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so darf uns kein vernünftiger Mensch bloß nach unseren äußerlichen Handlungen beurteilen. Man muß bis auf das Innere fühlen und sehen, von was für Triebfedern die Bewegung herkommt. Aber je kühner und höher diese Unternehmung ist, desto weniger Leute sollten sich derselben unterfangen.

Von der Völlerei

Die Welt ist voller Verschiedenheit und Unähnlichkeit. Die Laster sind, als Laster betrachtet, einander alle gleich; und so verstehen es vielleicht die Stoiker. Aber ob sie schon auf gleiche Weise Laster sind, so sind sie doch nicht gleiche Laster. Es ist nicht glaublich, daß derjenige, der hundert Schritte über die Schranken hinaus ist -

Quos ultra citraque nequit consistere rectum24 -,

nicht in schlimmeren Umständen sein sollte, als der, welcher nur zehn Schritte drüber getan hat; oder daß der Kirchenraub nicht ärger sein sollte als die Entwendung einiger Kohlstauden aus unserem Garten.

Nec vincet ratio, tantumdem ut peccet, idemque,

Qui teneros caules alieni fregerit horti,

Et qui nocturnus Divum sacra legerit25.

Es ist so viel Unterschied hierinnen als in irgendeiner Sache. Die Verwirrung der Ordnung und des Maßes der Sünden ist gefährlich. Die Mörder, die Verräter, die Tyrannen haben allzu viel Vorteil dabei. Es ist nicht recht, daß sich ihr Gewissen dadurch erleichtert, weil ein anderer müßig, oder geil, oder saumselig in der Andacht ist. Jeder macht die Sünde seines Nächsten schwer und seine leicht. Die Lehrer selbst ordnen sie oft, meinem Bedünken nach, schlecht. Sokrates sagte, die Hauptbeschäftigung der Weisheit bestünde darinnen, daß man das Gute und das Böse wohl unterschiede. Hingegen wir, unter welchen der beste immer noch lasterhaft ist, müssen eben das von der Wissenschaft, die Laster zu unterscheiden, sagen, als ohne welche, wenn sie nicht recht genau ist, der Tugendhafte und der Gottlose miteinander vermengt und unkenntlich bleiben.

Nun scheint mir aber die Trunkenheit vor anderen Lastern ein grobes und viehisches Laster zu sein. Der Verstand hat bei anderen noch mehr zu tun; und es gibt Laster, die, ich weiß selbst nicht, was Großmütiges an sich haben, wenn ich so sagen soll. Es gibt Laster, in welche sich die Wissenschaft, der Fleiß, die Tapferkeit, die Klugheit, die Geschicklichkeit, und die Spitzfindigkeit mit einmischen; dieses hingegen ist völlig körperlich und irdisch. Daher geht es auch nur bei dem ungesittesten unter den jetzigen Völkern im Schwange26. Die übrigen Laster schwächen den Verstand, dieses entkräftet und betäubt den Leib.

Cum vini vis penetravit,

Consequitur gravitas membrorum, praepediuntur

Crura vacillanti, tardescit lingua, madet mens,

Nant oculi, clamor, singultus, iurgia gliscunt27.

Ein Mensch kann in keinem schlimmeren Zustande sein, als wenn er sich selbst nicht kennt und seiner selbst nicht mächtig ist. Man sagt unter anderem davon, daß der Wein die verborgensten Geheimnisse bei denjenigen, die ihn über die Maße getrunken haben, herauslockt, ebenso wie der Most, wenn er in einem Gefäße braust, alles was zu Boden liegt, in die Höhe stößt.

Tu sapientium.

Curas, et arcanum iocoso

Consilium retegis Lyaeo28.

Josephus erzählt29, daß er einen gewissen Gesandten, den die Feinde an ihn geschickt hatten, ausgeforscht habe, da er ihm mit starkem Trinken zugesetzt. Indessen fand sich doch Augustus, da er dem Lucius Piso, welcher Thracien erobert hatte, seine allergeheimsten Sachen anvertraute30, niemals betrogen; ebenso wenig als Tiberius mit dem Cossus, dem er alle seine Anschläge offenbarte: ungeacht wir wissen, daß sie alle beide dem Wein so stark ergeben gewesen, daß man sie beide oft31 betrunken aus dem Rate hat nach Hause tragen müssen.

Hesterno inflatum venas de more Lyaeo32.

So vertraute man auch dem Cimber, ungeacht er sich oft betrank, so getreulich als dem Cassius, der Wasser trank, das Vorhaben den Cäsar zu ermorden33; daher er die artige Antwort gab: Wie sollte ich einen Tyrannen vertragen, da ich nicht den Wein vertragen kann.

Wir sehen, daß sich unsere Deutschen, wenn sie sich schon im Weine dicke getrunken haben, doch ihres Quartiers, ihrer Losung, und ihres Gliedes erinnern:

Ne facilis victoria de madidis, et

Blasis, atque mero titubantibus34.

Ich hätte nimmermehr geglaubt, daß man sich in dem Trunke so vertiefen, ersticken, und begraben könnte, wenn ich nicht in den Geschichten Beispiele gelesen hätte35. Als Attalus eben den Pausanias, der den König in Mazedonien Philippus nachgehends eben deswegen umbrachte, (einen König, dessen gute Eigenschaften gleichwohl von der Erziehung, die er in dem Hause und in der Gesellschaft des Epaminondas genossen hatte, zeigten) zu Gaste geladen, nötigte er ihn, damit er ihm einen recht empfindlichen Schimpf antun könnte, so viel zu trinken, daß er unwissend seine Schönheit, wie den Leib einer Straßenhure, den Mauleseltreibern und schlechtesten Bedienten im Hause preisgab. So erzählte mir auch eine Dame, die ich sehr ehre und hoch achte, daß bei Bourdeaux gegen Castres zu, wo sie ihr Haus hat, eine Bauernfrau, die eine Wittwe war und die man für keusch hielt, als sie die ersten Zeichen einer Schwangerschaft an sich bemerkt, zu ihren Nachbarinnen gesagt hätte, sie würde glauben sie sei schwanger, wenn sie einen Mann hätte. Als sich aber die Gelegenheit zu diesem Argwohn von Tage zu Tage vermehrte, sodaß es endlich augenscheinlich war, geriet sie dahin, daß sie in ihrer Kirche von der Kanzel melden ließ: wer sich dieser Tat bewußt wäre und sie bekennen würde, dem verspräche sie, solche zu vergeben und ihn, wenn er es für gut befände, zu heiraten. Ein junger Bauernknecht, der bei ihr gedient und der durch diese Bekanntmachung ein Herz bekam, erklärte sich hierauf, er habe sie an einem Feiertage ziemlich betrunken auf ihrem Herde in so tiefem Schlafe und in einer so unziemenden Lage gefunden, daß er sich ihrer, ohne sie aufzuwecken, habe bedienen können. Sie leben noch miteinander in der Ehe.

Es ist gewiß, daß das Altertum dieses Laster nicht sehr verschrien hat. Selbst die Schriften der meisten Philosophen reden ganz gelinde davon; und es gibt welche, sogar unter den Stoikern, die da raten, man solle sich manchmal die Freiheit nehmen, über die Maße zu trinken und sich zu berauschen, um der Seele eine Erleichterung zu schaffen.

Hoc quoque virtutum quondam certamine magnum

Socratem palmam promeruisse ferunt36.

Der Sittenrichter Cato, der andere Leute bessern sollte, muß sich vorrücken lassen, daß er viel getrunken.

Narratur et prisci Catonis

Saepe mero caluisse virtus37.

Cyrus, der so berühmte König, führt unter anderen lobenswürdigen Dingen, worinnen er sich seinen Bruder Artaxerxes zu übertreffen rühmt, von sich an38, daß er besser trinken könne als jener. Ja, selbst bei den ordentlichsten und gesittesten Völkern ist der Versuch, wer am meisten trinken könnte, stark im Gebrauche gewesen. Ich habe vom Silvius, einem vortrefflichen Arzte in Paris, sagen hören, man müßte wenn man verhüten wollte, daß die Fibern unseres Magens nicht nach und nach schlaff würden, sie monatlich einmal durch diese Ausschweifung aufmuntern und reizen, damit sie nicht steif würden. So schreibt man auch39, daß sich die Perser nach dem Trunke über die wichtigsten Sachen beratschlagt hätten.

Mein Geschmack und meine Leibesbeschaffenheit ist diesem Laster mehr als mein Verstand entgegen. Denn außer dem, daß ich meinen Glauben leichtlich unter das Ansehen der alten Meinungen gefangen nehme, so halte ich sie wohl für ein sehr niederträchtiges und dummes Laster, das aber nicht so boshaft und schädlich ist als die anderen, die fast alle weit handgreiflicher das Band der gemeinen Gesellschaft verletzen. Und wenn wir uns kein Vergnügen machen können, ohne daß es uns etwas kostet, wie man zu sagen pflegt, so glaube ich, daß dieses Laster unserem Gewissen weniger kostet als die übrigen. Außerdem ist es leicht zu lernen und nicht schwer zu finden. Ein nicht geringer Vorteil! Ein Mann von hohem Stande und Alter rechnete unter die drei vornehmsten Bequemlichkeiten, die ihm, wie er mir sagte, noch im Leben übrig wären, auch diese, und wo will man sie besser finden als unter den natürlichen? Aber er machte es nicht recht. Man muß die Schleckerei und die sorgfältige Wahl des Weins dabei vermeiden. Wer gern delikaten Wein trinkt, muß sich auch gefallen lassen, verfälschten zu trinken. Man muß keinen so hohen und edlen Geschmack haben. Wer ein guter Trinker sein will, darf keinen so zarten Gaumen haben. Die Deutschen trinken fast ohne Unterschied jeden Wein gerne. Sie wollen ihn verschlucken, nicht aber kosten. Also haben sie wohlfeilen. Sie genießen die Wollust häufiger und mit mehr Bequemlichkeit.

Zum anderen, wenn man französisch bei zwei Mahlzeiten und mäßig trinkt, schränkt man die Gunstbezeugungen dieses Gottes zu sehr ein. Es gehört mehr Zeit und Standhaftigkeit dazu. Die Alten brachten oft ganze Nächte mit dieser Übung hin und verknüpften öfters die Tage damit. Also muß man ordentlich desto reichlicher und stärker trinken. Ich habe zu meiner Zeit einen großen Herrn gesehen, einen Herrn, der große Dinge unternahm und rühmlich ausführte, welcher aber, ohne sich Gewalt anzutun, ordentlich bei der Tafel nicht weniger als fünf40 Lots Wein trank, und wenn er aufstand, sich dennoch zu unseren Schaden nur allzu klug und allzu vorsichtig bezeigte. Ein Vergnügen, das wir in unserem Lebenslauf mit in die Rechnung bringen wollen, muß einen größern Teil unsers Lebens dauern. Wir sollten wie die Kramdiener und Tagelöhner keine Gelegenheit zu trinken ausschlagen und diese Begierde beständig im Kopfe haben. Es scheint, als ob wir von Tage zu Tage den Genuß dieses Vergnügens abkürzten, und daß sonst in unseren Häusern, wie ich in meiner Kindheit gesehen habe, das Frühstücken, das Vesperbrot41 und die kleinen Mahlzeiten, weit häufiger und gewöhnlicher gewesen wären als jetzo. Sollte es wohl daher kommen, daß wir in etwas auf Besserung dächten? - wahrhaftig, nein. Aber vielleicht daher, daß wir der Unzucht mehr nachhängen als unsere Väter. Allein dieses sind zwei Dinge, die nicht in gleicher Stärke beisammen sein können. Sie hat auf der einen Seite unseren Magen geschwächt; und auf der anderen dient die Nüchternheit dazu, daß sie uns artiger und zu Liebeswerken geschickter macht.

Mein Vater hat mir wunderschöne Dinge von der Keuschheit seiner Zeit erzählt. Er konnte davon reden, weil er sowohl durch die Kunst als von Natur zum Umgange mit Frauenzimmer sehr geschickt war. Er redete wenig, aber artig, und mischte immer in seine Reden einige Zierraten aus bekannten Büchern, besonders aus spanischen ein, und unter den spanischen hatte er den sogenannten42 Marcus Aurelius gut inne. In seinen Mienen zeigte sich eine leutselige, höfliche und sehr bescheidene Ernsthaftigkeit. Er hielt ganz besonders viel auf die Ehrbarkeit und den Wohlstand an seiner Person und in seinen Kleidern, er mochte zu Fuß oder zu Pferde sein. Sein Wort hielt er ganz unglaublich genau, er war sehr gewissenhaft und überhaupt sehr für die Religion eingenommen, ja mehr zum Aberglauben als zu dessen Gegenteil geneigt. Er war, für einen Mann von kleiner Statur, sehr munter. Er war gerade und sehr gut gewachsen und hatte ein angenehmes Gesicht, das ins braune fiel. Er war ferner in allen adeligen Übungen sehr geschickt. Ich habe noch mit Blei ausgefüllte Rohre gesehen, womit er seine Arme geübt haben soll, um zum Stangen- und Steinwerfen oder zum Fechten geschickt zu machen; desgleichen mit Blei besohlte Schuhe, womit er sich zum Laufen und Springen leicht machen wollte. In Ansehung des Springens erzählt man noch kleine Wunder von ihm. Er lachte, da er schon über sechzig Jahr alt war, über unsere jetzige Geschicklichkeit. Er sprang in seinem langen Pelze auf ein Pferd, ging auf dem Daumen um die Tafel herum und begab sich selten in sein Zimmer hinauf, ohne drei oder vier Stufen auf einmal zu überspringen. Was gegenwärtige Materie anlangt, sagte er, in einer ganzen Provinz wäre kaum eine einzige vornehme Frau in üblem Rufe gewesen. Er erzählte mir erstaunliche Vertraulichkeiten, in denen er, auch für seine Person, mit den ehrlichsten Weibern ohne den geringsten Verdacht gestanden hätte. Von sich schwur er heilig, daß er als Junggeselle in den Ehestand getreten sei: und doch geschähe dieses, nachdem er vorher lange Zeit dem Kriege jenseits des Gebirges beigewohnt hatte, als von welchem er uns ein eigenhändiges Tagebuch hinterlassen hat, in welchem alles, was sich dabei teils für die gemeine Sache, teils für ihn Merkwürdiges zugetragen, aufgezeichnet hat. Er verheiratete sich auch erst bei ziemlichen Jahren im Jahr 1525, welches sein dreiunddreißigstes Jahr war, auf dem Rückwege aus Italien.

Doch wir müssen wieder auf unsere Bouteillen kommen. Die Beschwerlichkeiten des Alters, welche einer Stütze und Erfrischung bedürfen, sollten mir fast mit Rechte ein Verlangen nach dieser Gabe einpflanzen. Denn das Trinken ist fast das letzte Vergnügen, welches uns die Jahre rauben. Die natürliche Wärme, sagen lustige Brüder, kommt zuerst in die Füße: diese Wärme findet sich in unserer Kindheit. Von da steigt sie in die mittlere Gegend, wo sie lange sitzen bleibt, und nach meiner Meinung die einzigen wahren Ergötzlichkeiten des körperlichen Lebens hervorbringt. Die anderen Wollüste sind gegen diese nur ein Traum. Endlich kommt sie, wie ein Dunst, der sich, wenn er in die Höhe steigt, verteilt und verfliegt, in die Kehle, wo sie ihren letzten Stillstand macht. Gleichwohl weiß ich nicht, wie man das Vergnügen zu trinken, weiter als der Durst geht, verlängern und sich in der Einbildung mit Gewalt und wider die Natur einen Appetit machen kann. Mein Magen würde sich nicht so weit treiben lassen; es kommt ihm schwer genug an, wenn er nach Notdurft trinkt. Nach meiner Leibesbeschaffenheit mache ich mir aus dem Trinken weiter nichts, als insofern es auf das Essen folgen muß; und deswegen trinke ich auch zum letzten Male allezeit am meisten. Weil uns das Alter den Gaumen mit Schleim überzieht, oder sonst durch andere üble Leibesbeschaffenheit verderbt, so schmeckt uns der Wein immer besser, je mehr wir unsere Duftlöcher geöffnet und abgespielt haben. Zum wenigsten bekomme ich selten gleich auf das erstemal den rechten Geschmack davon. Anacharsis wunderte sich43, daß die Griechen zu Ende der Mahlzeit aus größern Gläsern tranken als zu Anfange. Sie taten es, wie ich denke, aus eben dem Grunde, aus welchem es die Deutschen tun, die alsdann erst um die Wette zu trinken anfangen. Plato verbietet den Kindern44, vor dem achtzehnten Jahr Wein zu trinken, und vor dem vierzigsten sich vollzutrinken. Aber Leuten, die das vierzigste Jahre zurückgelegt haben, verzeiht er es, wenn sie einen Gefallen daran finden und dem Dionysius bei ihren Gastmalen etwas mehr Einfluß verstatten: Diesem guten Gotte, der den Menschen die Munterkeit, und den Alten die Jugend wieder gibt, der die Leidenschaften besänftigt und erweicht, gleichwie das Feuer das Eisen weich macht. In seinen Gesetzen hält er dergleichen Trinkgesellschaften, woferne nur in der Gesellschaft ein Haupt dabei ist, das sie im Zaume und in Ordnung halten kann, für nützlich. Denn er sagt, die Trunkenheit sei eine schöne Übung und ungemein geschickt, den alten Leuten das Herz zu machen, sich durch Tanzen und Musik zu ergötzen; welches sehr nützliche Dinge wären, und deren sie sich doch nicht unterfangen dürften, solange sie bei gutem Verstande wären. Der Wein sei geschickt, die Seele mäßig und den Leib gesund zu machen.

Unterdessen gefällt es ihm doch, folgende Einschränkungen, die zum Teil von den Karthaginensern entlehnt sind, zu machen45: daß man sich desselben auf Feldzügen entbreche; daß sich alle obrigkeitlichen Personen und Richter46 desselben enthalten, wenn sie im Begriffe sind, ihr Amt zu verrichten und sich von öffentlichen Geschäften zu beratschlagen; daß man nicht den Tag47 als eine Zeit, die zu anderen Verrichtungen bestimmt ist, und nicht eben die Nacht48, da man sich Kinder zu zeugen vornimmt, dazu anwenden soll.

Man sagt, der Philosoph Stilpo habe, als ihm ein hohes Alter zur Last wurde, vorsätzlich sein Ende damit49 beschleunigt, daß er den Wein lauter getrunken. Eben diese Ursache, richtete auch die durchs Alter niedergeschlagene Kräfte des Philosophen Arcesilaus, aber wider seinen Vorsatz50, vollends zu Grunde. Allein es ist eine alte und lustige Frage, ob die Seele des Weisen von der Kraft des Weines überwunden werden kann,

Si munitae adhibet vim sapientiae51.

Zu was für Eitelkeit verleitet uns nicht die gute Meinung, die wir von uns haben? Die allerordentlichste und vollkommenste Seele von der Welt hat nur allzuviel zu tun, wenn sie sich aufrecht erhalten und in acht nehmen will, daß sie nicht aus eigener Schwachheit niederfällt. Unter tausenden ist nicht eine, die nur einen Augenblick ihres Lebens gerade und feste steht; und es ist ungewiß, ob sie es wegen ihrer natürlichen Beschaffenheit jemals so weit bringen kann. Die Beständigkeit ist ihre größte Vollkommenheit: ich meine, wenn sie von außen keinen Anstoß hat, den sie gleichwohl von tausend Zufällen zu erwarten hat. Lukrez, dieser große Poet, mag noch so schön philosophieren, und sich noch so sehr stemmen: deswegen wird er doch durch einen Liebestrunk unsinnig gemacht. Glaubt man denn, daß ein Schlagfluß den Sokrates nicht so gut, als einen Lastträger betäuben kann? Einige haben durch eine heftige Krankheit sogar ihren Namen vergessen; und andere hat eine geringe Wunde des Verstandes beraubt. Es mag einer so weise sein, als er will, so ist er doch noch ein Mensch. Was kann hinfälliger, elender und nichtiger sein? Die Weisheit hebt unsere natürliche Umstände nicht auf:

Sudores itaque et pallorem exsistere toto

Corpore, et infringi linguam, vocemque aboriri,

Caligare oculos, sonare aures, succidere artus,

Denique concidere ex animi terrore videmus52.

Der Weise blinkt ebenso wohl mit den Augen, wenn ihm ein Streich droht. Er wird so gut als ein Kind mit Schauer befallen, wenn er sich an der Spitze einer steilen Höhe befindet. Die Natur hat sich diese kleinen Merkmale, die weder Vernunft noch stoische Tugend überwinden können, als Zeichen ihrer Macht über uns vorbehalten wollen, uns unsere Sterblichkeit und Torheit zu lehren. Er erblasst für Furcht, errötet aus Scham, und seufzt in der Kolik, wo nicht mit einer verzweifelnden und lauten Stimme, doch wenigstens mit einem gebrochenen und heisern Tone.

Humani a se nihil alienum putet53.

Die Poeten, welche nach eigenem Gefallen dichten dürfen, was sie wollen, unterstehen sich nicht einmal, ihre Helden der Tränen zu entledigen:

Sic fatur lacrymans, classique immittit habenas54.

Es ist genug für den Weisen, wenn er seine Neigungen im Zaume hält und mäßigt, denn sie völlig zu beherrschen steht nicht in seinen Kräften. Unser Plutarch selber, dieser so vollkommene und vortreffliche Richter der menschlichen Handlungen, gerät, wenn er den Brutus und Torquatos ihre eigene Kinder umbringen sieht55, in Zweifel, ob die Tugend so weit gehen könne; und ob diese Leute nicht vielmehr durch eine andere Leidenschaft angetrieben worden. Alle Handlungen, welche die ordentlichen Grenzen überschreiten, sind einer üblen Auslegung unterworfen: weil sich unser Geschmack sowenig zu dem, was über ihm ist, als zu dem was unter ihm ist, schickt.

Doch wir wollen diese Sekte fahren lassen56, die sich besonders eine gewisse Kühnheit angelegen sein läßt. Allein wenn wir selbst unter der anderen Sekte, die man für die weichlichste gehalten hat57, die großprecherischen Worte des Metrodorus hören58: Occupavi te, Fortuna, atque cepi: omnesque aditus tuos interclusi, ut ad me adspirare non posses; wenn Anaxarch, als er auf Nikokreons, des Tyrannen in Zypern Befehl, in einem steinernen Mörsel mit eisernen Keulen zu Tode geschmissen wird, und doch beständig sagt59: Stoßt immer zu, schlagt immer entzwei: ihr zerstoßt den Anaxarch nicht, sondern seine Schale; wenn wir unsere Märtyrer den Tyrannen mitten aus dem Feuer zurufen hören60: Es ist genug auf dieser Seite gebraten, haue sie ab, friß sie, sie ist gar, fang an der anderen an; wenn wir im Josephus61 das Kind, welches Antiochus mit Zangen zerreißen und mit Pfriemen durchbohren läßt, ihm noch Trotz bieten, und mit einer standhaften und gesetzten Stimme schreien hören: »Tyrann! du bemühst dich umsonst, ich befinde mich noch immer wohl. Wo ist der Schmerz, wo sind die Martern, womit du mir drohst? Kannst du nichts als dies? Meine Beständigkeit macht dir größere Pein, als ich von deiner Grausamkeit empfinde: Feige Memme, du gibst dich, und ich werde stärker. Mache, daß ich mich beklage; mache, daß ich mich beugen lasse, mache, daß ich mich gebe, wenn du kannst. Sprich deinen Trabanten und deinen Henkersknechten Mut zu: Siehe nur der Mut entfällt ihnen, sie können nicht mehr, treibe sie an, mache sie hitzig.« - hier muß man gewißlich bekennen, daß sich in diesen Seelen eine gewisse Veränderung und eine gewisse Wut zeigt, so heilig sie auch ist. Wenn wir auf die Einfälle der Stoiker kommen: Ich will lieber rasend als wollüstig sein, wie Antisthenes sagte62 (Μανείην μᾶλλον ἢ ἡσθείην); wenn Sextius spricht, er wollte lieber vom Schmerz als von der Wollust gefesselt sein; wenn Epikur sich unterfängt, sich von dem Zipperlein liebkosen zu lassen, und Ruhe und Gesundheit ausschlägt, weil er mit frischem Herzen dem Ungemach Trotz bietet; wenn er geringere Schmerzen verachtet, und sich nicht die Mühe nimmt mit ihnen zu kämpfen und zu streiten, sondern stärkere, empfindlichere, und die seiner würdig sind, auffordert und verlangt -

Are sens