebende, eben gebahnte Wege (wie die Wege am Gewölbe des Himmels) gelangen kann. Weil sie keine Bekanntschaft mit dieser erhabenen Tugend gemacht haben, die so schön, so mächtig, so lieblich, so reizend und zugleich so mutvoll, eine offenbare und unversöhnliche Feindin alles Haders, alles Mißvergnügens, aller Furcht und alles Zwanges ist, deren Führer Natur, deren Begleiter Glück und Wonne sind, so haben sie in ihrer Schwachheit sich beigehen lassen, jenes dumme Bild, das so trübselig, zänkisch, hämisch, drohend und grinsend aussieht, zu formen und es auf einem abwärts gelegenen Felsen, zwischen Dornen und Hecken, als ein Scheusal aufzustellen, um die Menschen zu schrecken. Mein Edukator, welcher weiß, daß er den Willen seines Zöglings mit ebenso viel oder noch mehr Zuneigung zur Tugend als Ehrerbietung für sie anfüllen muß, wird ihm sagen, daß die Dichter dem Hange des großen Haufens folgen, und wird es ihm einleuchtend machen, daß die Götter den Steig zu den Lauben der Göttin Venus viel beschwerlicher gemacht haben als zum Tempel der Pallas, und wenn der Jüngling beginnt, sich zu fühlen, so wird er ihm Bradamante oder Angelika zu Gegenständen seiner verliebten Sehnsucht vorschlagen: die eine von ungekünstelter Schönheit, Munterkeit und erhabenem Geiste, zwar nicht von männlichem Wuchs, aber doch von männlicher Seele; auf Kosten einer zärtlichen Schönheit, die geziert ist und von erkünsteltem Reiz; die eine verkleidet als Jüngling im blanken Helm, die andere verkleidet als Buhlerin, den Haarschmuck mit Perlen durchflochten. Er wird des Zöglings Liebe selbst für männlich erkennen, wenn solcher gerade umgekehrt wählt als jener weibische, phrygische Schäfer. Er wird ihm diese neue Lehre beibringen, daß Preis und Würde der wahren Tugend in der Leichtigkeit, Nützlichkeit und Beharrlichkeit bei ihrer Ausübung besteht; so entfernt von aller Schwierigkeit, daß Kinder sowohl als Männer, die Einfältigen sowohl als die Klugen dazu die Fähigkeit haben. Sie wirkt mehr durch richtige Anwendung der Werkzeuge als durch Stärke. Sokrates, ihr vornehmster Liebling, entsagt wissentlich seiner Stärke, um desto behender und zwangloser in ihr weiterzukommen. Sie ist die Pflegerin menschlicher Freuden. Sie bestimmt ihr Maß und macht sie dadurch sicher und rein. Sie hält solche in ihren Grenzen und erhält sie dadurch frisch und von lieblichem Geschmack. Sie versagt uns solche, die sie uns verweigern muß, und schärft dadurch unser Verlangen nach jenen, die sie uns vergönnt; und vergönnt uns alle diese in reichem Maße, die die Natur uns nicht verbeut; wo nicht zum Überdruß, doch wie eine gütige Mutter bis zur Sättigung. Da wir doch auch wohl nicht sagen wollen, daß die Mäßigkeit, die dem Säufer vor dem Rausch, dem Fresser vor der Überladung des Magens, dem Wollüstling vor der Glatze noch Einhalt tut, eine Feindin unseres Vergnügens sei. Wenn das gemeine Glück ihr sauer sieht, entflieht sie seinem Dienst oder weiß sein zu entbehren und schmiedet eines, das ganz nach seinem Sinn und nicht wankend ist und unbeständig. Sie hat den Verstand dazu, reich zu sein und mächtig und auf weichen Polstern zu schlafen. Sie liebt das Leben, sie liebt die Schönheit, den Ruhm und die Gesundheit. Ihr eigentlicher und besonderer Dienst aber besteht darin, daß sie lehrt, diese Dinge zu gebrauchen und ohne Schmerz verlieren. Ein Dienst, der viel edler ist als beschwerlich, ohne welchen der ganze Lauf des Lebens Unnatur, Unheil und Unfügigkeit ist, dem man mit Recht Klippen, Dornen und Ungeheuer zuschreiben kann.

Sollte der Zögling von so sonderbarem Gemüt sein, daß er lieber ein Märchen als die Erzählung einer schönen Reise hören möchte oder sonst ein vergnügtes Gespräch, das nicht über seine Begriffe ginge; oder sollte er beim Schall der Trommel, die seine jungen Spießgesellen mit Mut anfüllt, auf den Ton einer anderen horchen, die zur Gaukelbude lockt; sollte er etwa nicht mehr Lust und Freude daran finden, bestaubt und als Sieger aus einem Gefecht als vom Tanz- oder Fechtboden mit den bei diesen Übungen gewöhnlichen Preisen zurückzukommen, nun, so weiß ich keinen besseren Rat, als man tu' ihn in irgendeiner Stadt zu einem Pastetenbäcker, und wär's auch der Sohn eines Grafen und Herrn, nach der Lehre des Plato, welcher will, man solle die Kinder nicht nach dem Vermögen ihrer Väter anstellen, sondern nach dem, was ihre eigenen Seelen vermögen.

Weil es die Philosophie ist, die uns lehrt, wie wir leben sollen, und sie auch der Jugend ebensowohl Lehren erteilt als dem Alter, warum macht man sie nicht mit ihr bekannt!

Are sens