Omnia fanda, nefanda, malo permixta furore,
Justificam nobis mentem avertere deorum242.
Bei Volksseuchen kann man anfänglich noch die Gesunden von den Kranken unterscheiden. Wenn solche aber erst langwierig werden wie die unsrige, so greifen sie den ganzen Staatskörper an, sowohl das Haupt als die Fersen. Kein Teil bleibt befreit; von der Fäulnis. Denn keine Luft haucht sich so mit vollen Zügen ein, verbreitet sich so schnell und allgemein als die Zügellosigkeit. Unsere Heere hängen nur noch durch fremden Kitt zusammen. Aus Franzosen kann man kein beständiges, regelmäßiges Heer zusammenbringen. Welche Schande! Man sieht keine andere Manneszucht vorwalten als die, welche uns die erborgten Truppen zeigen. Die unsrigen betragen sich nach Willkür und gehorchen keinem Oberhaupt, sondern jeder tut, was ihm gut deucht. Wir haben mehr innere Feinde zu bekämpfen als auswärtige. Der Befehlshaber muß folgen, schmeicheln und nachgeben. An ihm allein ist die Reihe zu gehorchen; alles übrige ist frei und ungebunden. Es ist mir nicht unlieb zu sehen, wieviel Niederträchtigkeit und Schwäche mit dem Ehrgeiz verbunden ist, durch wieviel Erniedrigungen und Sklaverei er zu seinem Ziel gelangen muß. Aber das tut mir sehr leid, wenn ich sehe, daß solche Menschen, die der Billigkeit und Gerechtigkeit fähig sind, sich von Tag zu Tag verschlechtern, indem sie diesen Greuel der Verwüstung verwalten und anführen. Langes Leiden erzeugt Gewohnheit, Gewohnheit Beifall und Nachahmung. Wir hatten der schlechten Seelen von Haus aus schon genug, ohne noch die guten und großmütigen zu verderben. Wenn das noch lange so fortgeht, so wird schwerlich jemand übrigbleiben, dem man die Gesundheit des Staates anvertrauen könnte, im Fall, das Glück uns solche wiedergeschenkt:
Hunc saltem everso juvenem succurrere seclo
Ne prohibete243.
Was ist aus der alten Lehre geworden, daß die Soldaten mehr ihren Befehlshaber als den Feind zu fürchten haben? Aus dem bewundernswürdigen Beispiel, nach welchem sich im Umfang eines römischen Lagers ein Apfelbaum eingeschlossen befand, und des folgenden Tages, als das Heer wieder aufbrach, der Eigentümer die Äpfel auf seinem Baum, so reif und wohlschmeckend sie auch waren, alle wohlgezählt wiederfand. Ich möchte wohl, daß unsere Jugend, anstatt daß sie ihre Zeit auf minder nützliche Reisen verwendet und weniger ehrenvolle Lehrjahre zubringt, die Hälfte derselben dazu gebrauchte, einen Seekrieg unter einem guten Kommandeur der Rhodeserritter mitzumachen, und die andere Hälfte, die Manneszucht unter dem türkischen Heer zu erlernen. Denn diese hat viel Eigenes und manchen Vorzug vor der unsrigen. Folgendes gehört dazu:
Unsere Soldaten werden im Kriege viel zügelloser, dort vorsichtiger und behutsamer. Denn die kleinen Diebstähle und Neckereien, die an dem geringen Mann begangen und zu Friedenszeiten mit Stockschlägen bestraft werden, gelten für Hauptverbrechen zu Kriegszeiten. Für ein Ei, das ohne Bezahlung genommen worden, ist die festgesetzte Strafe fünfzig Prügel. Für jeden anderen Diebstahl, wäre das Entwendete auch noch so gering, sobald es nicht zur Nahrung nötig ist, wird der Verbrecher auf einen Pfahl gespießt oder enthauptet, und zwar auf der Stelle. Ich erstaunte, in der Geschichte Selims, des grausamsten Eroberers, der jemals gelebt hatte, zu finden, daß, als er sich Ägypten unterwarf, die schönen Gärten um die Stadt Damaskus, welche ganz offen und in einem eroberten Lande und noch dazu auf dem nämlichen Fleck standen, woselbst sein Heer das Lager aufgeschlagen hatte, völlig wohlbehalten blieben, weil den Soldaten kein Zeichen zum Plündern gegeben worden war.
Aber gibt es irgendein Übel in einer Staatseinrichtung, welches mit einer so tödlichen Arznei bekämpft zu werden verdient? Nein, antwortete Favonius, nicht einmal die gewalträuberische Besitznehmung der Obermacht in einem Freistaat. Plato gleichfalls will nicht zugeben, daß man der Ruhe seines Landes Gewalt antue, um es zu heilen, und verwirft jede Verbesserung, die alles verwirrt und aufs Spiel setzt und das Blut und den Untergang der Bürger kostet, indem er die Pflicht eines redlichen Mannes in diesem Falle darin sieht, alles seinen Weg gehen zu lassen und bloß Gott zu bitten, daß er auf eine außerordentliche Weise zu Hilfe kommen möge. – Auch scheint er es seinem großen Freund Dion keinen Dank zu wissen, daß er ein wenig anders zu Werke gegangen sei. Ich war von dieser Seite schon ein Platoniker, bevor ich noch wußte, daß ein Plato in der Welt gewesen. Soll aber dieser Mann so ganz reinweg aus unserer Gemeinschaft ausgeschlossen bleiben; er, dem wegen der Aufrichtigkeit seines Gewissens die göttliche Gnade widerfuhr, durch die herrschende Finsternis über die Welt seiner Zeit solche tiefe Blicke in das christliche Licht zu tun, so denke ich doch nicht, daß es uns wohl kleide, uns von einem Heiden belehren zu lassen, wie gottlos es sei, von Gott gar keine eigene Hilfe zu erwarten, ohne daß wir unsere Hände dabei mit im Spiele hätten. Ich vermute oft, daß unter so vielen Leuten, die sich in ein solches Geschäft mischen, sich mancher von so blödem Verstand befinden mag, den man in allem Ernst überredete, er arbeite an der Wiederherstellung durch die allerscheußlichste Entstellung; er bewirke seine Seligkeit durch die ausgemachtesten Schritte zu sicherer Verdammnis, und wenn er alle gute Polizei, Obrigkeit und Gesetze übern Haufen werfe, unter deren Vormundschaft ihn Gott gesetzt hat, wenn er mit menschenfeindlichem Haß Brüderherzen anfällt und Teufel und Furien zu Hilfe ruft, so unterstütze er dadurch die allerheiligste Liebe und Gerechtigkeit des göttlichen Gesetzes. Die Ehrsucht, der Geldgeiz, die Grausamkeit, die Rachsucht haben an ihrer eigenen und natürlichen Heftigkeit noch nicht genug; laßt uns solche noch aufreizen und in Flammen setzen unter dem herrlichen Namen Gerechtigkeit und Frömmigkeit. Man kann sich keinen schlimmeren Zustand der Sache denken als da, wo Büberei zu Recht wird und mit obrigkeitlicher Bewilligung den Mantel der Tugend trägt: Nihil in speciem fallacius, quam prava religio, ubi deorum numen praetenditur sceleribus244. Die höchste Art von Ungerechtigkeit besteht nach dem Plato darin, wenn das, was Unrecht ist, für Recht gehalten wird.
Das Volk litt damals schon sehr schwer, nicht bloß von gegenwärtigen Übeln -
... Undique totis
Usque adeo turbatur agris245 -,
sondern auch von zukünftigen. Die Lebenden hatten ihre Leiden, auch diejenigen, welche noch nicht geboren waren. Man stahl ihm, und folglich auch mir, alles bis auf die Hoffnung, indem man uns alles das nahm, wovon wir auf lange Jahre leben wollten:
Quae nequeunt secum ferre aut abducere, perdunt;
Et cremat insontes turba scelesta casas246.
Muris nulla fides, squalent populatibus agri247.
Außer diesem Stoß erlitt ich noch andre. Ich geriet in die Fährlichkeiten, welche in solchen Krankheiten die Mäßigung herbeizuführen pflegt Ich ward von allen Händen gezwickt. Den Gibellinen war ich ein Welf und den Welfen war ich ein Gibellin. Einer von meinen Dichtern drückt das sehr gut aus, ich weiß nur die Stelle nicht aufzufinden. Die Lage meines Hauses und die Bekanntschaft mit den Männern aus meiner Nachbarschaft stellten mich dar mit einem Gesicht; mein Leben und meine Handlungen mit einem anderen. Förmliche Anklagen kamen nicht vor; denn man fand nichts, worauf man hätte fußen können. Ich setze nie die Gesetze aus den Augen, und wer mich belangte, hätte seinen Mann an mir gefunden. Es waren heimliche Bezichtigungen, welche so unter der Hand herumliefen, denen es in einem solchen Wirrwarr niemals am Schein fehlt, sowenig wie an einfältigen oder neidischen Menschen. Ich pflege solchem leidigen Argwohn, welchen man gegen mich ausstreut, immer ein wenig zu Hilfe zu kommen, durch die Weise, die ich von Jugend auf an mir habe, mich niemals zu rechtfertigen, zu entschuldigen oder zu verteidigen; weil ich dafürhalte, ich träte meinem Gewissen zu nahe, wenn ich es vor Gericht verteidigte: Perpicuitas enim argumentatione elevatur248. Und gleichsam als ob ein jeder mich ebenso hell durchschaute als ich selbst, trete ich der Anschuldigung näher, anstatt sie von mir zu entfernen, und treibe sie fast noch höher durch ein ironisches, spöttelndes Bekenntnis. Es sei denn, daß ich kurz und gut schwiege als über eine Sache, die keiner Beantwortung wert ist. Aber diejenigen, welche das für ein zu stolzes Vertrauen erklären, wollen mir deswegen nicht weniger übel als diejenigen, welche es für die Schwachheit einer kranken Sache halten. Vorzüglich die Großen, bei welchen das Vergehen gegen die Untertänigkeit das ärgste Vergehen ist. Hart sind sie gegen alles, was anerkanntermaßen gerecht ist, sich fühlt und nicht kriechend, demütig und flehend erscheint. An diesem Pfeiler habe ich mir oft den Kopf zerstoßen. Soviel ist gewiß, daß sich ein Ehrgeiziger über Dinge, die mir begegnet sind, gehängt hätte, und ein Geldgeiziger ebensowohl. Ich verwende nicht die geringste Sorge aufs Reichwerden:
Sit mihi, quod nunc est, etiam minus; et mihi vivam
Quod superest aevi, si quid superesse volunt di249.
Aller Schaden und Verlust, welche mir durch die Bosheit anderer zugefügt werden, sei es Dieberei oder andere Gewalttätigkeit, tun mir weh wie einem Mann, der von der Krankheit des Geizes geplagt wird. Die Beleidigung tut mir ungleich weher als der Verlust. Tausend verschiedene Arten von Übeln fallen auf mich wie ein dicker Traufregen; ich hätte sie lieber als Schlagregen ertragen.
Ich dachte schon darauf, wem unter meinen Freunden ich mein dürftiges, verlassenes Alter anvertrauen könnte. Nachdem ich die Augen nach allen Seiten herumgerichtet hatte, sah ich mich im Kamisole ohne Ärmel. Um sich so aus der Höhe wie ein Stein herabzustürzen, muß man von starken, kräftigen und begüterten Armen aufgefangen werden. Aber wenn's auch dergleichen Arme gibt, so sind sie wenigstens selten. Kurz, ich lernte einsehen, das Sicherste wäre, mich auf mich selbst und auf meine eigenen dürftigen Kräfte zu verlassen; und wenn es mir begegnen sollte, daß mir das Glück eine kalte, schiefe Miene machte, müßte ich mich am dringendsten mir selbst empfehlen, mich an mich selbst heften, um mit eigenen Augen für mich zu sehen. Bei allen Gelegenheiten klammern sich die Menschen an fremde Stäbe, um ihre eigenen zu sparen, die doch allein gewiß sind und allein stark, wenn man sich ihrer nur zu bedienen weiß. Jedermann läuft aus seinem Hause fort und in die Zukunft hinein, weil hoch niemand daheim bei sich eingewohnt ist. Und ich überzeugte mich, daß es heilsame Widerwärtigkeiten gäbe: erstlich, weil man die Schüler mit dem Haselmeier aufmerksam machen muß, wenn bloße Vernunftgründe nicht hinreichen wollen, wie wir durch Feuer und Keile das krumme Holz geradebeugen. Ich predige mir schon seit langer Zeit, daß ich nur von mir abhänge und mich von fremden Dingen absondern müsse; und bei alledem schiele ich noch immer seitwärts. Das Wohlwollen, das günstige Wort eines Großen, eine freundliche Miene führen mich in Versuchung. Gott weiß, ob dergleichen in unseren Zeiten teure Ware ist und was für ein Sinn dahintersteckt! Ich höre noch, ohne daß ich deswegen die Stirn runzele, die glatten Worte, womit man mich bestechen will, um mich um Börsenpreis zu haben; und ich weigere mich so jungfräulich, daß es scheint, als ob ich nur ein bißchen genötigt sein wollte. Aber einen so ungelehrigen Geist muß man unter der Gerte halten, und ein Gefäß, das so zerlechzt ist, muß man mit Reifen umlegen und mit wackern Böttcherhämmern zusammentreiben, damit es nicht ferner riesele und spille. Zweitens dienen solche Zufälle mir als Übung, um mich auf etwas Ärgeres vorzubereiten, wenn ich etwa, da ich durch mein gutes Geschick und durch den Gehalt meiner Sitten einer der letzten zu sein hoffte, einer der ersten wäre, den das Schicksal an der Krause faßte. Darum muß ich beizeiten lernen, mein Leben zusammenzunehmen und es auf einen neuen Zustand bereitzuhalten. Die wahre Freiheit besteht darin, daß man alles über sich selbst vermag: Potentissimus est, qui se habet in potestate250.
In Alltags- und Schlendrianszeiten bereitet man sich auf mäßige und gemeine Zufälle. In diesem Wirrwarr aber, worin wir uns seit dreißig Jahren befinden, sieht sich ein jeder Franke, sei es für seine eigene Person oder sei es im Ganzen genommen, zu jeder Stunde und Minute auf dem Punkt, wo sein ganzes Glück über den Haufen fällt. Deshalb muß man darauf bedacht sein, seinem Herzen stärkere Stützen als Rohrstäbe in die Hände zu geben. Laß es uns dem Schicksal Dank wissen, daß es uns in eine Zeit versetzt hat, welche nichts weniger ist als weichlich, schmachtend oder untätig. Dabei wird es Menschen geben, die nur durch ihr Unglück berühmt werden und es sonst auf keine Art geworden wären. So wie ich selten in der Geschichte dergleichen Gewühle von anderen Städten lese, ohne zu bedauern, daß ich's nicht in der Nähe habe ansehen können, ebenso macht meine Neugier, daß ich mich gewissermaßen damit brüste, das sonderbare Schauspiel unseres Staatstodes, seine Anzeichen und seine Form als Zuschauer zu erleben. Da ich solchen doch nun einmal nicht hindern kann, so ist mir's lieb, dazu ausersehen zu sein, daß ich's mit ansehen und mich daran erbauen soll. So wie wir ganz erweislich suchen, selbst aus dem Schatten und der Fabel der Schaubühne ein Bild der tragischen Begebenheiten des menschlichen Schicksals zu beobachten. Wir sind nicht ohne Mitleid bei dem, was wir sehen und hören. Aber es macht uns doch angenehme Empfindungen, unser Mitleid durch die sonderbare Katastrophe aufgeregt und ins Spiel gesetzt zu sehen. Nichts kitzelt, was nicht die Haut kratzt. Die guten Historiker fliehen wie ein totes Meer und wie ein faules Wasser die ruhigen, schläfrigen Erzählungen, um wieder auf Aufruhr, Krieg und Pest zu kommen, wovon sie wissen, daß wir sie gern hören. Ich zweifle, ob ich mit Anstand gestehen darf, wie wenig Ruhe und Gemächlichkeit meines Lebens mir es kostet, mehr als die Hälfte desselben im Jammer und Elend meines Vaterlandes hingebracht zu haben. Meine Geduld ist fast ein wenig zu wohlfeil erkauft, in Ansehung der Zufälle, die mich selbst betreffen. Ehe ich mich selbst beklage, sehe ich nicht so sehr auf das, was man mir nimmt, als auf das, was man mir von innen und außen übrig läßt. Es ist eine Art von Trost dabei, bald das eine Übel, bald das andere, so wie sie uns überkommen, zu bestehen und zu sehen, wie sie sich über andere verbreiten. Ebenso geht's in dem, was das Allgemeine betrifft. In ebendem Maße, wie meine Teilnehmung mehr verbreitet wird, wird sie schwächer. Dazu kommt die halbe Wahrheit: tantum ex publicis malis sentimus, quantum ad privatas res pertinet251, und die Gesundheit, von der wir ausgingen, war von der Beschaffenheit, daß sie selbst das Bedauern mildert, welches wir über sie empfinden sollten. Es war Gesundheit, aber nur in Vergleichung mit der Krankheit, welche darauf erfolgte. Wir sind aus keiner großen Höhe herabgestürzt. Das Verderben und die Räuberei, welche in Amt und Würden stehen, scheinen mir das Unerträglichste zu sein. Man bestiehlt uns weniger kränkend in einem Wald als an einem sicheren Ort. Es war eine allgemeine Zusammensetzung von Gliedern, wovon eins noch krebsartiger war als das andere, und so verdorben, anbrüchig und voller alten Geschwüre, daß sie keine Genesung mehr hoffen konnten noch wünschten. Dieser Einsturz also belebte mich mehr, als er mich niederschlug. Mein Gewissen befand sich nicht nur friedlich und ruhig, sondern sogar stolz dabei, und ich empfand nichts, worüber ich mich selbst anzuklagen gehabt hätte. Also, wie Gott dem Menschen niemals mehr Übel zuschickt als reines Gutes, so habe ich mich in meiner Gesundheit zu jener Zeit mehr als gewöhnlich wohlbefunden; und wie ich ohne dieselbe nur wenig vermag, so gibt es wenig Dinge, die ich mit ihr nicht vermögen sollte. Sie gab mir Kräfte, alle meine Fähigkeiten zusammenzuraffen und die Hand an die Wunde zu legen, die sonst leicht größer hätte werden können, und ich erfuhr, daß ich in meiner Geduld etwas hätte, wodurch ich den Schlägen des Glückes widerstehen könnte, und daß eine große Kraft dazu gehörte, um mich aus dem Sattel zu werfen. Ich sage es nicht deswegen, um das Glück aufzureizen, seine Lanze mit mehr Nachdruck gegen mich anzulegen. Ich bin vielmehr sein gehorsamer Diener und biete ihm freundschaftlich die Hand. Laß es sich in Gottes Namen damit befriedigen, daß ich seine Stöße fühle! Laß es damit gut sein! So wie diejenigen, die sich von Traurigkeit übermannt fühlen, sich gleichwohl von Zeit zu Zeit durch ein kleines Vergnügen beschleichen und ein kleines Lächeln abgewinnen lassen, so vermag ich es auch über mich, meinen gewöhnlichen Zustand friedlich, ruhig und von kummervollen Gedan ken frei zu machen. Bei alledem aber überrasche ich doch zuweilen bei mir die Bisse solcher unangenehmen Gedanken, die mich derweile überstürmen, daß ich mich bewaffne, sie zu bekämpfen und zu verjagen.
Aber nun fügte sich noch ein anderes, bedeutenderes Übel als Zugabe zu den übrigen, und außer und in meinem Hause ward ich von einer Pest angegriffen, die im Vergleich mit allen übrigen sehr heftig war. Denn wie gesunde Körper den schwersten Krankheiten unterworfen sind, weil sie nur von diesen niedergeworfen werden können, so war auch die Luft meiner Gegend sehr gesund, und solange man denken konnte, hatte keine ansteckende Seuche, so nahe sie auch kam, Fuß fassen können. Da aber die Luft einmal angesteckt worden, tat sie ganz sonderbare Wirkungen.
Mixta senum et iuvenum densentur funera;
Nullum Saeva caput Proserpina fugit252.
Ich mußte die niederdrückende Lage erdulden, daß mir die Ansicht meines Hauses zum Scheusal wurde. Alles, was darin enthalten war, befand sich ohne alle Aufsicht und stand jedem zu Gebot, der dazu Lust hatte. Bei aller meiner Gastfreundschaft wurde es mir sehr schwer, einen Zufluchtsort zu finden für eine zerstreute Familie, die ihren Freunden und sich selbst Furcht und Schrecken einjagte, wo sie unterzukommen suchte und alsobald ihren Aufenthalt verändern mußte, wie nur einer von dem Haufen begann zu klagen, daß ihm eine Fingerspitze weh täte. Alle Krankheiten werden in solchen Zeiten für Pest gehalten, und man gibt sich nicht die Mühe, sie zu untersuchen. Das Hübsche dabei ist noch, daß man nach den Regeln der Kunst bei jeder Gefahr, der man sich nähert, vierzig Tage in Angst vor der Seuche leben muß, während welcher Zeit die Einbildung uns nach ihrer Weise behandelt und die Gesundheit selbst zum Fieber macht. Doch alles dieses hätte mir nicht so viel getan, hätte ich mich nicht um den Zustand und das Elend anderer zu bekümmern gehabt und hätte ich nicht sechs Monate lang jämmerlicherweise der Führer dieser Karawane sein müssen. Denn für mich habe ich mein Vorbeugungsmittel immer zur Hand. Es sind Mut, Entschlossenheit und Geduld. Ängstliche Erwartung, welche bei diesem Übel am schädlichsten gehalten wird, ist eben mein Fehler nicht. Hätte es mich allein betroffen, so würde ich es wie eine schnelle, weittragende Flucht betrachtet haben. Diese Todesart scheint mir keine der schlimmsten zu sein. Sie ist gewöhnlich kurz, betäubend, schmerzlos und hat den Trost, daß es ein allgemein eingerissenes Übel ist; sie verfährt ohne Zeremonien, ohne Trauer, ohne viel Umstehende. In Rücksicht aber auf die Nachbarn kann sich der hundertste Teil der Seelen kaum davor retten:
... videas desertaque regna
Pastorum, et longe saltus lateque vacantes253.
Mein bestes Einkommen besteht auf diesem Gut in Land und Feldbau, und die Arbeit von hundert Menschen ruht auf lange Zeit.
Aber was sahen wir damals für Beispiele von Entschlossenheit unter der Herzenseinfalt des ganzen Volkes! Durchgängig entsagte alles der Sorge für das Leben. Die Trauben blieben am Weinstock hängen, obgleich der Weinbau die hauptsächlichste Nahrung des Landes ist, alle durcheinander bereiteten sich auf den Tod, den sie heute abend oder morgen früh erwarteten, mit einer so wenig erschrockenen Miene und Stimme, daß es schien, als wären sie mit dieser Notwendigkeit völlig einverstanden und hielten solche für ein allgemeines, unvermeidliches Schicksal. Das ist der Tod nun freilich allemal. Aber an wie schwachen Fäden hängt der Entschluß zu sterben? Die Entfernung und der Abstand einiger Stunden, die bloße Betrachtung der Gesellschaft stellt uns den Tod unter verschiedenen Gestalten dar. Die Leute hier, weil sie innerhalb eines Monats Kinder, Jünglinge und Greise sterben sehen, stutzen nicht mehr, beweinen sich nicht mehr. Ich sah einige, welche sich fürchteten, zurückzubleiben, wie in einer fürchterlichen Einöde, und gewöhnlich hatte ich nichts anderes zu tun, als fürs Begraben zu sorgen. Es tat ihnen weh, die Leichen auf dem Felde herum zerstreut liegen zu sehen als eine Beute wilder Tiere, welche sich zusehends vermehrten. Wie sich doch die Phantasien der Menschen durchkreuzen! Die Neoriten, eine Nation, welche Alexander besiegte, werfen die Leichen ihrer Verstorbenen in den ersten besten Wald, um daselbst gefressen zu werden; und dieses hielten sie für die einzige glückliche Art des Begrabens. In unserer Gegend grub sich einer schon sein Grab, wenn er noch frisch und gesund war. Andere legten sich noch bei Leibesleben hinein, und einer von meinen Tagelöhnern kratzte mit Händen und Füßen im Sterben begriffen die Erde auf sich. Heißt das nicht die Bettvorhänge zuziehen, um desto ruhiger zu schlafen? Hat es nicht an Größe etwas Ähnliches mit der Tat der römischen Soldaten, die man nach der Schlacht bei Cannä fand, welche Löcher in die Erde gegraben, ihre Köpfe hineingesteckt und mit ihren Händen ausgegrabene Erde über sich geschüttet hatten, um darin zu ersticken? Kurz, eine ganze Nation ward innerhalb kurzer Zeit durch Gewohnheit zu einem Benehmen gebracht, welches an Festigkeit keiner kühnen Entschlossenheit etwas nachgibt, die mit aller möglichen Überlegung gefaßt werden könnte.
Die meisten Anweisungen der Gelehrsamkeit, um uns Herz zu machen, haben mehr Schein als Kraft und mehr Zierde als Nutzen. Wir haben die Natur verlassen und wollen sie nun ihre Lektion lehren. Die Natur, die uns so glücklich und sicher leitete. Unterdessen finden sich noch die Spuren ihrer Anweisung, und das wenige, welches durch die wohltätige Unwissenheit von ihrem Bilde übrig ist, drückt sich ab in dem Leben dieses bäurischen Haufens ungesitteter Menschen. Die Gelehrsamkeit ist genötigt, täglich davon zu borgen, um ihren Schülern Muster der Standhaftigkeit, der Unschuld und Beruhigung vorzulegen. Es ist ein schöner Anblick, zu sehen, wie diese hier, angefüllt mit so vielen schönen Kenntnissen, zur Nachahmung der dummen Einfalt ihre Zuflucht nehmen müssen, und zwar zur Nachahmung in der ersten Ausübung der Tugend. Unsere Weisheit muß sogar von den Tieren die nützlichsten Unterweisungen in den größten und notwendigsten Vorfallenheiten unsers Lebens erlernen: wie wir leben müssen und sterben, unser Vergnügen benutzen, unsere Kinder lieben und auferziehen und gegeneinander gerecht sein. Ein ganz sonderbarer Beweis von der menschlichen Schwachheit, wie auch davon, daß die Vernunft, welche wir unsererseits anwenden und welche beständig etwas anderes und Neues auffindet, bei uns keine sichtbare Spur der Natur übrig läßt. Die Menschen haben es damit gemacht wie die Verfertiger wohlriechender Öle; sie haben solche mit so vielen fremden Dingen versetzt und mit so vielen von außen entlehnten Gedanken, daß sie dadurch für einen jeden verändert und zu etwas ganz Eigenem geworden ist und ihre ursprüngliche, beständige und allgemeine Gestalt verloren hat. Wir müssen daher das Zeugnis der Tiere suchen, die keinem Vorurteil, keinem Verderben, keiner Verschiedenheit der Meinungen unterworfen sind. Denn es ist zwar wahr, daß selbst die Tiere nicht immer genau auf dem Wege der Natur wandeln, das wenige aber, was sie davon abweichen, ist so gering, daß man noch immer das Geleis wahrnehmen kann. Geradeso, wie die Pferde, welche man an der Hand führt, wohl Sprünge machen und seitwärts gehen, aber doch nicht weiter als die Leine reicht, und immer wenigstens dem Schritte desjenigen folgen, der sie führt; oder wie ein Falke seine Flucht nimmt, aber nie weiter kann, als ihm die Schnur gefeiert wird. Exsilia, tormenta, bella, morbos, naufragia meditare, ... ut nullo sis malo tiro254. Wozu dient uns die Emsigkeit, alle widerwärtigen Zufälle der menschlichen Natur im voraus zu studieren und uns mit so vieler Mühe selbst auf diejenigen vorzubereiten, die uns vielleicht nie begegnen werden? Parem passis tristitiam facit, pati posse255. Nicht nur vor der Kugel, sondern vor dem Winde und vor dem Dunst erschrecken wir. Oder wie der Fieberkranke; denn gewiß ist's ein Fieber, sich gleich die Stäupe geben zu lassen, weil es möglich, daß uns das Schicksal eines Tages solche fühlen läßt. Oder wie einer, der um Johanni die Wildschur umnehmen wollte, weil er solche um Weihnachten nötig haben würde! Macht Erfahrungen von allen Übeln, die euch begegnen können, besonders von den ärgsten, versucht euch darin, sagen andere, gewinnt darin Standhaftigkeit! Umgekehrt sage ich. Das leichteste und natürlichste wäre, sich solche sogar aus den Gedanken zu schlagen. Sie werden nicht sobald eintreten; ihr wahres Wesen dauert für uns nicht lange genug, wir müssen sie in unseren Gedanken ausdehnen und verlängern, schon vorderhand uns einverleiben und uns damit unterhalten. Gleichsam als ob sie unseren Sinnen nicht ohnehin schon beschwerlich genug wären. Sie werden genug drücken, wenn sie eintreten, sagt einer der Philosophen, nicht etwa von einer zarten Sekte, sondern von der härtesten. Bis dahin schmeichle dir! Glaube, was du am liebsten wünschest. Was hilft dir's, über künftigen Übeln zu brüten, über der Furcht des Zukünftigen das Gegenwärtige zu verlieren und gleich von Stund an elend zu sein, weil du es mit der Zeit werden sollst? So sind seine Worte. Die Wissenschaft leistet uns, traun, einen guten Dienst; daß sie uns genau von der Länge und Breite der Übel unterrichtet:
... Curis acuens mortalia corda256.
Von der Erfahrung.
Keine Begierde ist natürlicher als die Begierde nach Wissen. Wir bedienen uns aller Mittel, die uns dahin führen können. Wenn uns dabei die Vernunft fehlschlägt, so wenden wir uns an die Erfahrung -
Per varios usus artem experientia fecit,
Exemplo monstrante viam257 -,
welches ein weit schwächeres und schlechteres Mittel ist. Aber die Wahrheit ist eine so wichtige Sache, daß wir keine Vermittlerin derselben geringachten dürfen. Die Vernunft hat so viele Formen, daß wir nicht wissen, an welche wir uns halten sollen. Die Erfahrung hat deren nicht weniger. Die Folgerung, welche wir aus dem Zusammentreffen der Erscheinungen ziehen, ist unsicher, weil die Erscheinungen allemal verschieden sind. Nichts ist in den Verhältnissen der Dinge so durchgängig allgemein als Verschiedenheit und Veränderung. Die Griechen und Lateiner und auch wir kennen kein größeres Beispiel der Ähnlichkeit als das Ei. Gleichwohl haben sich Menschen gefunden, namentlich einer zu Delphi, welche unter den Eiern so verschiedene Abzeichen bemerkten, daß sie niemals eins mit dem anderen verwechselten. Und waren die Eier von verschiedenen Hühnern, so wußten sie zu bestimmen, welches Huhn dieses oder jenes Ei gelegt hatte. Die Ungleichheit mischt sich von selbst in unsere Werke. Noch hat keine Kunst bis zur völligen Gleichheit reichen können. Keine Fabrik, auch nicht Parrozets, kann ihre Karten von außen so sorgfältig glätten und weißen, daß nicht einige Spieler sie kennen sollten, indem sie solche in den Händen ihrer Mitspieler erblicken. Die Ähnlichkeit der Dinge ist bei weitem nicht so groß an einer Seite als die Unähnlichkeit an der anderen. Die Natur scheint sich anheischig gemacht zu haben, nichts Zweites hervorzubringen, das nicht von dem Ersten verschieden wäre.
Daher bin ich mit der Meinung desjenigen nicht zufrieden, welcher durch die Menge der Gesetze die Willkür der Richter zu binden trachtete, indem er ihnen jeden Bissen vorschnitt. Er bedachte nicht, daß das Feld der Auslegung ebenso frei und weitläufig ist als das Feld der Gesetzgebung. Und diejenigen können es wohl nicht ernsthaft meinen, welche glauben, dadurch unseren Gezänken und Auslegungen Ziel und Grenzen zu setzen, wenn sie uns an die Buchstaben der Bibel binden, weil unser Geist das Feld nicht weniger geräumig findet, wenn er die Meinung anderer bekämpft, als wenn er die seinige geltend macht. Die Auslegung gewährt ebenso viel Bitterkeit und Feindseligkeit als die Erfindung. Wir sehen deutlich, wie sehr ein solcher Gesetzhaufen sich betrügt. Denn wir haben in Frankreich mehr Gesetze als die ganze übrige Welt zusammengenommen, und mehr als für alle übrigen Welten des Epikur hinreichend wäre: ut olim flagitiis, sic nunc legibus laboramus258. Dennoch bleibt unseren Richtern so vieles zu überlegen und zu entscheiden, daß kein anderer so viele Freiheit und Willkür genießt. Was haben denn unsere Gesetzgeber dadurch gewonnen, daß sie hunderttausend Arten von besondern Tatsachen ausgewählt und darauf hunderttausend Gesetze angewendet haben? Diese Zahl hat nicht das geringste Verhältnis mit der unendlichen Verschiedenheit menschlicher Handlungen. Die Vervielfältigung unserer Erfindungen wird niemals an die Verschiedenheit der Beispiele reichen. Wenn man noch hundertmal soviel hinzutäte, so wird sich doch unter den zukünftigen Verkommenheiten schwerlich eine finden, die so genau auf einen einzigen unter den vielen tausend ausgewählten und eingetragenen Fällen paßt und ihm gleicht, daß nicht ein Umstand, nicht eine Verschiedenheit dabei stattfinden sollte, derentwegen auch der Urteilsspruch verschieden ausfallen muß. Unter unseren Handlungen gibt es wenige, welche einander ähnlich wären, weil sie in unaufhörlichen Abweichungen von den beständigen und unabänderlichen Gesetzen bestehen. Die beste Gesetzgebung ist die kürzeste, einfachste und allgemein umfassendste. Und noch glaube ich, wären wir besser dran, lieber keine Gesetze zu haben, als deren so viele zu besitzen wie wir.
Die Natur gibt uns immer bessere Gesetze, als wir erfinden. Das beweist die Schilderung, welche uns die Dichter vom Goldnen Zeitalter machen, und der Zustand der Völker, die keine andere gesetzliche Verfassung kennen. Es gibt deren, welche keinen Richter zur Schlichtung ihrer Streitigkeiten haben als den ersten besten Fremden, der ihr Gebirge entlangreist; und andere erwählen an ihren Markttagen jemanden unter sich, der auf der Stelle über ihre Rechtshändel entscheidet. Was für Gefahr wäre dabei, wenn die Weisesten unter uns ebenso die unsrigen, nach dem Augenmaß, ohne an Vorgänge und Folgerungen gebunden zu sein, abmachten? Jedem Fuße seinen eigensten Leisten. Als der spanische König Ferdinand Anpflanzer nach Indien schickte, traf er die weisliche Vorkehrung, daß kein Rechtsgelehrter mit hingehen durfte, weil er besorgte, daß sie auch die Prozesse in dieser neuen Welt vermehren möchten, indem diese Wissenschaft ihrer Natur nach eine Mutter des Zanks und der Uneinigkeit ist. Er hielt mit dem Plato dafür: Einem Lande sei mit Rechtsgelehrten und Ärzten übel gedient.
Woher kommt es, daß unsere Muttersprache, die zu allem übrigen Gebrauch so leicht und klar ist, bei Kontrakten und Testamenten dunkel und unverständlich wird und daß derjenige, der sich am klarsten ausdrückt, er mag sagen und schreiben was er will, sich niemals hierin so verständlich machen kann, daß nicht Zweifel und Widersprüche darüber entstehen sollten, wenn es nicht daran liegt, daß die Fürsten dieser Kunst sich mit ganz besonderer Aufmerksamkeit darauf legen, feierliche Ausdrücke zu gebrauchen und künstliche Klauseln zu schmieden, zu diesem Behufe aber jede Silbe auf der Goldwaage wägen, jede Naht und Zusammenfügung so genau besichtigen, daß sie sich unter einer solchen Unendlichkeit von bildlichen Ausdrücken und herrschenden Distinktionen dergestalt verwirren und verwickeln, daß man eines Leitfadens, einer Vorschrift und einer gewissen Kunde bedarf, um sich herauszufinden: Confusum est, quidquid usque in pulverem sectum est259. Wer Kindern zugesehen hat, welche eine Masse Quecksilber in eine gewisse Anzahl Körner oder Tropfen bringen wollten, der wird gesehen haben, daß, je mehr sie dieses unbesiegliche Metall drücken, quetschen und dessen Freiheit einschränken wollten, desto unfügsamer es unter ihren Händen ward. Es weicht ihrer Kunst aus, verdünnt und vertröpfelt sich in unzählbare Verteilung. So mit den Gesetzen. Je mehr man ihre Spitzfindigkeit verfeinert, desto mehr lehrt man die Menschen ihre Zweifel zu häufen. Man bringt uns in den Gang, die Schwierigkeiten zu vermehren und zu vervielfältigen. Man verlängert sie. Man dehnt sie aus. Indem man Fragen ausstreut und zerstückelt, läßt man Ungewißheit und Zank in der Welt Frucht tragen und in Samen schießen. So wird der Erdboden immer fruchtbarer, je tiefer man ihn umgräbt und je mehr man die Schollen zerreibt und verfeinert: Difficultatem facit doctrina260. Wir zweifelten über den Ulpian und zweifeln abermals über den Bartholus und Baldus. Man hätte die Spur aller dieser unzähligen Meinungen und Auslegungen vertilgen sollen, anstatt sich damit zu brüsten oder der Nachwelt den Kopf damit anzufüllen. Ich weiß nicht, was ich davon sagen soll; so viel ergibt die Erfahrung, daß so viele Auslegungen die Wahrheit zerstreuen und auflösen. Aristoteles schrieb, um verstanden zu werden. Konnte er es nicht dahin bringen, so wird es ein anderer, der minder geschickt ist und ein dritter noch weniger dahin bringen können als der, welcher seine eigene Meinung vortrug. Wir lösen die Materie auf und verspillen sie, indem wir zu viel Wasser aufgießen. Aus einem Gegenstand machen wir tausend und verfallen durch das Vermehren und Unterabteilen in die Unendlichkeit der epikureischen Atome. Noch niemals haben zwei Menschen über eine Sache völlig gleich geurteilt, und es ist unmöglich, zwei völlig ähnliche Meinungen zu finden, nicht nur bei zwei verschiedenen Menschen, sondern bei einem und demselben Menschen, nur zu verschiedenen Stunden. Gewöhnlicherweise finde ich Zweifel, welche der Kommentar nicht beliebt hat zu berühren. Ich stolpere am leichtesten auf ebener Erde, wie gewisse Pferde, die ich kenne, welche auf geschlagenem Wege am öftesten anstoßen.
Wer sollte nicht sagen, daß durch die Glossen Zweifel und Unwissenheit vermehrt werden, da es kein göttliches oder menschliches Buch gibt, welches die Welt liest und gern verstehen möchte, das durch Auslegungen und Erklärungen leichter und faßlicher geworden wäre! Der hundertste Kommentator verweist auf seinen Nachfolger, der den Knoten verwickelter und schwieriger macht, als man ihn bei dem ersten gefunden hatte. Wann werden wir einmal eingestehen: dieses Buch hat der Ausleger genug, es ist nichts mehr darüber zu sagen? Noch auffallender findet sich dieses bei Rechtsstreitigkeiten. Einer unendlichen Menge Rechtslehrer räumt man das Ansehen der Gesetze ein, desgleichen einer unendlichen Menge Rechtssprüche und Auslegungen. Finden wir deswegen des Bedürfnisses des Auslegens wohl ein Ende? Kommen wir dadurch dem ruhigen Einverständnisse etwas näher? Ist die Anzahl unserer Advokaten und Richter geringer, und kann sie es sein, als damals, da die Masse des Rechts noch in ihrer Kindheit war? Es hat sich wohl. Wir verfinstern und begraben vielmehr das Verständnis. Wir können solches nicht finden als hinter einer Menge von Pfählungen und Schlagbäumen. Die Menschen verkennen die natürliche Krankheit unseres Geistes. Er tut nichts als spüren und suchen, kommt ohne Unterlaß von der Fährte, baut und verwickelt sich in seinem eigenen Werke, wie unsere Seidenwürmer, und erstickt sich darin: Mus in pice261. Er meint in der Ferne Wunder was für eine eingebildete Klarheit und Wahrheit zu entdecken, und während er danach rennt, stoßen ihm solche Schwierigkeiten, Dunkelheiten und neue Fragen auf, daß er sich dadurch verwirrt und berauscht. Nicht weit anders geht es ihm, als des Aesop Hunden, welche einen toten Körper im Meer entdeckten und weil sie nicht daran kommen konnten, es unternahmen, das Wasser auszusaufen und sich einen Weg auszutrocknen, worüber sie zerplatzten. Darauf geht auch das, was Sokrates von den Schriften des Heraklit sagt: »Es gehört ein guter Schwimmer dazu, sie zu lesen, damit ihre Tiefe und Schwere ihn nicht verschlinge und ersäufe.« Es ist nichts als Schwäche, die uns mit demjenigen, was andere oder wir selbst in dieser Jagd nach Wissen entdeckt haben, zufriedenstellt. Einer, der heller sieht, wird sich damit nicht zufriedenstellen. Der Nachfolger, ja wir selbst, entdecken immer neue Wege. Unser Forschen hat niemals ein Ende. Unser Ende liegt in der anderen Welt. Es ist ein Zeichen der Eingeschränktheit unseres Geistes oder der Ermüdung, wenn er sich zufriedengibt. Kein wackerer Geist steht von selbst still. Er begehrt immer mehr und geht über seine Kräfte hinaus. Er strebt nach unerreichbaren Höhen. Wenn er sich nicht weiterhebt, nachdringt und durchwindet, anstößt und schnell umlenkt, so ist er nur zur Hälfte lebendig. Sein Forschen und Streben ist ohne Ziel und Maß, seine Nahrung ist Bewunderung und Jagd ins Weite. Das gab Apollo hinlänglich zu verstehen, indem er mit uns Menschen immer doppelsinnig, dunkel und verschroben sprach, und nicht sättigte, sondern unterhielt und beschäftigte. Es ist ein unordentliches, unaufhörliches Streben ohne Muster und ohne Zweck. Die Gedanken des Menschen erhitzen sich, jagen hintereinander her und erzeugen sich einer den anderen: