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In der Philosophie gibt es falsche und unhaltbare Regeln. Das Beispiel, welches man uns vorlegt, um den persönlichen Vorteil wichtiger zu machen als die gegebene Zusage, erhält von den Umständen, unter welchen man den Fall voraussetzt, nicht Gewicht genug. Räuber haben uns gefangen, in Freiheit gesetzt und einen Eid abgenommen, ihnen eine gewisse Summe zu bezahlen. Man hat unrecht, zu sagen, daß ein ehrlicher Mann seinen Eid nicht zu halten und das Geld nicht zu bezahlen brauche, wenn er ihren Händen entgangen ist. Das ist falsch. Das, was die Furcht mich einmal hat wollen lassen, bin ich gehalten, auch ohne Furcht zu wollen, und hätte die Furcht auch nur meine Zunge gezwungen, ohne den Willen, so bin ich dennoch gehalten, meinen Worten treu zu sein. Was mich betrifft, wenn zuweilen meine Zunge unüberlegterweise früher gesprochen, als ich gedacht hatte, habe ich mir dennoch immer ein Gewissen daraus gemacht, sie Lügen zu strafen. Sonst würden wir nach und nach dahin geraten, alle Rechte zu vernichten, die ein Dritter aus unseren Versprechungen erhält. Quasi vero forti viro vis possit adhiberi180.

In einem einzigen Punkt hat das persönliche Interesse das Gesetz für sich, und wir können uns mit gutem Gewissen berechtigt halten, unsere Zusage zu brechen, wenn wir nämlich etwas, das an sich unrecht und schädlich ist, versprochen haben. Denn das Recht der Tugend geht dem Rechte unserer Verbindlichkeit vor.

Oben habe ich den Epaminondas auf die höchste Stufe vortrefflicher Menschen gesetzt, und nehme mein Wort nicht zurück. Bis wie weit kam bei ihm die Erwägung seiner eigenen Pflichten in Anschlag? Niemals tötete er einen Menschen, den er überwunden hatte. Nicht einmal des unschätzbaren Gutes wegen, seinem Vaterland die Freiheit wieder zu schaffen, konnte er es über sein Gewissen bringen, einen Tyrannen oder seine Helfershelfer ohne vorgängige gerichtliche Untersuchung zu töten, und hielt denjenigen für einen schlechten Menschen, so ein guter Bürger derselbe übrigens auch sein mochte, der unter seinen Feinden und selbst in der Feldschlacht seinen Freund oder nur Gastfreund nicht verschonte. Er hatte wirklich eine höchst vortreffliche Seele. Er vereinigte mit den härtesten, gewaltsamsten Handlungen der Menschheit Güte und Menschenfreundlichkeit, ja die allersanfteste, die man nur in der Schule der Philosophen lernen kann. War es Natur oder Kunst, welche diesen so großen Mut, der sich gegen Schmerz, Tod und Armut so mächtig steifte, bis zu dem Grade einer außerordentlichen Sanftheit und Gutherzigkeit abschliff? Fürchterlich durch Stahl und Blut beugte und demütigte er eine Nation, welche jedem unüberwindlich war, nur ihm nicht, und ließ mitten in dem Getümmel solcher Schlacht seine Freunde und Gastfreunde unversehrt davonkommen. Traun, der schickt sich wohl am besten zum Führer des Krieges, der solchem das Gebiß der Sanftmut im Augenblick seiner größten Hitze ins Maul legen kann, so erhitzt er auch sei und so sehr er vor Wut und Blutdurst schäumen mag. Es ist höchst selten, mit dergleichen Handlungen nur einigen Schein von Gerechtigkeit verbinden zu können; aber allein der Unbiegsamkeit des Epaminondas war es möglich, Sanftheit und Leichtigkeit der weichsten Sitten und der reinsten Unschuld damit zu verbinden. Pompejus sagte zu den Mamertinern, daß Statuten gegen bewaffnete Menschen keine Gültigkeit hätten, Cäsar zu einem Tribun des Volks, daß die Zeiten der Gerechtigkeit und die Zeiten des Krieges ganz verschieden wären, Marius, das Geräusch der Waffen hindre ihn, die Stimme des Gesetzes zu vernehmen; Epaminondas aber ward nicht einmal verhindert, die Stimme der Höflichkeit und Gesittetheit zu vernehmen. Borgte er nicht von seinen Feinden den Gebrauch, den Musen zu opfern, wenn er in den Krieg zog, um durch ihre holde Sanftmut die Heftigkeit und Wut des Krieges zu mildern? Laßt uns nach einem so großen Lehrer nicht fürchten, die Meinung zu gestehen, daß man sich gewisse Dinge selbst gegen den Feind nicht erlauben dürfe; daß das gemeinsame Interesse nicht alles von allen gegen das persönliche Interesse verlangen dürfe - Manente memoria, etiam in dissidio publicorum foederum, privati juris181, Et nulla potentia vires Praestandi, ne quid peccet amicus, habet182-; und daß einem Biedermann weder für den Dienst seines Königs noch für das allgemeine Beste und die Gesetze gleich alles erlaubt sei. Non enim patria praestat omnibus officiis, ... et ipsi conducit pios habere cives in parentes183. Es ist eine Lehrvorschrift zu rechter Zeit. Wir brauchen unsere Herzen nicht durch eiserne Klingen zu verhärten; genug, wenn unsere Schultern nur eisern sind, genug, daß wir unsere Federn in Tinte tunken, wozu soll das Schreiben mit Blut? Wenn es Größe des Mutes ist und Wirkung einer sonderbar ausgezeichneten, seltenen Tapferkeit, die Freundschaft zu verachten, seiner geselligen Verhältnisse, Verwandten und Zusagen wegen des allgemeinen Bestens und des Gehorsams gegen die Obrigkeit zu vergessen, so kann es uns wahrhaftig schon hinlänglich entschuldigen, wenn wir nach dieser Größe nicht sehr lüstern sind, daß sie sich mit dem Mut des Epaminondas nicht vertragen konnte. Ich verabscheue das wütende Aufhetzen jener anderen schändlichen Seele:

... Dum tela micant, non vos pietatis imago

Ulla, nec adversa conspecti fronte parentes

Commoveant; vultus gladio turbate verendos184.

Laß uns den ruchlosen, blutgierigen und falschen Gemütern diesen Vorwand des Rechts benehmen! Fort mit dem ungeheuren Rechte, das an sich selbst nagt, und halten wir uns an menschlichere Nachbildungen. Wieviel vermögen nicht Zeit und Beispiele! In einem Scharmützel während des bürgerlichen Krieges gegen den Cinna hatte ein Soldat des Pompejus, ohne es zu wollen, seinen Bruder getötet, der sich in der Gegenpartei befand, und erstach sich selbst auf der Stelle vor Scham und Reue. Einige Jahre nachher, während eines anderen bürgerlichen Krieges unter demselben Volk, begehrte ein anderer Soldat von seinen Anführern eine Belohnung dafür, daß er seinen Bruder getötet habe.

Man urteilt nicht richtig von der Schönheit und Rühmlichkeit einer Tat, wenn man bloß auf ihren Nutzen Rücksicht nimmt, und es ist ein Fehlschluß, wenn man meint, wenn eine Tat nur nützlich sei, so sei gleich jedermann dazu verpflichtet, und sei sie für jedermann ehrlich:

Omnia non pariter rerum sunt omnibus apta185.

Wir wollen die notwendigste und nützlichste Verbindung des geselligen Lebens zum Beispiel nehmen, das ist der Ehestand. Gleichwohl hat man im Rat der Heiligen das Gegenteil ausgemacht! Hält den ehelosen Stand für ehrlicher und untersagt den Ehestand der ehrwürdigsten Klasse von Männern, gerade als ob wir in unseren Stutereien nur die schlechtesten Hengste zu Beschälern aufstellen wollten.

Über die Nachteile, welche mit Hoheit und Größe verknüpft sind.

Weil sie uns nicht ins Maul fallen will, so wollen wir uns durch Nackenschläge rächen, und doch heißt es nicht ganz und gar eine Sache afterreden, wenn man Mängel und Fehler daran findet. Die finden sich an allen Dingen, sie mögen noch so schön und bewundernswürdig sein. Überhaupt genommen haben Hoheit und Größe diesen sichtlichen Vorzug, daß sie sich herablassen, wenn es ihnen gefällt, und so ziemlich die Wahl haben, hoch oder niedrig zu stehen. Denn man fällt nicht von jeder Höhe herab; es gibt deren, von welchen man herabsteigen kann, ohne zu fallen. Wohl deucht es mich, daß wir ihr einen zu großen Wert beilegen und auch die Entschlossenheit derjenigen überhoch schätzen, von welchen wir gesehen und gehört haben, daß sie die Hoheit verachtet oder sich derselben freiwillig begeben haben. Das Wesen der Hoheit bringt ersichtlicherweise so vielen Vorteil nicht, daß man derselben ohne Wunder nicht entsagen könnte. Ich finde es viel schwerer, das Unglück zu ertragen. Mit einem Mittelmaß von Glück hingegen zufrieden zu sein und Größe und Hoheit zu fliehen, daran sehe ich nichts Schwieriges. Das ist eine Tugend, deucht mich, zu der ich, ob ich gleich nur ein Gimpel bin, mich ohne große Anstrengung hinaufschwingen könnte. Was sollten es nicht diejenigen, welche noch den Ruhm in Anschlag bringen, der mit dieser Entbehrung verbunden ist, und vielleicht mehr Ehrgeiz besitzen als Verlangen und Empfindung nach Größe und Empfänglichkeit für ihren Genuß? Umso mehr, da der Ehrgeiz mit seinen Begierden gern auf Schleifwegen einhergeht.

Ich stärke Herz und Sinn zur Geduld und schwäche sie gegen ihre Begierden. Mir bleibt ebenso viel zu wünschen übrig als einem anderen, und ich lasse meinen Wünschen ebenso viel Freiheit und Unbesonnenheit. Bei alledem ist mir's noch niemals eingefallen, mir Reiche und Kronen zu wünschen noch die Höhe der Herrscherstellen. So vornehme Dinge mir zu wünschen, dazu hab' ich mich zu lieb. Wenn ich denke, zu wachsen, so geht es immer im niedrigen Wachstum, unter Messer und Schere, dergleichen sich für mich schickt, an Entschlossenheit, an Klugheit, an Gesundheit, an Schönheit und auch wohl an Reichtum. Aber das hohe Ansehen und die mächtige Größe erdrücken meine Einbildungskraft. Und als Cäsars Widerspiel würde ich lieber der Zweite oder Dritte in meiner Provinz als der Erste in der Hauptstadt sein; und gewiß und wahrhaftig wäre ich lieber der Dritte als der Erste an Amt und Würden in Paris. Ich mag nicht so arm und unbekannt sein, daß ich mich mit dem Schweizer an der Tür herumkabeln müßte noch mir durch das dicke Gedränge, welches Verehrung um mich sammelt, den Weg öffnen lassen. Die Mittelstraße, auf welche mein Schicksal mich versetzt, ist ganz nach meinem Geschmack. Auch bewies ich durch meine Aufführung, daß ich nicht sowohl suchte als vielmehr vermied, über die Stufen des Glücks hinwegzuschreiten, auf welche der liebe Gott mich durch meine Geburt versetzte. Alle natürliche Verfassung ist an sich gleich gerecht und leicht. So habe ich eine etwas träge Seele und messe das gute Glück nicht nach seiner Höhe, sondern nach der Leichtigkeit, mit welcher ich es erreichen kann.

Aber, bin ich auch nicht hochherzig, so bin ich doch offenen Herzens, und es befiehlt mir, seine Schwachheit dreist bekanntzumachen. Wenn ich eine Vergleichung anstellen sollte zwischen dem Leben des L. Thorius Balbus, eines biedern, schönen, gelehrten, gesunden Mannes, dem alle Arbeiten von Genuß und Vergnügen reichlich zu Gebote standen, der ein ruhiges unabhängiges Leben führte, dessen Seele fest war gegen Tod, gegen Aberglauben, gegen Schmerzen und was sonst noch für Sorgen des Lebens sein mögen, der endlich in einer Schlacht, mit den Waffen in der Hand, zur Verteidigung seines Vaterlandes starb, und dem Leben des Marcus Regulus, groß und herrlich und weltkundig wie sein treffliches Ende, das erste ohne Namen und Würde, das andere exemplarisch und in höchstem Grade berühmt: so würde ich gewiß wie Cicero darüber sprechen, wenn ich mich ebensogut auszudrücken verstünde. Sollte ich aber eine Anwendung davon auf mein eigenes Leben machen, so würde ich auch sagen, das erste sei ebenso sehr meinen Wünschen und Fähigkeiten gemäß, weil ich meine Wünsche nach meinen Fähigkeiten einschränke, wie das zweite weit über dieselben hinaus; an dieses zweite reicht nur meine Bewunderung, jenes erste möchte meine Nachahmung gern erreichen.

Kehren wir wieder zu unserer zeitlichen Größe zurück, von welcher wir ausgingen. Ich bin des Befehlens und Gehorchens müde. Otanes, einer der Sieben, welche recht hatten, auf das Persische Reich Anspruch zu machen, ergriff eine Maßregel, die ich auch gern ergriffen hätte. Er überließ seinen Mitwerbern sein Recht, dazu durch Wahl oder durchs Los zu gelangen, mit dem Bedinge, daß er und die Seinigen in diesem Reich ohne alle Unterwürfigkeit und Herrlichkeit leben könnten, ausgenommen gegen die alten Gesetze, und jede Freiheit genießen sollten, welche diesen nicht widerspräche. Er mochte ebenso wenig befehlen, als unter Befehlen stehen.

Das sauerste und schwerste Handwerk der Welt ist nach meiner Meinung die würdige Verwaltung des Königtums. Ich entschuldige an einem König viel mehr Fehler, als man gewöhnlich zu tun pflegt, wenn ich die ungeheure Last seiner Pflichten erwäge, vor der ich erschrecke. Es ist schwer, bei einer so ungemessenen Gewalt das rechte Maß zu halten. Gleichwohl ist es selbst für solche Personen, deren Herz und Geist nicht von der höchsten Vortrefflichkeit sind, ein sonderbarer Reiz zur Tugend, auf einen Platz gestellt zu sein, woselbst man keine edle Handlung ausübt, die nicht in Rechnung gebracht werde und auf welchem jede, auch die geringste Wohltat auf so viele Menschen Einfluß hat; wo Geschicklichkeit im Benehmen, wie bei den Predigern, hauptsächlich an das Volk gerichtet ist, an einen Richter, der es nicht sehr genau nimmt, der leicht zu täuschen und leicht zu befriedigen ist. Es gibt wenige Dinge, die wir ganz richtig beurteilen können, weil es wenige gibt, an welchen wir nicht auf eine oder die andere Weise einen persönlichen Anteil nehmen. Das Herrschen und das Gehorchen, die Herrlichkeit und die Untertänigkeit sind zu gegenseitiger Eifersucht und Widerspenstigkeit verbunden; sie müssen sich beständig einander beengen. Ich glaube keiner von beiden, wenn sie mir die Rechte der anderen erklären will. Laß die Vernunft darüber sprechen, welche unparteiisch und unbestechbar ist, wenn wir es nur dahinbringen können, ihre Stimme zu vernehmen. Es ist noch keinen Monat her, als ich zwei Werke von Schottländern durchblätterte, die sich über diesen Gegenstand zankten. Der Volksfreund setzt den König tiefer herab als einen Kärrner; der Königsfreund erhebt ihn an Gewalt und Machtvollkommenheit einige Klafter hoch über die Gottheit.

Die Beschwerlichkeit der Größe aber, welche ich wegen einiger Veranlassungen, die mir kürzlich darüber aufstiegen, hier zu bemerken mir vorgesetzt habe, besteht in folgendem. In dem Umgang mit Menschen ist vielleicht nichts lustiger anzuschauen als der Eifer um Ehre und Tapferkeit, womit wir in Leibes-oder Geistesübungen einer dem anderen zuvoreifern. Daran nimmt die Fürstengröße niemals wahren Anteil. In der Tat ist es mir oft vorgekommen, als behandle man dabei aus übergroßem Respekt die Prinzen niedrig und verächtlich. Denn was mich in meiner Kindheit unendlich verdroß, daß meine Gegner nie Ernst aus der Sache machten, weil sie mich für unwürdig hielten, ihre Kräfte gegen mich anzuwenden, das widerfährt den Fürsten alle Tage, weil sich jedermann für unwürdig hält, sich mit ihnen zu messen. Wenn man es ihnen nur im geringsten anmerkt, daß sie in irgendeiner Sache gern den Vorzug haben möchten, so beeifert sich gleich jedermann, ihnen solchen zu lassen, und schlägt lieber seinen eigenen Ruhm in die Schanze, als daß er ihnen den ihrigen nicht ganz lassen sollte. Man beut gegen sie gerade nur so viel Kraft auf, als nötig ist, sie mit Ehren gewinnen zu lassen. Welchen Anteil haben sie an einem Gefecht, wo jedermann für sie ficht? Mich deucht, ich sehe die Ritter der Vorwelt mit bezauberten Leibern und Waffen zum Ringen und Fechten in die Schranken treten. Crisson, der mit dem Alexander um die Wette lief, ließ ihn mit Fleiß überwinden. Alexander schalt ihn darüber; aber er hätte ihn dafür sollen geißeln lassen. In dieser Hinsicht sagte Carneades: Fürstenkinder lernen nichts gründlich als Pferde behandeln; denn in allen anderen Übungen gibt jeder ihnen nach und gewonnen. Ein Pferd aber, welches weder ein Schmeichler noch Hofschranz ist, wirft den Sohn eines Königs ebensogut ab als den Sohn eines Karrenschiebers.

Homer hat sich genötigt gesehen, die Venus, eine so zarte, süße Heilige, im Kampf vor Troja verwundet werden zu lassen, um ihren Mut und ihre Dreistigkeit preisen zu können; Eigenschaften, die niemandem zukommen, der von aller Gefahr befreit ist. Man stellt die Götter vor, wie sie sich erzürnen, fürchten, fliehen, eifersüchtig sind, wehklagen, etwas heftig wünschen und hitzig werden, um sie mit den Tugenden zu beehren, welche unter uns aus diesen Unvollkommenheiten entspringen. Wer nicht teil an der Beschwerlichkeit und dem Wagnis nimmt, kann auch keinen Teil an der Ehre und dem Vergnügen nehmen, welche auf gewagte Handlungen erfolgen. Es ist ein Elend, so allvermögend zu sein, daß sich gleich jedes Ding nach seinem Willen fügt. Der Stand der Großen entfernt sie zu weit von aller Geselligkeit und Gesellschaft und stellt sie zu sehr allein. Diese sogar mühelose Leichtigkeit, alles unter seinen Willen zu beugen, ist eine Feindin aller Arten von Vergnügen. Das heißt fortgleiten, aber nicht gehen, schlafen, aber nicht leben. Man stelle sich einen Menschen vor, der mit Allmacht begabt wäre; er wäre dadurch höchst unglücklich. Er wird gedrungen werden, um Hindernisse und Widerstand wie um Almosen zu bitten. Sein Wesen und sein Vermögen besteht in Dürftigkeit. Die guten Eigenschaften der Fürsten sind erstorben und verloren; denn man erkennt jene nicht als durch Vergleichung, und diese sind über alle Vergleichungen hinaus. Sie haben nur wenige Kunst vom Lobe, weil sie mit beständigem und gleichförmigem wahrem Beifall betäubt werden. Haben sie mit dem Dümmsten ihrer Untertanen zu schaffen, so haben sie nicht die geringste Gelegenheit, sich einen Vorteil über ihn zuzuschreiben; denn wenn er sagt: »Es ist ja mein Herr«, so meint er damit zur Genüge gesagt zu haben, daß er selbst die Hand dazu geboten, sich überwinden zu lassen. Diese Eigenschaft erstickt und vernichtet alle anderen wahren und wesentlichen Eigenschaften; sie sind alle im Königtum vergraben, und man läßt ihnen, um sich eigenen Wert zu geben, nichts übrig als Handlungen, die sich unmittelbar auf sie selbst beziehen und ihnen zu den Verrichtungen ihres königlichen Amtes behilflich sind. Sie sind so sehr Könige, daß sie weiter nichts als Könige sind. Dieser fremde Schein, welcher sie umringt, verbirgt sie und entzieht sie unserm Gesicht. Unser Blick wird durch dieses grelle Licht gebrochen und verstreut. Der Senat sprach dem Tiberius den Preis der Beredsamkeit zu. Dieser schlug ihn aus, weil er dafür hielt, ein so wenig freies Urteil, wenn er es auch verdient hätte, könne ihm keine Ehre machen.

So wie man ihnen alle Vorzüge der Ehre einräumt, so bestärkt und bestätigt man sie auch in allen Fehlern und Lastern, die sie an sich haben, nicht bloß durch Beifall, sondern auch durch Nachahmung. Alexanders ganzes Gefolge trug den Hals schief wie er. Die Schmeichler des Dionysius traten sich in seiner Gegenwart auf die Füße, stießen sich an die Köpfe und warfen alles um, was ihnen vor die Füße kam, um dadurch anzudeuten, sie hätten alle ein ebenso kurzes Gesicht als er. Auch Bruchbänder haben zuweilen zu fürstlichen Gnaden und Gunsten empfohlen. Und weil der Herr seine Gemahlin haßte, so erlebte Plutarch, daß die Hofschranzen den ihrigen, die sie liebten, den Scheidebrief gaben. Was noch mehr ist, der Ehebruch hat seine Zeit gehabt, wo er, wie alle übrigen Liederlichkeiten, in Ehren und Ansehen stand. Desgleichen Falschheit, Gotteslästerung, Grausamkeit, Ketzerei, Aberglauben und Unglauben, Weichlichkeit und noch schlimmere Laster, wenn es schlimmere Laster gibt. Noch gefährlicher war dieses Beispiel als das der Schmeichler des Mithridates, die, weil ihr Herr auf die Ehre Anspruch machte, ein guter Arzt zu sein, sich von ihm schneiden und brennen ließen; denn jene ließen ihre Seelen schneiden und brennen, welche doch ein edlerer und zarterer Teil ist. Aber um zu enden wie ich anfing: Als der Kaiser Adrian mit dem Philosophen Favorinus über die Erklärung eines Worts stritt, gab ihm Favorinus ziemlich bald recht. Seine Freunde beschwerten sich darüber: »Was wollt ihr denn«, antwortete der, »sollte er nicht gelehrter sein als ich? Er hat dreißig Legionen zu seinem Befehl.« Augustus schrieb Verse gegen den Asinius Pollio. »Ich«, sagte Pollio, »lasse das wohl bleiben. Es wäre nicht klüglich, gegen den zu schreiben, der meine Acht unterschreiben kann.« Die Leute hatten beide recht. Als Dionysius dem Philoxenus in der Dichtkunst und dem Plato in der Wohlredenheit nicht gleichkommen konnte, schickte er jenen in die Steinbrüche und ließ diesen als Sklaven auf der Insel Ägina verkaufen.

Man muß seinen Willen beschränken.

Im Vergleich mit gewöhnlichen Menschen rühren mich wenige Dinge, oder um besser zu sagen, fesseln mich wenige. Denn es ist ganz recht, sich von ihnen rühren zu lassen, wenn sie uns nur nicht besitzen. Ich tue mein möglichstes, dieses schon von Natur bei mir ziemlich große Privilegium der Unempfindlichkeit durch Studieren und Nachdenken zu vergrößern. Gar selten will ich daher etwas mit Wärme und bin auf wenig Dinge leidenschaftlich erpicht. Mein Gesicht ist hell, aber ich hefte es auf wenige Gegenstände. Mein Sinn ist zart und weich; meine Fassungskraft aber und ihre Anwendung ist hart und spröde. Es hält hart, ehe ich mich zu etwas verbinde. Soviel ich kann, beziehe ich gern alles auf mich selbst, und selbst hierin möchte ich gern meine Neigung zügeln und im Zaum halten, um nicht von ihr fortgerissen zu werden. Denn am Ende kann ich diese Neigung nicht anders als durch Vergünstigung anderer befriedigen, und das Glück hat darüber ein größeres Recht als ich selbst. Dergestalt, daß selbst in Ansehung der Gesundheit, auf welche ich einen so hohen Wert setze, es mir wohl nötig wäre, sie nicht so heftig zu wünschen und so ängstlich darauf bedacht zu sein, daß ich die Krankheiten unerträglich finde. Man muß in dem Hasse widriger und der Liebe zu angenehmen Empfindungen. Mäßigung beobachten. Auch schreibt Plato einen Mittelweg unter beiden vor.

Was aber solche Empfindungen anbelangt, die mich zerstreuen und an andere heften, so widersetze ich mich ihnen gewiß aus allen Kräften. Meine Meinung ist, man müsse sich anderen Menschen borgen und nur sich selbst zum Eigentum geben. Ich könnte es nicht ausstehen, wenn mein Wille und meine Zuneigung sich so leicht verpfänden und anweisen ließen. Ich bin von Natur und durch Gewohnheit zu weichlich:

Fugax rerum, securaque in otia natus186.

Ein Ringen, wobei ich starken, steifen Widerstand fände, der zuletzt meine Gegner obsiegen machte, ein Ausgang, welcher mein warmes Streben mit Schande überhäufte, würden mein Herz wahrscheinlich bitter nagen. Wenn ich mich so leicht anließe wie andere, so würde meine Seele niemals die Stärke haben, die Unruhen und Gemütsbewegungen zu ertragen, welche denjenigen auf dem Fuße folgen, die sich mit vielerlei Dingen abgeben. Sie würde alsbald durch solche innerliche Bewegungen verrenken. Brachte man mich zuweilen dahin, fremde Geschäfte zu betreiben, so versprach ich solche in die Hände zu nehmen, aber nicht in Lunge und Leber; mich damit zu beladen, nicht, sie mir einzuverleiben; allerdings dafür zu sorgen, aber nicht mich dafür in Feuer und Flammen zu setzen. Ich gab darauf Achtung, aber ich brütete nicht darüber. Ich habe genug damit zu tun, den innern Drang, der mir so nahe in meinen Adern liegt, zu leiten und zu ordnen, ohne fremden Drang auf mich zu nehmen, unter welchem ich erliegen würde, und bin ich schon geplagt genug mit meinen wesentlichen eigenen und natürlichen Angelegenheiten, ohne fremde von den Gassen und Zäunen hereinzurufen. Wer da weiß, wieviel er sich selbst schuldig, zu wieviel Pflichten er gegen sich verbunden ist, findet, daß die Natur ihm einen hinlänglich schweren Auftrag gegeben hat, der keinen Müßiggänger voraussetzt. Du hast reichlich zu schaffen in deinem eigenen Hause, entferne dich von demselben nicht. Die Menschen vermieten sich. Ihre Kräfte dienen nicht ihnen selbst, sondern denjenigen, denen sie sich zu Knechten machen. Ihre Mietsherren wohnen daheim, sie sind in fremden Häusern. Diese gewöhnliche Stimmung gefällt mir nicht. Wir müssen mit der Freiheit! unserer Seele bedächtiglich umgehen und sie niemals verpfänden als bei gerechten Veranlassungen. Und die sind gar nicht häufig, wenn wir sie richtig beurteilen. Man sehe nur die Leute, die so gelehrig sind, sich einnehmen und hinreißen zu lassen, die sind allezeit fertig, zu kleinen Dingen wie zu großen, bei solchen, die sie nichts angehen, wie bei solchen, die sie betreffen. Sie mischen sich ohne Unterschied in alles, wo es nur etwas zu tun gibt, und sind wie ohne Leben, wenn sie ohne unruhige Bewegung sind. In negotiis sunt, negotii causa187. Sie suchen Geschäfte, um geschäftig zu sein. Das geschieht nicht sowohl deswegen, weil sie gehen wollen, sondern weil sie sich nicht ruhig halten können; nicht mehr und nicht weniger, wie ein von der Höhe herabgewälzter Stein sich solange fortbewegt, bis er die Tiefe erreicht hat. Beschäftigung ist für eine gewisse Art Leute ein Zeichen der Geschicklichkeit und Würde. Ihr Geist sucht Ruhe in der Schaukel wie die Kinder in der Wiege. Sie können sich rühmen, gegen ihre Freunde ebenso dienstfertig als sich selbst überlästig zu sein. Niemand verteilt sein Geld unter andere, jedermann seine Zeit und sein Leben. Mit nichts in der Welt sind wir so verschwenderisch als mit diesen Dingen, womit allein zu geizen nützlich und löblich wäre. Ich denke hierin ganz verschieden. Ich lebe in mich selbst gekehrt, wünsche gewöhnlich nur schwach, was ich wünsche, und wünsche wenig. So beschäftige und verwende ich mich auch selten und gleichmütig. Alles, was andre wollen und lenken, wollen sie mit Heftigkeit und Gewalt. Es gibt auf dem Wege des menschlichen Lebens der schlimmen Stellen so viel, daß man um größerer Sicherheit willen nur leicht und oberflächlich auftreten muß; daß es besser ist, hinüberzugleiten als einzusinken. Die Wollust selbst ist schmerzhaft in ihrer Tiefe:

Incedis per ignes Suppositos cineri doloso188.

Der Rat von Bordeaux erwählte mich zum Maire seiner Stadt, als ich fern von Frankreich und noch ferner von solchen Gedanken war. Ich verbat es. Man belehrte mich aber, daß ich unrecht habe, und der Befehl des Königs kam hinzu. Es ist ein Amt, das umso herrlicher scheinen muß, weil dabei kein anderer Gehalt oder Gewinn ist als die Ehre der Verwaltung. Es dauert zwei Jahr, kann aber durch eine neue Wahl verlängert werden, was jedoch selten geschieht. Bei mir geschah es und war vorher nur zweimal geschehen. Vor einigen Jahren dem Herrn de Lansac und neuerdings dem Herrn von Biron, Marschall von Frankreich, an dessen Stelle ich kam. Mir folgte Herr von Matignon, gleichfalls Marschall von Frankreich. Ich war ganz ruhmselig über eine solche edle Genossenschaft.

Uterque bonus pacis bellique minister189.

Das Glück wollte durch diesen sonderbaren Umstand, den es selbst veranlaßte und der gar nicht unbedeutend war, teil an meiner Erhebung nehmen. Denn Alexander wies die Gesandten von Korinth, die ihm die Bürgerschaft ihrer Stadt antrugen, verächtlich ab; als sie ihm aber vorstellten, auch Bacchus und Herkules ständen auf ihrer Rolle, nahm er das Anerbieten mit freundlichem Dank an.

Bei meiner Ankunft gab ich mich treu und gewissenhaft, so wie ich mich fühle und wie ich bin, zu erkennen, ohne Gedächtnis, ohne wachsamen Fleiß, ohne Erfahrung und ohne starke Tätigkeit, so auch ohne Haß, ohne Ehrsucht, ohne Geldgeiz und ohne Gewalttätigkeit; damit die Bürger richtig unterrichtet wären und wüßten, was sie von meiner Anführung zu erwarten hätten. Und weil die Kenntnis von meinem seligen Vater und sein ehrenvolles Andenken sie allein zu diesem Schritt gebracht hatte, so fügte ich mit klaren Worten hinzu, daß es mir sehr leid tun sollte, wenn irgend etwas einen so starken Eindruck auf meinen Willen machte, als ehedem ihre Angelegenheiten und ihre Stadt auf den seinigen gemacht hätten, während er solche in ebender Stelle, wozu sie mich berufen, regierte. Ich erinnerte mich, ihn in meiner Kindheit als einen alten Mann gesehen zu haben, dessen Seele gar sehr durch die öffentlichen Geschäfte hin und her getrieben wurde; der die sanfte Luft seines Hauses vergaß, wo ihn die Schwäche seiner Jahre schon lange Zeit vorher hingeheftet hatte; der seiner Haushaltung vergaß und seiner Gesundheit und gewiß sein Leben nicht achtete, das er in ihrem Dienst auf langen und mühsamen Reisen beinahe verloren hätte. Aber so war er, und diese Art zu denken entstand bei ihm aus einer großen natürlichen Güte des Herzens. Ich habe niemals eine liebreichere, menschenfreundlichere Seele gekannt. Diese Art zu handeln und zu leben, die ich an einem anderen rühme und preise, mag ich selbst nicht gern befolgen, und bin darüber nicht ohne Entschuldigung. Er hatte sagen gehört, man müsse sein Selbst dem Nächsten zuliebe vergessen, und das Einzelne komme gegen das Ganze in keine Betrachtung.

Der größte Teil aller Regeln und Vorschriften der Welt nimmt diese Wendung, um uns aus unserer Ruhe, auf öffentliche Stellen, zum Dienst der bürgerlichen Gesellschaft zu treiben. Sie meinen, was Rechtes getan zu haben, wenn sie uns von uns selbst abwendig machen und zerstreuen, in der Voraussetzung, daß wir nur zu fest an uns selbst hielten, durch ein zu natürliches Band, und haben nichts versäumt, was zu diesem Behuf gesagt werden konnte. Denn es ist für die Weisen nichts Neues, die Dinge so zu predigen, wie sie nützlich, nicht wie sie eigentlich an und für sich sind. Die Wahrheit hat bei uns ihre Hindernisse, ihre Beschwerden und ihre Unvertragsamkeit. Wollen wir uns nicht oft betrügen, so müssen wir oft betrügen, die Augen verbinden und unseren Verstand betäuben, um solche zu berichtigen und zu verbessern. Imperiti enim judicant, et qui frequenter in hoc ipsum fallendi sunt, ne errent190. Wenn sie uns vorschreiben, drei, vier, fünfzig Rangordnungen von Dingen lieber zu haben als uns selbst, so ahmen sie die Kunst der Bogenschützen nach, welche, um einen gewissen Punkt zu erreichen, weit über die vorgesetzte Grenze wegzielen. Wer ein krummes Stück Holz gerademachen will, biegt es nach der gegenseitigen Richtung.

Ich bin der Meinung, man habe im Tempel der Pallas, so wie bei allen übrigen Religionen, äußerliche anscheinende Mysterien gehabt, die man dem Volke zeigte, und andere geheimere und erhabenere Mysterien, welche nur den Eingeweihten kund gemacht wurden. Es ist wahrscheinlich, daß in diesen auch der eigentliche wahre Punkt der Freundschaft angegeben war, die man sich selbst schuldig ist; nicht jener falschen Freundschaft, welche uns den Ruhm, die Gelehrsamkeit, den Reichtum und dergleichen Dinge wie Glieder unseres Wesens mit übermäßiger, unbegrenzter Selbstliebe umfassen läßt; noch einer schwachen, törichten Freundschaft, wobei es geht wie bei dem Efeu, der die Wände verdirbt, an welche er sich heftet, sondern einer heilsamen, vernünftigen Freundschaft, die gleich nützlich und angenehm ist. Wer ihre Pflichten kennt und ausübt, hat wirklichen Sitz im Rat der Musen, hat die Spitze der menschlichen Weisheit und unserer Glückseligkeit erstiegen. Dieser, weil er genau weiß, was er sich selbst schuldig ist, findet in seiner Rolle, daß er den Gebrauch anderer Menschen und der Welt auf sich anwenden muß, und um das zu können, der öffentlichen Gesellschaft die Dienste und Pflichten zu leisten hat, die ihm obliegen. Wer ganz und gar nicht für andere lebt, lebt nur für sich. Qui sibi amicus est, scito hunc amicum omnibus esse191. Die hauptsächlichste Pflicht, welche wir auf uns haben, besteht darin, daß ein jeder sich wohl betrage. Darum sind wir hier. So wie derjenige, welcher vergäße, selbst wohl und heilig zu leben und damit seine Schuldigkeit getan zu haben glaubte, wenn er andere dahin wiese und führte, ein Narr wäre, ebenso schlägt derjenige, nach meiner Meinung, einen ganz falschen Weg ein, welcher versäumt, für sich selbst ruhig und glücklich zu leben und sein Leben nur zum Dienst anderer verwendet.

Ich will damit nicht, daß man den Ämtern, welche man übernimmt, Aufmerksamkeit, Mühwaltung, Worte und Schweiß, ja selbst im Notfall sein Blut versagen soll:

Non ipse pro caris amicis,

Aut patria, timidus perire192.

Aber es muß nur zufälliger- und erborgterweise geschehn, so daß der Geist ruhig und kräftig bleibt, nicht untätig, jedoch ohne Verdruß und Leidenschaftlichkeit. Tätigkeit an sich selbst kostet dem Geist so wenig, daß er sogar im Schlaf tätig ist. Aber man muß ihn mit Behutsamkeit in Tätigkeit setzen, denn der Körper trägt die Lasten mit, die man dem Geist auflegt, gerade nach ihrem Gewicht. Der Geist vergrößert und erschwert solche oft auf seine Kosten, indem er solche nach eigenem Gefallen ausdehnt. Man verrichtet ähnliche Dinge mit verschiedener Anstrengung und verschiedener Willensäußerung. Eins tun und das andre nicht lassen. Wie viele Menschen wagen sich nicht täglich in Kriege, die sie nichts angehen, und laufen und ringen nach den Gefahren der Schlachten, deren Verlust ihnen den nächsten Schlaf nicht beunruhigen wird? Ein anderer ist in seinem Hause außer aller Gefahr, die er nicht einmal mit anzusehen gewagt hätte, viel heftiger besorgt über den Ausgang dieses Krieges, und beunruhigt seine Seele weit mehr damit als der Soldat, welcher darin Leib und Leben wagt. Ich habe mich mit öffentlichen Ämtern befaßt, ohne mich darüber selbst nur einen Nagel breit aus dem Gesicht zu verlieren, und mich anderen geben können, ohne mich mir selbst zu nehmen. Lebhaftigkeit und Heftigkeit des Verlangens hindert die Ausführung dessen, was wir übernehmen, mehr, als es solche befördert. Es erfüllt uns mit Ungeduld nach dem Ausgang, der entweder widrig sein oder sich verzögern kann, und mit Bitterkeit und Argwohn gegen diejenigen, mit welchen wir zu tun haben. Wir führen niemals eine Sache wohl, welche uns ängstlich im Kopfe liegt und treibt:

Male cuncta ministrat Impetus193.

Wer dabei nichts anwendet als kalten Verstand und Geschicklichkeit, kommt weit leichter zurecht. Er verstellt sich, biegt ein, gibt nach mit Leichtigkeit, so wie es die Gelegenheit verlangt. Er harrt, ohne sich zu quälen, ohne sich zu betrüben, und ist fertig und bereit zu einem neuen Unternehmen. Ein solcher Mann hält immer den Zügel fest in der Hand. Der hingegen, welchen die Heftigkeit und Gewalt seiner Absicht berauscht, begeht notwendigerweise viel Unbesonnenheit und Ungerechtigkeit. Die Gewalt seines Verlangens reißt ihn fort. Es sind gewagte Bewegungen, die, wenn das Glück nicht viel dabei tut, nichts fruchten. Die Philosophie verlangt, daß wir bei Bestrafung der empfangenen Beleidigung allen Zorn beiseite setzen. Nicht damit die Rache geringer sei, sondern vielmehr im Gegenteil treffender und wichtiger, welches nach ihrer Meinung durch Heftigkeit vermindert würde. Nicht nur macht der Zorn, daß wir dunkel sehen, sondern, an sich selbst schon, ermüdet er die Arme desjenigen, welcher straft. Sein Feuer lähmt und verzehrt alle Kraft. So ergeht es auch der Übereilung. Festinatio tarda est194. Die Eile schlägt sich selbst ein Bein unter, verwickelt sich und hält sich auf. Ipsa se velocitas implicat195. Zum Beispiel, nach allem was ich aus der Erfahrung sehe, hat der Geiz keinen größeren Widersacher als sich selbst. Je angestrengter und heftiger er arbeitet, je unfruchtbarer ist er. Gewöhnlicherweise häuft er viel schneller Reichtümer zusammen, wenn er sich hinter das Bild der Freigebigkeit versteckt.

Ein gewisser von Adel, ein sehr redlicher Mann und mein Freund, hätte sich fast den Kopf durch eine zu leidenschaftliche Anstrengung und Tätigkeit in Geschäften eines Prinzen, seines Herrn, verwirrt. Sein Herr schilderte sich selbst gegen mich auf folgende Art: »Ich sehe die Wichtigkeit der Ereignisse so gut wie ein anderer; bei solchen aber, denen nicht mehr zu helfen ist, entschließe ich mich auf der Stelle, sie geduldig zu leiden. Gegen andre treffe ich die nötigen Vorkehrungen, welches ich vermöge der Lebhaftigkeit meines Geistes auf der Stelle tun kann, und erwarte sodann in Ruhe, was daraus werden mag.« In der Tat habe ich ihn auch so befunden, daß er bei wichtigen und sehr verwickelten Dingen eine große Sorglosigkeit und Freiheit im Handeln und in Gebärden behauptet. Ich finde ihn viel größer und viel fähiger bei widrigem als bei gutem Geschick. Seine Niederlagen machen ihm mehr Ruhm als seine Siege und seine Trauer mehr als sein Triumph.

Man bemerke nur, daß selbst in solchen Handlungen, die an sich gering und nichtsbedeutend sind, z.B. beim Schachspiel, beim Ballschlagen und dergleichen die gar zu große Emsigkeit und Hitze eines zu heftigen Verlangens nach Sieg, den Geist und die Glieder unmittelbar in Unordnung und Unaufmerksamkeit versetzen. Man verblendet und verwirrt sich selbst. Derjenige, der sich gegen Gewinn und Verlust mit mehr Mäßigkeit beträgt, ist immer bei sich selbst. Je weniger einer beim Spiele hitzig und leidenschaftlich ist, mit desto mehr Vorteil und Sicherheit weiß er es zu lenken.

Im übrigen verhindern wir die Ergreifung und Festhaltung der Seele, wenn wir ihr zuviel auf einmal zu umfassen geben. Einige Dinge muß man ihr bloß vorhalten, andere anheften, noch andere einverleiben. Sie mag immerhin alle Dinge sehen und empfinden, aber nähren muß sie sich nur von sich selbst. Sie muß unterrichtet sein, was sie nur berührt und was eigentlich ihres Seins und Wesens ist. Die Gesetze der Natur lehren uns, was wir genau bedürfen. Nachdem die Weisen uns gesagt haben, der Natur nach sei kein Mensch arm, wohl aber seiner Meinung nach, unterscheiden sich gleichfalls sehr fein die Begierden, welche aus der Natur entstehen, von den Begierden, welche aus der Unordnung unserer Einbildung entspringen. Wünsche, deren Ende wir absehen, sind Werke der Natur, Wünsche aber, die immer vor uns fliehen, die wir nicht erreichen können, sind unser eigenes Werk. Der Armut an Gütern ist leicht abgeholfen, der Armut der Seele unmöglich:

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