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Usque adeo turbatur agris245 -,

sondern auch von zukünftigen. Die Lebenden hatten ihre Leiden, auch diejenigen, welche noch nicht geboren waren. Man stahl ihm, und folglich auch mir, alles bis auf die Hoffnung, indem man uns alles das nahm, wovon wir auf lange Jahre leben wollten:

Quae nequeunt secum ferre aut abducere, perdunt;

Et cremat insontes turba scelesta casas246.

Muris nulla fides, squalent populatibus agri247.

Außer diesem Stoß erlitt ich noch andre. Ich geriet in die Fährlichkeiten, welche in solchen Krankheiten die Mäßigung herbeizuführen pflegt Ich ward von allen Händen gezwickt. Den Gibellinen war ich ein Welf und den Welfen war ich ein Gibellin. Einer von meinen Dichtern drückt das sehr gut aus, ich weiß nur die Stelle nicht aufzufinden. Die Lage meines Hauses und die Bekanntschaft mit den Männern aus meiner Nachbarschaft stellten mich dar mit einem Gesicht; mein Leben und meine Handlungen mit einem anderen. Förmliche Anklagen kamen nicht vor; denn man fand nichts, worauf man hätte fußen können. Ich setze nie die Gesetze aus den Augen, und wer mich belangte, hätte seinen Mann an mir gefunden. Es waren heimliche Bezichtigungen, welche so unter der Hand herumliefen, denen es in einem solchen Wirrwarr niemals am Schein fehlt, sowenig wie an einfältigen oder neidischen Menschen. Ich pflege solchem leidigen Argwohn, welchen man gegen mich ausstreut, immer ein wenig zu Hilfe zu kommen, durch die Weise, die ich von Jugend auf an mir habe, mich niemals zu rechtfertigen, zu entschuldigen oder zu verteidigen; weil ich dafürhalte, ich träte meinem Gewissen zu nahe, wenn ich es vor Gericht verteidigte: Perpicuitas enim argumentatione elevatur248. Und gleichsam als ob ein jeder mich ebenso hell durchschaute als ich selbst, trete ich der Anschuldigung näher, anstatt sie von mir zu entfernen, und treibe sie fast noch höher durch ein ironisches, spöttelndes Bekenntnis. Es sei denn, daß ich kurz und gut schwiege als über eine Sache, die keiner Beantwortung wert ist. Aber diejenigen, welche das für ein zu stolzes Vertrauen erklären, wollen mir deswegen nicht weniger übel als diejenigen, welche es für die Schwachheit einer kranken Sache halten. Vorzüglich die Großen, bei welchen das Vergehen gegen die Untertänigkeit das ärgste Vergehen ist. Hart sind sie gegen alles, was anerkanntermaßen gerecht ist, sich fühlt und nicht kriechend, demütig und flehend erscheint. An diesem Pfeiler habe ich mir oft den Kopf zerstoßen. Soviel ist gewiß, daß sich ein Ehrgeiziger über Dinge, die mir begegnet sind, gehängt hätte, und ein Geldgeiziger ebensowohl. Ich verwende nicht die geringste Sorge aufs Reichwerden:

Sit mihi, quod nunc est, etiam minus; et mihi vivam

Quod superest aevi, si quid superesse volunt di249.

Aller Schaden und Verlust, welche mir durch die Bosheit anderer zugefügt werden, sei es Dieberei oder andere Gewalttätigkeit, tun mir weh wie einem Mann, der von der Krankheit des Geizes geplagt wird. Die Beleidigung tut mir ungleich weher als der Verlust. Tausend verschiedene Arten von Übeln fallen auf mich wie ein dicker Traufregen; ich hätte sie lieber als Schlagregen ertragen.

Ich dachte schon darauf, wem unter meinen Freunden ich mein dürftiges, verlassenes Alter anvertrauen könnte. Nachdem ich die Augen nach allen Seiten herumgerichtet hatte, sah ich mich im Kamisole ohne Ärmel. Um sich so aus der Höhe wie ein Stein herabzustürzen, muß man von starken, kräftigen und begüterten Armen aufgefangen werden. Aber wenn's auch dergleichen Arme gibt, so sind sie wenigstens selten. Kurz, ich lernte einsehen, das Sicherste wäre, mich auf mich selbst und auf meine eigenen dürftigen Kräfte zu verlassen; und wenn es mir begegnen sollte, daß mir das Glück eine kalte, schiefe Miene machte, müßte ich mich am dringendsten mir selbst empfehlen, mich an mich selbst heften, um mit eigenen Augen für mich zu sehen. Bei allen Gelegenheiten klammern sich die Menschen an fremde Stäbe, um ihre eigenen zu sparen, die doch allein gewiß sind und allein stark, wenn man sich ihrer nur zu bedienen weiß. Jedermann läuft aus seinem Hause fort und in die Zukunft hinein, weil hoch niemand daheim bei sich eingewohnt ist. Und ich überzeugte mich, daß es heilsame Widerwärtigkeiten gäbe: erstlich, weil man die Schüler mit dem Haselmeier aufmerksam machen muß, wenn bloße Vernunftgründe nicht hinreichen wollen, wie wir durch Feuer und Keile das krumme Holz geradebeugen. Ich predige mir schon seit langer Zeit, daß ich nur von mir abhänge und mich von fremden Dingen absondern müsse; und bei alledem schiele ich noch immer seitwärts. Das Wohlwollen, das günstige Wort eines Großen, eine freundliche Miene führen mich in Versuchung. Gott weiß, ob dergleichen in unseren Zeiten teure Ware ist und was für ein Sinn dahintersteckt! Ich höre noch, ohne daß ich deswegen die Stirn runzele, die glatten Worte, womit man mich bestechen will, um mich um Börsenpreis zu haben; und ich weigere mich so jungfräulich, daß es scheint, als ob ich nur ein bißchen genötigt sein wollte. Aber einen so ungelehrigen Geist muß man unter der Gerte halten, und ein Gefäß, das so zerlechzt ist, muß man mit Reifen umlegen und mit wackern Böttcherhämmern zusammentreiben, damit es nicht ferner riesele und spille. Zweitens dienen solche Zufälle mir als Übung, um mich auf etwas Ärgeres vorzubereiten, wenn ich etwa, da ich durch mein gutes Geschick und durch den Gehalt meiner Sitten einer der letzten zu sein hoffte, einer der ersten wäre, den das Schicksal an der Krause faßte. Darum muß ich beizeiten lernen, mein Leben zusammenzunehmen und es auf einen neuen Zustand bereitzuhalten. Die wahre Freiheit besteht darin, daß man alles über sich selbst vermag: Potentissimus est, qui se habet in potestate250.

In Alltags- und Schlendrianszeiten bereitet man sich auf mäßige und gemeine Zufälle. In diesem Wirrwarr aber, worin wir uns seit dreißig Jahren befinden, sieht sich ein jeder Franke, sei es für seine eigene Person oder sei es im Ganzen genommen, zu jeder Stunde und Minute auf dem Punkt, wo sein ganzes Glück über den Haufen fällt. Deshalb muß man darauf bedacht sein, seinem Herzen stärkere Stützen als Rohrstäbe in die Hände zu geben. Laß es uns dem Schicksal Dank wissen, daß es uns in eine Zeit versetzt hat, welche nichts weniger ist als weichlich, schmachtend oder untätig. Dabei wird es Menschen geben, die nur durch ihr Unglück berühmt werden und es sonst auf keine Art geworden wären. So wie ich selten in der Geschichte dergleichen Gewühle von anderen Städten lese, ohne zu bedauern, daß ich's nicht in der Nähe habe ansehen können, ebenso macht meine Neugier, daß ich mich gewissermaßen damit brüste, das sonderbare Schauspiel unseres Staatstodes, seine Anzeichen und seine Form als Zuschauer zu erleben. Da ich solchen doch nun einmal nicht hindern kann, so ist mir's lieb, dazu ausersehen zu sein, daß ich's mit ansehen und mich daran erbauen soll. So wie wir ganz erweislich suchen, selbst aus dem Schatten und der Fabel der Schaubühne ein Bild der tragischen Begebenheiten des menschlichen Schicksals zu beobachten. Wir sind nicht ohne Mitleid bei dem, was wir sehen und hören. Aber es macht uns doch angenehme Empfindungen, unser Mitleid durch die sonderbare Katastrophe aufgeregt und ins Spiel gesetzt zu sehen. Nichts kitzelt, was nicht die Haut kratzt. Die guten Historiker fliehen wie ein totes Meer und wie ein faules Wasser die ruhigen, schläfrigen Erzählungen, um wieder auf Aufruhr, Krieg und Pest zu kommen, wovon sie wissen, daß wir sie gern hören. Ich zweifle, ob ich mit Anstand gestehen darf, wie wenig Ruhe und Gemächlichkeit meines Lebens mir es kostet, mehr als die Hälfte desselben im Jammer und Elend meines Vaterlandes hingebracht zu haben. Meine Geduld ist fast ein wenig zu wohlfeil erkauft, in Ansehung der Zufälle, die mich selbst betreffen. Ehe ich mich selbst beklage, sehe ich nicht so sehr auf das, was man mir nimmt, als auf das, was man mir von innen und außen übrig läßt. Es ist eine Art von Trost dabei, bald das eine Übel, bald das andere, so wie sie uns überkommen, zu bestehen und zu sehen, wie sie sich über andere verbreiten. Ebenso geht's in dem, was das Allgemeine betrifft. In ebendem Maße, wie meine Teilnehmung mehr verbreitet wird, wird sie schwächer. Dazu kommt die halbe Wahrheit: tantum ex publicis malis sentimus, quantum ad privatas res pertinet251, und die Gesundheit, von der wir ausgingen, war von der Beschaffenheit, daß sie selbst das Bedauern mildert, welches wir über sie empfinden sollten. Es war Gesundheit, aber nur in Vergleichung mit der Krankheit, welche darauf erfolgte. Wir sind aus keiner großen Höhe herabgestürzt. Das Verderben und die Räuberei, welche in Amt und Würden stehen, scheinen mir das Unerträglichste zu sein. Man bestiehlt uns weniger kränkend in einem Wald als an einem sicheren Ort. Es war eine allgemeine Zusammensetzung von Gliedern, wovon eins noch krebsartiger war als das andere, und so verdorben, anbrüchig und voller alten Geschwüre, daß sie keine Genesung mehr hoffen konnten noch wünschten. Dieser Einsturz also belebte mich mehr, als er mich niederschlug. Mein Gewissen befand sich nicht nur friedlich und ruhig, sondern sogar stolz dabei, und ich empfand nichts, worüber ich mich selbst anzuklagen gehabt hätte. Also, wie Gott dem Menschen niemals mehr Übel zuschickt als reines Gutes, so habe ich mich in meiner Gesundheit zu jener Zeit mehr als gewöhnlich wohlbefunden; und wie ich ohne dieselbe nur wenig vermag, so gibt es wenig Dinge, die ich mit ihr nicht vermögen sollte. Sie gab mir Kräfte, alle meine Fähigkeiten zusammenzuraffen und die Hand an die Wunde zu legen, die sonst leicht größer hätte werden können, und ich erfuhr, daß ich in meiner Geduld etwas hätte, wodurch ich den Schlägen des Glückes widerstehen könnte, und daß eine große Kraft dazu gehörte, um mich aus dem Sattel zu werfen. Ich sage es nicht deswegen, um das Glück aufzureizen, seine Lanze mit mehr Nachdruck gegen mich anzulegen. Ich bin vielmehr sein gehorsamer Diener und biete ihm freundschaftlich die Hand. Laß es sich in Gottes Namen damit befriedigen, daß ich seine Stöße fühle! Laß es damit gut sein! So wie diejenigen, die sich von Traurigkeit übermannt fühlen, sich gleichwohl von Zeit zu Zeit durch ein kleines Vergnügen beschleichen und ein kleines Lächeln abgewinnen lassen, so vermag ich es auch über mich, meinen gewöhnlichen Zustand friedlich, ruhig und von kummervollen Gedan ken frei zu machen. Bei alledem aber überrasche ich doch zuweilen bei mir die Bisse solcher unangenehmen Gedanken, die mich derweile überstürmen, daß ich mich bewaffne, sie zu bekämpfen und zu verjagen.

Aber nun fügte sich noch ein anderes, bedeutenderes Übel als Zugabe zu den übrigen, und außer und in meinem Hause ward ich von einer Pest angegriffen, die im Vergleich mit allen übrigen sehr heftig war. Denn wie gesunde Körper den schwersten Krankheiten unterworfen sind, weil sie nur von diesen niedergeworfen werden können, so war auch die Luft meiner Gegend sehr gesund, und solange man denken konnte, hatte keine ansteckende Seuche, so nahe sie auch kam, Fuß fassen können. Da aber die Luft einmal angesteckt worden, tat sie ganz sonderbare Wirkungen.

Mixta senum et iuvenum densentur funera;

Nullum Saeva caput Proserpina fugit252.

Ich mußte die niederdrückende Lage erdulden, daß mir die Ansicht meines Hauses zum Scheusal wurde. Alles, was darin enthalten war, befand sich ohne alle Aufsicht und stand jedem zu Gebot, der dazu Lust hatte. Bei aller meiner Gastfreundschaft wurde es mir sehr schwer, einen Zufluchtsort zu finden für eine zerstreute Familie, die ihren Freunden und sich selbst Furcht und Schrecken einjagte, wo sie unterzukommen suchte und alsobald ihren Aufenthalt verändern mußte, wie nur einer von dem Haufen begann zu klagen, daß ihm eine Fingerspitze weh täte. Alle Krankheiten werden in solchen Zeiten für Pest gehalten, und man gibt sich nicht die Mühe, sie zu untersuchen. Das Hübsche dabei ist noch, daß man nach den Regeln der Kunst bei jeder Gefahr, der man sich nähert, vierzig Tage in Angst vor der Seuche leben muß, während welcher Zeit die Einbildung uns nach ihrer Weise behandelt und die Gesundheit selbst zum Fieber macht. Doch alles dieses hätte mir nicht so viel getan, hätte ich mich nicht um den Zustand und das Elend anderer zu bekümmern gehabt und hätte ich nicht sechs Monate lang jämmerlicherweise der Führer dieser Karawane sein müssen. Denn für mich habe ich mein Vorbeugungsmittel immer zur Hand. Es sind Mut, Entschlossenheit und Geduld. Ängstliche Erwartung, welche bei diesem Übel am schädlichsten gehalten wird, ist eben mein Fehler nicht. Hätte es mich allein betroffen, so würde ich es wie eine schnelle, weittragende Flucht betrachtet haben. Diese Todesart scheint mir keine der schlimmsten zu sein. Sie ist gewöhnlich kurz, betäubend, schmerzlos und hat den Trost, daß es ein allgemein eingerissenes Übel ist; sie verfährt ohne Zeremonien, ohne Trauer, ohne viel Umstehende. In Rücksicht aber auf die Nachbarn kann sich der hundertste Teil der Seelen kaum davor retten:

... videas desertaque regna

Pastorum, et longe saltus lateque vacantes253.

Mein bestes Einkommen besteht auf diesem Gut in Land und Feldbau, und die Arbeit von hundert Menschen ruht auf lange Zeit.

Aber was sahen wir damals für Beispiele von Entschlossenheit unter der Herzenseinfalt des ganzen Volkes! Durchgängig entsagte alles der Sorge für das Leben. Die Trauben blieben am Weinstock hängen, obgleich der Weinbau die hauptsächlichste Nahrung des Landes ist, alle durcheinander bereiteten sich auf den Tod, den sie heute abend oder morgen früh erwarteten, mit einer so wenig erschrockenen Miene und Stimme, daß es schien, als wären sie mit dieser Notwendigkeit völlig einverstanden und hielten solche für ein allgemeines, unvermeidliches Schicksal. Das ist der Tod nun freilich allemal. Aber an wie schwachen Fäden hängt der Entschluß zu sterben? Die Entfernung und der Abstand einiger Stunden, die bloße Betrachtung der Gesellschaft stellt uns den Tod unter verschiedenen Gestalten dar. Die Leute hier, weil sie innerhalb eines Monats Kinder, Jünglinge und Greise sterben sehen, stutzen nicht mehr, beweinen sich nicht mehr. Ich sah einige, welche sich fürchteten, zurückzubleiben, wie in einer fürchterlichen Einöde, und gewöhnlich hatte ich nichts anderes zu tun, als fürs Begraben zu sorgen. Es tat ihnen weh, die Leichen auf dem Felde herum zerstreut liegen zu sehen als eine Beute wilder Tiere, welche sich zusehends vermehrten. Wie sich doch die Phantasien der Menschen durchkreuzen! Die Neoriten, eine Nation, welche Alexander besiegte, werfen die Leichen ihrer Verstorbenen in den ersten besten Wald, um daselbst gefressen zu werden; und dieses hielten sie für die einzige glückliche Art des Begrabens. In unserer Gegend grub sich einer schon sein Grab, wenn er noch frisch und gesund war. Andere legten sich noch bei Leibesleben hinein, und einer von meinen Tagelöhnern kratzte mit Händen und Füßen im Sterben begriffen die Erde auf sich. Heißt das nicht die Bettvorhänge zuziehen, um desto ruhiger zu schlafen? Hat es nicht an Größe etwas Ähnliches mit der Tat der römischen Soldaten, die man nach der Schlacht bei Cannä fand, welche Löcher in die Erde gegraben, ihre Köpfe hineingesteckt und mit ihren Händen ausgegrabene Erde über sich geschüttet hatten, um darin zu ersticken? Kurz, eine ganze Nation ward innerhalb kurzer Zeit durch Gewohnheit zu einem Benehmen gebracht, welches an Festigkeit keiner kühnen Entschlossenheit etwas nachgibt, die mit aller möglichen Überlegung gefaßt werden könnte.

Die meisten Anweisungen der Gelehrsamkeit, um uns Herz zu machen, haben mehr Schein als Kraft und mehr Zierde als Nutzen. Wir haben die Natur verlassen und wollen sie nun ihre Lektion lehren. Die Natur, die uns so glücklich und sicher leitete. Unterdessen finden sich noch die Spuren ihrer Anweisung, und das wenige, welches durch die wohltätige Unwissenheit von ihrem Bilde übrig ist, drückt sich ab in dem Leben dieses bäurischen Haufens ungesitteter Menschen. Die Gelehrsamkeit ist genötigt, täglich davon zu borgen, um ihren Schülern Muster der Standhaftigkeit, der Unschuld und Beruhigung vorzulegen. Es ist ein schöner Anblick, zu sehen, wie diese hier, angefüllt mit so vielen schönen Kenntnissen, zur Nachahmung der dummen Einfalt ihre Zuflucht nehmen müssen, und zwar zur Nachahmung in der ersten Ausübung der Tugend. Unsere Weisheit muß sogar von den Tieren die nützlichsten Unterweisungen in den größten und notwendigsten Vorfallenheiten unsers Lebens erlernen: wie wir leben müssen und sterben, unser Vergnügen benutzen, unsere Kinder lieben und auferziehen und gegeneinander gerecht sein. Ein ganz sonderbarer Beweis von der menschlichen Schwachheit, wie auch davon, daß die Vernunft, welche wir unsererseits anwenden und welche beständig etwas anderes und Neues auffindet, bei uns keine sichtbare Spur der Natur übrig läßt. Die Menschen haben es damit gemacht wie die Verfertiger wohlriechender Öle; sie haben solche mit so vielen fremden Dingen versetzt und mit so vielen von außen entlehnten Gedanken, daß sie dadurch für einen jeden verändert und zu etwas ganz Eigenem geworden ist und ihre ursprüngliche, beständige und allgemeine Gestalt verloren hat. Wir müssen daher das Zeugnis der Tiere suchen, die keinem Vorurteil, keinem Verderben, keiner Verschiedenheit der Meinungen unterworfen sind. Denn es ist zwar wahr, daß selbst die Tiere nicht immer genau auf dem Wege der Natur wandeln, das wenige aber, was sie davon abweichen, ist so gering, daß man noch immer das Geleis wahrnehmen kann. Geradeso, wie die Pferde, welche man an der Hand führt, wohl Sprünge machen und seitwärts gehen, aber doch nicht weiter als die Leine reicht, und immer wenigstens dem Schritte desjenigen folgen, der sie führt; oder wie ein Falke seine Flucht nimmt, aber nie weiter kann, als ihm die Schnur gefeiert wird. Exsilia, tormenta, bella, morbos, naufragia meditare, ... ut nullo sis malo tiro254. Wozu dient uns die Emsigkeit, alle widerwärtigen Zufälle der menschlichen Natur im voraus zu studieren und uns mit so vieler Mühe selbst auf diejenigen vorzubereiten, die uns vielleicht nie begegnen werden? Parem passis tristitiam facit, pati posse255. Nicht nur vor der Kugel, sondern vor dem Winde und vor dem Dunst erschrecken wir. Oder wie der Fieberkranke; denn gewiß ist's ein Fieber, sich gleich die Stäupe geben zu lassen, weil es möglich, daß uns das Schicksal eines Tages solche fühlen läßt. Oder wie einer, der um Johanni die Wildschur umnehmen wollte, weil er solche um Weihnachten nötig haben würde! Macht Erfahrungen von allen Übeln, die euch begegnen können, besonders von den ärgsten, versucht euch darin, sagen andere, gewinnt darin Standhaftigkeit! Umgekehrt sage ich. Das leichteste und natürlichste wäre, sich solche sogar aus den Gedanken zu schlagen. Sie werden nicht sobald eintreten; ihr wahres Wesen dauert für uns nicht lange genug, wir müssen sie in unseren Gedanken ausdehnen und verlängern, schon vorderhand uns einverleiben und uns damit unterhalten. Gleichsam als ob sie unseren Sinnen nicht ohnehin schon beschwerlich genug wären. Sie werden genug drücken, wenn sie eintreten, sagt einer der Philosophen, nicht etwa von einer zarten Sekte, sondern von der härtesten. Bis dahin schmeichle dir! Glaube, was du am liebsten wünschest. Was hilft dir's, über künftigen Übeln zu brüten, über der Furcht des Zukünftigen das Gegenwärtige zu verlieren und gleich von Stund an elend zu sein, weil du es mit der Zeit werden sollst? So sind seine Worte. Die Wissenschaft leistet uns, traun, einen guten Dienst; daß sie uns genau von der Länge und Breite der Übel unterrichtet:

... Curis acuens mortalia corda256.

Von der Erfahrung.

Keine Begierde ist natürlicher als die Begierde nach Wissen. Wir bedienen uns aller Mittel, die uns dahin führen können. Wenn uns dabei die Vernunft fehlschlägt, so wenden wir uns an die Erfahrung -

Per varios usus artem experientia fecit,

Exemplo monstrante viam257 -,

welches ein weit schwächeres und schlechteres Mittel ist. Aber die Wahrheit ist eine so wichtige Sache, daß wir keine Vermittlerin derselben geringachten dürfen. Die Vernunft hat so viele Formen, daß wir nicht wissen, an welche wir uns halten sollen. Die Erfahrung hat deren nicht weniger. Die Folgerung, welche wir aus dem Zusammentreffen der Erscheinungen ziehen, ist unsicher, weil die Erscheinungen allemal verschieden sind. Nichts ist in den Verhältnissen der Dinge so durchgängig allgemein als Verschiedenheit und Veränderung. Die Griechen und Lateiner und auch wir kennen kein größeres Beispiel der Ähnlichkeit als das Ei. Gleichwohl haben sich Menschen gefunden, namentlich einer zu Delphi, welche unter den Eiern so verschiedene Abzeichen bemerkten, daß sie niemals eins mit dem anderen verwechselten. Und waren die Eier von verschiedenen Hühnern, so wußten sie zu bestimmen, welches Huhn dieses oder jenes Ei gelegt hatte. Die Ungleichheit mischt sich von selbst in unsere Werke. Noch hat keine Kunst bis zur völligen Gleichheit reichen können. Keine Fabrik, auch nicht Parrozets, kann ihre Karten von außen so sorgfältig glätten und weißen, daß nicht einige Spieler sie kennen sollten, indem sie solche in den Händen ihrer Mitspieler erblicken. Die Ähnlichkeit der Dinge ist bei weitem nicht so groß an einer Seite als die Unähnlichkeit an der anderen. Die Natur scheint sich anheischig gemacht zu haben, nichts Zweites hervorzubringen, das nicht von dem Ersten verschieden wäre.

Daher bin ich mit der Meinung desjenigen nicht zufrieden, welcher durch die Menge der Gesetze die Willkür der Richter zu binden trachtete, indem er ihnen jeden Bissen vorschnitt. Er bedachte nicht, daß das Feld der Auslegung ebenso frei und weitläufig ist als das Feld der Gesetzgebung. Und diejenigen können es wohl nicht ernsthaft meinen, welche glauben, dadurch unseren Gezänken und Auslegungen Ziel und Grenzen zu setzen, wenn sie uns an die Buchstaben der Bibel binden, weil unser Geist das Feld nicht weniger geräumig findet, wenn er die Meinung anderer bekämpft, als wenn er die seinige geltend macht. Die Auslegung gewährt ebenso viel Bitterkeit und Feindseligkeit als die Erfindung. Wir sehen deutlich, wie sehr ein solcher Gesetzhaufen sich betrügt. Denn wir haben in Frankreich mehr Gesetze als die ganze übrige Welt zusammengenommen, und mehr als für alle übrigen Welten des Epikur hinreichend wäre: ut olim flagitiis, sic nunc legibus laboramus258. Dennoch bleibt unseren Richtern so vieles zu überlegen und zu entscheiden, daß kein anderer so viele Freiheit und Willkür genießt. Was haben denn unsere Gesetzgeber dadurch gewonnen, daß sie hunderttausend Arten von besondern Tatsachen ausgewählt und darauf hunderttausend Gesetze angewendet haben? Diese Zahl hat nicht das geringste Verhältnis mit der unendlichen Verschiedenheit menschlicher Handlungen. Die Vervielfältigung unserer Erfindungen wird niemals an die Verschiedenheit der Beispiele reichen. Wenn man noch hundertmal soviel hinzutäte, so wird sich doch unter den zukünftigen Verkommenheiten schwerlich eine finden, die so genau auf einen einzigen unter den vielen tausend ausgewählten und eingetragenen Fällen paßt und ihm gleicht, daß nicht ein Umstand, nicht eine Verschiedenheit dabei stattfinden sollte, derentwegen auch der Urteilsspruch verschieden ausfallen muß. Unter unseren Handlungen gibt es wenige, welche einander ähnlich wären, weil sie in unaufhörlichen Abweichungen von den beständigen und unabänderlichen Gesetzen bestehen. Die beste Gesetzgebung ist die kürzeste, einfachste und allgemein umfassendste. Und noch glaube ich, wären wir besser dran, lieber keine Gesetze zu haben, als deren so viele zu besitzen wie wir.

Die Natur gibt uns immer bessere Gesetze, als wir erfinden. Das beweist die Schilderung, welche uns die Dichter vom Goldnen Zeitalter machen, und der Zustand der Völker, die keine andere gesetzliche Verfassung kennen. Es gibt deren, welche keinen Richter zur Schlichtung ihrer Streitigkeiten haben als den ersten besten Fremden, der ihr Gebirge entlangreist; und andere erwählen an ihren Markttagen jemanden unter sich, der auf der Stelle über ihre Rechtshändel entscheidet. Was für Gefahr wäre dabei, wenn die Weisesten unter uns ebenso die unsrigen, nach dem Augenmaß, ohne an Vorgänge und Folgerungen gebunden zu sein, abmachten? Jedem Fuße seinen eigensten Leisten. Als der spanische König Ferdinand Anpflanzer nach Indien schickte, traf er die weisliche Vorkehrung, daß kein Rechtsgelehrter mit hingehen durfte, weil er besorgte, daß sie auch die Prozesse in dieser neuen Welt vermehren möchten, indem diese Wissenschaft ihrer Natur nach eine Mutter des Zanks und der Uneinigkeit ist. Er hielt mit dem Plato dafür: Einem Lande sei mit Rechtsgelehrten und Ärzten übel gedient.

Woher kommt es, daß unsere Muttersprache, die zu allem übrigen Gebrauch so leicht und klar ist, bei Kontrakten und Testamenten dunkel und unverständlich wird und daß derjenige, der sich am klarsten ausdrückt, er mag sagen und schreiben was er will, sich niemals hierin so verständlich machen kann, daß nicht Zweifel und Widersprüche darüber entstehen sollten, wenn es nicht daran liegt, daß die Fürsten dieser Kunst sich mit ganz besonderer Aufmerksamkeit darauf legen, feierliche Ausdrücke zu gebrauchen und künstliche Klauseln zu schmieden, zu diesem Behufe aber jede Silbe auf der Goldwaage wägen, jede Naht und Zusammenfügung so genau besichtigen, daß sie sich unter einer solchen Unendlichkeit von bildlichen Ausdrücken und herrschenden Distinktionen dergestalt verwirren und verwickeln, daß man eines Leitfadens, einer Vorschrift und einer gewissen Kunde bedarf, um sich herauszufinden: Confusum est, quidquid usque in pulverem sectum est259. Wer Kindern zugesehen hat, welche eine Masse Quecksilber in eine gewisse Anzahl Körner oder Tropfen bringen wollten, der wird gesehen haben, daß, je mehr sie dieses unbesiegliche Metall drücken, quetschen und dessen Freiheit einschränken wollten, desto unfügsamer es unter ihren Händen ward. Es weicht ihrer Kunst aus, verdünnt und vertröpfelt sich in unzählbare Verteilung. So mit den Gesetzen. Je mehr man ihre Spitzfindigkeit verfeinert, desto mehr lehrt man die Menschen ihre Zweifel zu häufen. Man bringt uns in den Gang, die Schwierigkeiten zu vermehren und zu vervielfältigen. Man verlängert sie. Man dehnt sie aus. Indem man Fragen ausstreut und zerstückelt, läßt man Ungewißheit und Zank in der Welt Frucht tragen und in Samen schießen. So wird der Erdboden immer fruchtbarer, je tiefer man ihn umgräbt und je mehr man die Schollen zerreibt und verfeinert: Difficultatem facit doctrina260. Wir zweifelten über den Ulpian und zweifeln abermals über den Bartholus und Baldus. Man hätte die Spur aller dieser unzähligen Meinungen und Auslegungen vertilgen sollen, anstatt sich damit zu brüsten oder der Nachwelt den Kopf damit anzufüllen. Ich weiß nicht, was ich davon sagen soll; so viel ergibt die Erfahrung, daß so viele Auslegungen die Wahrheit zerstreuen und auflösen. Aristoteles schrieb, um verstanden zu werden. Konnte er es nicht dahin bringen, so wird es ein anderer, der minder geschickt ist und ein dritter noch weniger dahin bringen können als der, welcher seine eigene Meinung vortrug. Wir lösen die Materie auf und verspillen sie, indem wir zu viel Wasser aufgießen. Aus einem Gegenstand machen wir tausend und verfallen durch das Vermehren und Unterabteilen in die Unendlichkeit der epikureischen Atome. Noch niemals haben zwei Menschen über eine Sache völlig gleich geurteilt, und es ist unmöglich, zwei völlig ähnliche Meinungen zu finden, nicht nur bei zwei verschiedenen Menschen, sondern bei einem und demselben Menschen, nur zu verschiedenen Stunden. Gewöhnlicherweise finde ich Zweifel, welche der Kommentar nicht beliebt hat zu berühren. Ich stolpere am leichtesten auf ebener Erde, wie gewisse Pferde, die ich kenne, welche auf geschlagenem Wege am öftesten anstoßen.

Wer sollte nicht sagen, daß durch die Glossen Zweifel und Unwissenheit vermehrt werden, da es kein göttliches oder menschliches Buch gibt, welches die Welt liest und gern verstehen möchte, das durch Auslegungen und Erklärungen leichter und faßlicher geworden wäre! Der hundertste Kommentator verweist auf seinen Nachfolger, der den Knoten verwickelter und schwieriger macht, als man ihn bei dem ersten gefunden hatte. Wann werden wir einmal eingestehen: dieses Buch hat der Ausleger genug, es ist nichts mehr darüber zu sagen? Noch auffallender findet sich dieses bei Rechtsstreitigkeiten. Einer unendlichen Menge Rechtslehrer räumt man das Ansehen der Gesetze ein, desgleichen einer unendlichen Menge Rechtssprüche und Auslegungen. Finden wir deswegen des Bedürfnisses des Auslegens wohl ein Ende? Kommen wir dadurch dem ruhigen Einverständnisse etwas näher? Ist die Anzahl unserer Advokaten und Richter geringer, und kann sie es sein, als damals, da die Masse des Rechts noch in ihrer Kindheit war? Es hat sich wohl. Wir verfinstern und begraben vielmehr das Verständnis. Wir können solches nicht finden als hinter einer Menge von Pfählungen und Schlagbäumen. Die Menschen verkennen die natürliche Krankheit unseres Geistes. Er tut nichts als spüren und suchen, kommt ohne Unterlaß von der Fährte, baut und verwickelt sich in seinem eigenen Werke, wie unsere Seidenwürmer, und erstickt sich darin: Mus in pice261. Er meint in der Ferne Wunder was für eine eingebildete Klarheit und Wahrheit zu entdecken, und während er danach rennt, stoßen ihm solche Schwierigkeiten, Dunkelheiten und neue Fragen auf, daß er sich dadurch verwirrt und berauscht. Nicht weit anders geht es ihm, als des Aesop Hunden, welche einen toten Körper im Meer entdeckten und weil sie nicht daran kommen konnten, es unternahmen, das Wasser auszusaufen und sich einen Weg auszutrocknen, worüber sie zerplatzten. Darauf geht auch das, was Sokrates von den Schriften des Heraklit sagt: »Es gehört ein guter Schwimmer dazu, sie zu lesen, damit ihre Tiefe und Schwere ihn nicht verschlinge und ersäufe.« Es ist nichts als Schwäche, die uns mit demjenigen, was andere oder wir selbst in dieser Jagd nach Wissen entdeckt haben, zufriedenstellt. Einer, der heller sieht, wird sich damit nicht zufriedenstellen. Der Nachfolger, ja wir selbst, entdecken immer neue Wege. Unser Forschen hat niemals ein Ende. Unser Ende liegt in der anderen Welt. Es ist ein Zeichen der Eingeschränktheit unseres Geistes oder der Ermüdung, wenn er sich zufriedengibt. Kein wackerer Geist steht von selbst still. Er begehrt immer mehr und geht über seine Kräfte hinaus. Er strebt nach unerreichbaren Höhen. Wenn er sich nicht weiterhebt, nachdringt und durchwindet, anstößt und schnell umlenkt, so ist er nur zur Hälfte lebendig. Sein Forschen und Streben ist ohne Ziel und Maß, seine Nahrung ist Bewunderung und Jagd ins Weite. Das gab Apollo hinlänglich zu verstehen, indem er mit uns Menschen immer doppelsinnig, dunkel und verschroben sprach, und nicht sättigte, sondern unterhielt und beschäftigte. Es ist ein unordentliches, unaufhörliches Streben ohne Muster und ohne Zweck. Die Gedanken des Menschen erhitzen sich, jagen hintereinander her und erzeugen sich einer den anderen:

So sieht man einen Bach dahin sich gießen,

und eine Welle nach der anderen fließen.

Und all in ihrer Reih und all in ew'gem Zug

schlägt eine nach, wie eine vor ihr schlug:

Von der wird jene angeregt,

die eine andre fortbewegt.

So gehet Wog' in Wog', und immer bleibt der Bach,

nur andre Wogen fließen und andre kommen nach262.

Es kostet mehr, die Auslegung auszulegen als die Sache selbst, und es gibt mehr Bücher über Bücher als über irgendeinen anderen Gegenstand. Wir machen nichts als Anmerkungen übereinander. Alles wimmelt von Kommentaren. An Originalautoren ist großer Mangel. Die vornehmste und berühmteste Wissenschaft unserer Zeit besteht darin, die Wissenschaft zu verstehen? Das ist der größte und letzte Zweck alles unseres Studierens? Unsere Meinungen werden eine auf die andere gepfropft. Die erste dient der zweiten zum Wildlinge, die zweite der dritten. Auf diese Weise klettern wir die Leiter hinauf von Sprosse zu Sprosse. Daher kommt es, daß der am höchsten Gestiegene oft mehr Ehre hat als Verdienst, denn er ist nur um ein Getreidekorn höher, auf den Schultern des Vorletztgestiegenen. Wie oft und vielleicht wie einfältig habe ich mein Buch von sich selbst sprechen gehört! Einfältig, wenn auch bloß deswegen, daß ich mich hätte erinnern sollen, was ich von anderen sage, welche desgleichen tun! Daß die häufigen Zurückblicke auf ihre Werke davon zeugen, wie ihnen das Herz von Autorliebe klopft, und daß selbst die hochfahrende verächtliche Strenge, womit sie solches züchtigen, weiter nichts ist als Ziererei und angenommene Miene, wohinter sie die mütterliche Zärtlichkeit verstecken wollen, wie schon Aristoteles bemerkt, daß Eigenlob und Eigentadel oft Kinder gleichen Hochmutes sind. Denn meine Entschuldigung, daß ich hierin mehr Freiheit haben müsse als andre, weil ich ja ausdrücklich über mich selbst schreibe und meiner Schriften wie meiner anderen Handlungen erwähnen muß, und daß mein Thema sich mit sich selbst beschäftigt, wird mir wohl nicht jedermann zustatten kommen lassen.

Ich habe in Deutschland gesehen, daß Luther ebenso viel und mehr Streit und Zank über den richtigen Verstand seiner Meinungen hinterlassen hat, als er selbst über die Heilige Schrift erregte. Unser Mißverständnis beruht auf Worten. Ich frage: Was ist Natur, Wollust, Zirkel und Substitution? Die Frage ist von Worten und wird mit Worten berichtigt. Ein Stein ist ein Körper. Fragt man weiter: Was ist ein Körper? Eine Substanz. Und was ist Substanz? So läßt sich immer weiter fragen, bis endlich der Erklärer sein ganzes Wörterbuch ausgekramt hätte. Man vertauscht ein Wort gegen das andere und oft ein unbekanntes gegen ein bekanntes. Ich weiß besser, was ein Mensch, als was ein sterbliches, aber vernünftiges Tier ist. Um einen meiner Zweifel aufzulösen, werfen sie mir drei andre vor. Das ist das Haupt der Hyder. Sokrates fragte den Menon263: »Was ist die Tugend?« »Es gibt«, antwortete Menon, »eine Tugend des Mannes und des Weibes, des Magistrats und des einzelnen Bürgers, des Kindes und des Greises.« »Bravo!« rief Sokrates. »Wir wollten eine Tugend suchen, und du gibst uns einen ganzen Schwarm.« Wir werfen eine Frage auf, und man gibt uns einen ganzen Bienenkorb voll zurück. So wie keine Begebenheit und keine Form völlig der anderen gleich ist, so ist auch keine der anderen völlig ungleich. Ein sehr weises Gemisch der Natur. Wenn unsere Gesichter einander nicht ähnelten, so könnte man den Menschen nicht vom Tiere unterscheiden; wenn sie nicht voneinander unterschieden wären, könnte man einen Menschen von dem anderen nicht auskennen. Alle Dinge halten durch irgendeine Ähnlichkeit aneinander. Jedes Gleichnis hinkt. Und die Beziehung, welche man aus der Erfahrung herleitet, ist immer schwach und unvollkommen. Indessen knüpft immer die Vergleichung dieses oder jenes Ende zusammen. So macht man es mit den Gesetzen. Man wendet sie auf jede Sache an, durch irgendeine weithergesuchte, gezwungene und gedrehte Erklärung.

Weil die moralischen Gesetze, welche Bezug auf die besonderen Pflichten eines jeden Menschen für sich selbst haben, so schwer festzusetzen sind, wie wir erfahren, so ist es kein Wunder, wenn es diejenigen, nach welchen sich so viele gegeneinander richten sollen, noch mehr sind. Man betrachte nur die Form der Gerechtigkeit, welche über uns waltet. Ist sie nicht ein klarer Beweis von der menschlichen Verstandesschwäche? So viel Widerspruch und Irrtümer findet man darin! Alles, was wir Günstiges und Strenges in unserer Rechtspflege finden (und dessen findet sich darin so viel, daß ich nicht weiß, ob sich ebensooft ein Mittelweg zwischen beiden findet), das sind kranke Teile und ungerechte Gliedmaßen des wirklichen Körpers und Wesens der Gerechtigkeit. Da kommen Bauern, mir in aller Eile zu berichten, daß sie in einem Wald, der mir gehört, einen Menschen liegen gefunden, dem man hundert Stiche gegeben, der noch lebt und der sie um aller Barmherzigkeit willen gebeten hat, ihm etwas Wasser zu reichen und ihm zu helfen sich aufzurichten. Sie sagen dabei, sie hätten gefürchtet, sich ihm zu nähern, und seien davongelaufen, damit sie nicht von Gerichtsdienern überrascht werden möchten und, wenn sie bei einem erschlagenen Menschen angetroffen würden, wie zu geschehen pflegt, in Verhaft und zur Antwort gezogen würden, welches ihr größtes Unglück gewesen wäre, weil sie weder Geschicklichkeit noch Geld hätten, ihre Unschuld zu verteidigen. Was sollte ich ihnen sagen? So viel ist gewiß, diese Pflicht der Menschlichkeit hätte sie in große Verlegenheit gesetzt.

Von wieviel Unschuldigen hat sich's nicht nachher ergeben, daß sie Strafe erlitten, und zwar ohne alle Schuld der Richter? Und mit wie vielen mag das nicht der Fall sein, von denen wir solches nicht erfahren haben? Folgendes geschah zu meiner Zeit. Gewisse Menschen wurden wegen eines Mordes zum Tode verdammt. Das Urteil ward, wo nicht gesprochen, doch wenigstens beschlossen und angegeben. Gerade um diese Zeit erfuhren die Richter von einer anderen benachbarten niedern Gerichtsbarkeit, daß solche einige Verbrecher eingezogen habe, welche sich zu jenem Mord frei bekannten und über die ganze Sache ein unbezweifelbares Licht verbreiteten. Man ging darauf zu Rate, ob man gleichwohl die Vollziehung des Urteils über die ersten aufschieben dürfte? Man erwog die Neuheit des Beispiels und was es für Folgen haben könne, künftige Urteilssprüche zu verzögern; die Verurteilung sei doch nach aller Form Rechtens geschehen und die Richter hätten sich nichts vorzuwerfen. Kurz, jene armen Schlucker wurden den Formeln der Rechtspflege aufgeopfert. Philipp oder ein anderer beugte dergleichen Unfällen folgendermaßen vor. Er hatte durch einen gefällten Spruch einen Menschen verurteilt, einem anderen eine große Geldbuße zu bezahlen. Einige Zeit nachher entdeckte sich die Wahrheit, daß er ungerecht gerichtet hatte. Auf einer Seite stand die gute Sache, auf der anderen die gerichtliche Form. Er befriedigte allerdings beide, indem er den Spruch gültig bleiben ließ und aus seinem Beutel den Verurteilten schadlos hielt. Aber in diesem Falle war Ersatz möglich. Meine armen Teufel hingegen wurden unwiderruflich gehängt. Wie viele Urteile habe ich erlebt, die weit sträflicher waren als das Verbrechen! Alles dieses erinnert mich an jene Meinung der Alten: man sei gezwungen, alles einzeln abzutun, wenn man im Ganzen recht verfahren, und im Kleinen Unrecht zu begehen, wenn man das Recht im Großen handhaben wolle. Die menschliche Justizpflege sei nach dem Muster der Arzneikunde gebildet, vermöge dessen alles, was nützlich ist, auch gerecht und billig wird. So lehren die Stoiker: Die Natur verstoße sich in den meisten ihrer Werke gegen die Gerechtigkeit. So lehren die Cyrenaiker: Nichts sei an und für sich gerecht, nur Gewohnheit und Gesetze erschüfen das Recht. Die Theodorier meinen: Diebstahl, Kirchenraub und alle Arten von Sünden des Fleisches seien für den Weisen kein Unrecht, wenn er überzeugt wäre, daß sie ihm zum Nutzen gereichten. Ich kann mir nicht helfen. Ich denke hierin wie Alcibiades, daß ich mich niemals, solange ich es vermeiden kann, dem Mann in die Hände liefern werde, welcher über mein Leben absprechen kann, vor welchem meine Ehre und meine Güter mehr von der Kunst und Tätigkeit meines Sachwalters als von meiner Unschuld abhängen. Ich würde einem Gerichtshof mehr trauen, welcher ebensowohl über Guttun als über Mißtun erkennt; wo ich ebenso viel zu hoffen als zu fürchten hätte. Straflosigkeit ist keine hinlängliche Zahlung für einen Menschen, der besser tut als nicht sündigen. Unsere Gerechtigkeitspflege reicht uns nur eine von ihren Händen dar, und obendrein die linke. Man sei, wer man wolle, ohne Verlust kommt man von ihr nicht ab.

In China, einem Reich, dessen Einrichtungen und Künste, ohne daß es Umgang mit uns hätte und ohne daß es die unsrigen kennte, uns gleichwohl in manchen Stücken bei weitem übertreffen und dessen Geschichte mich belehrt, wieviel die Welt größer und mannigfaltiger ist, als weder die Alten noch wir begriffen haben, schickt der Kaiser Reichsbediente in die Provinzen, um den Zustand derselben zu untersuchen. Diese Beamten, wie sie diejenigen strafen, welche sich in ihren Stellen schlecht betragen, belohnen sie auch freigebig diejenigen, welche sich gut betragen und mehr geleistet haben, als sie nach ihren Zwangspflichten schuldig sind. Vor diese Deputierten stellt man sich, nicht bloß um sich zu verteidigen, sondern um zu gewinnen, nicht bloß um bezahlt, sondern auch von ihnen beschenkt zu werden.

Noch hat, Gott sei Dank, kein Richter mit mir als Richter gesprochen, in keiner gerichtlichen Angelegenheit, weder meiner eigenen noch eines Fremden, weder in einer Kriminal- noch Zivilsache. Noch bin ich in keinem Gefängnis gewesen, nicht einmal um es zu besehen. Meine Einbildung macht mir den bloßen Anblick desselben schon von außen unangenehm. Mir ist meine Freiheit so notwendig, daß, wenn mir jemand verböte, ich sollte mich irgendeinem kleinen Winkel in Ostindien nicht nahen, ich dadurch gewissermaßen ein trauriges Leben führen würde; und solange ich noch ein Plätzchen Erde oder freie Luft anderwärts finde, werde ich an keinem Ort schmachten, wo ich mich verbergen müßte. Mein Gott, wie unerträglich würde mir der Zustand sein, worin ich so viele Leute sehe, welche in einen Teil dieses Königreichs gebannt sind, denen der Eingang in die Hauptstädte und Hofstellen und das Befahren öffentlicher Heerstraßen verboten worden, weil sie unseren Gesetzen nicht gehorsam waren. Wenn diejenigen Gesetze, unter denen ich lebe, mir nur mit der Spitze des kleinen Fingers drohten, den Augenblick ginge ich hin, um unter anderen zu stehen, es möchte auch sein, wo es wollte. Alle meine wenige Klugheit bei diesen bürgerlichen Kriegen, worin wir uns befinden, wende ich dahin an, daß sie mir die Freiheit, zu gehen und zu kommen, wie ich will, nicht unterbrechen mögen.

Nun erhalten sich aber die Gesetze in Ansehen, nicht weil sie gerecht sind, sondern weil sie Gesetze sind. Das ist der mystische Grund ihres Ansehens. Einen anderen haben sie nicht, worauf sie ruhten. Sehr oft rühren sie her von Dummköpfen; öfters von Leuten, die, weil sie die Gleichheit hassen, auch keine Billigkeit kennen; aber immer von Menschen, welche eitel und unzuverlässig sind. Schwerlich wird man etwas so Gröbliches und schwer Fehlerhaftes sehen, als die Gesetze gewöhnlich sind. Wer ihnen nur darum gehorchen wollte, weil sie gerecht wären, würde ihnen nicht wegen seiner Pflicht gehorchen. Unsere französischen Gesetze bieten gewissermaßen der Unordnung und der Bestechung, welche bei der Anwendung und Ausübung stattfinden, die Hand. Ihre Gebote sind so dunkel und unsicher, daß sie einigermaßen den Ungehorsam und die fehlerhafte Auslegung, Anwendung und Ausübung entschuldigen. Worin also der Nutzen bestehen mag, den wir aus der Erfahrung ziehen können, so wird uns derjenige, den wir aus fremden Beispielen herleiten, wenig zustatten kommen, da wir uns durch uns selbst sogar nicht frommen, wie es uns doch geläufig sein und hinreichen sollte, uns von allem zu unterrichten, dessen wir bedürfen. Ich studiere mich selbst mehr als jeden anderen Gegenstand. Ich bin meine Metaphysik und Physik:

Qua Deus hanc mundi temperet arte domum;

Qua venit exoriens, qua deficit, unde coactis

Cornibus in plenum menstrua luna redit;

Unde salo superant venti, quid flamine captet

Eurus, et in nubes unde perennis aqua;

Are sens