So sieht man einen Bach dahin sich gießen,
und eine Welle nach der anderen fließen.
Und all in ihrer Reih und all in ew'gem Zug
schlägt eine nach, wie eine vor ihr schlug:
Von der wird jene angeregt,
die eine andre fortbewegt.
So gehet Wog' in Wog', und immer bleibt der Bach,
nur andre Wogen fließen und andre kommen nach262.
Es kostet mehr, die Auslegung auszulegen als die Sache selbst, und es gibt mehr Bücher über Bücher als über irgendeinen anderen Gegenstand. Wir machen nichts als Anmerkungen übereinander. Alles wimmelt von Kommentaren. An Originalautoren ist großer Mangel. Die vornehmste und berühmteste Wissenschaft unserer Zeit besteht darin, die Wissenschaft zu verstehen? Das ist der größte und letzte Zweck alles unseres Studierens? Unsere Meinungen werden eine auf die andere gepfropft. Die erste dient der zweiten zum Wildlinge, die zweite der dritten. Auf diese Weise klettern wir die Leiter hinauf von Sprosse zu Sprosse. Daher kommt es, daß der am höchsten Gestiegene oft mehr Ehre hat als Verdienst, denn er ist nur um ein Getreidekorn höher, auf den Schultern des Vorletztgestiegenen. Wie oft und vielleicht wie einfältig habe ich mein Buch von sich selbst sprechen gehört! Einfältig, wenn auch bloß deswegen, daß ich mich hätte erinnern sollen, was ich von anderen sage, welche desgleichen tun! Daß die häufigen Zurückblicke auf ihre Werke davon zeugen, wie ihnen das Herz von Autorliebe klopft, und daß selbst die hochfahrende verächtliche Strenge, womit sie solches züchtigen, weiter nichts ist als Ziererei und angenommene Miene, wohinter sie die mütterliche Zärtlichkeit verstecken wollen, wie schon Aristoteles bemerkt, daß Eigenlob und Eigentadel oft Kinder gleichen Hochmutes sind. Denn meine Entschuldigung, daß ich hierin mehr Freiheit haben müsse als andre, weil ich ja ausdrücklich über mich selbst schreibe und meiner Schriften wie meiner anderen Handlungen erwähnen muß, und daß mein Thema sich mit sich selbst beschäftigt, wird mir wohl nicht jedermann zustatten kommen lassen.
Ich habe in Deutschland gesehen, daß Luther ebenso viel und mehr Streit und Zank über den richtigen Verstand seiner Meinungen hinterlassen hat, als er selbst über die Heilige Schrift erregte. Unser Mißverständnis beruht auf Worten. Ich frage: Was ist Natur, Wollust, Zirkel und Substitution? Die Frage ist von Worten und wird mit Worten berichtigt. Ein Stein ist ein Körper. Fragt man weiter: Was ist ein Körper? Eine Substanz. Und was ist Substanz? So läßt sich immer weiter fragen, bis endlich der Erklärer sein ganzes Wörterbuch ausgekramt hätte. Man vertauscht ein Wort gegen das andere und oft ein unbekanntes gegen ein bekanntes. Ich weiß besser, was ein Mensch, als was ein sterbliches, aber vernünftiges Tier ist. Um einen meiner Zweifel aufzulösen, werfen sie mir drei andre vor. Das ist das Haupt der Hyder. Sokrates fragte den Menon263: »Was ist die Tugend?« »Es gibt«, antwortete Menon, »eine Tugend des Mannes und des Weibes, des Magistrats und des einzelnen Bürgers, des Kindes und des Greises.« »Bravo!« rief Sokrates. »Wir wollten eine Tugend suchen, und du gibst uns einen ganzen Schwarm.« Wir werfen eine Frage auf, und man gibt uns einen ganzen Bienenkorb voll zurück. So wie keine Begebenheit und keine Form völlig der anderen gleich ist, so ist auch keine der anderen völlig ungleich. Ein sehr weises Gemisch der Natur. Wenn unsere Gesichter einander nicht ähnelten, so könnte man den Menschen nicht vom Tiere unterscheiden; wenn sie nicht voneinander unterschieden wären, könnte man einen Menschen von dem anderen nicht auskennen. Alle Dinge halten durch irgendeine Ähnlichkeit aneinander. Jedes Gleichnis hinkt. Und die Beziehung, welche man aus der Erfahrung herleitet, ist immer schwach und unvollkommen. Indessen knüpft immer die Vergleichung dieses oder jenes Ende zusammen. So macht man es mit den Gesetzen. Man wendet sie auf jede Sache an, durch irgendeine weithergesuchte, gezwungene und gedrehte Erklärung.
Weil die moralischen Gesetze, welche Bezug auf die besonderen Pflichten eines jeden Menschen für sich selbst haben, so schwer festzusetzen sind, wie wir erfahren, so ist es kein Wunder, wenn es diejenigen, nach welchen sich so viele gegeneinander richten sollen, noch mehr sind. Man betrachte nur die Form der Gerechtigkeit, welche über uns waltet. Ist sie nicht ein klarer Beweis von der menschlichen Verstandesschwäche? So viel Widerspruch und Irrtümer findet man darin! Alles, was wir Günstiges und Strenges in unserer Rechtspflege finden (und dessen findet sich darin so viel, daß ich nicht weiß, ob sich ebensooft ein Mittelweg zwischen beiden findet), das sind kranke Teile und ungerechte Gliedmaßen des wirklichen Körpers und Wesens der Gerechtigkeit. Da kommen Bauern, mir in aller Eile zu berichten, daß sie in einem Wald, der mir gehört, einen Menschen liegen gefunden, dem man hundert Stiche gegeben, der noch lebt und der sie um aller Barmherzigkeit willen gebeten hat, ihm etwas Wasser zu reichen und ihm zu helfen sich aufzurichten. Sie sagen dabei, sie hätten gefürchtet, sich ihm zu nähern, und seien davongelaufen, damit sie nicht von Gerichtsdienern überrascht werden möchten und, wenn sie bei einem erschlagenen Menschen angetroffen würden, wie zu geschehen pflegt, in Verhaft und zur Antwort gezogen würden, welches ihr größtes Unglück gewesen wäre, weil sie weder Geschicklichkeit noch Geld hätten, ihre Unschuld zu verteidigen. Was sollte ich ihnen sagen? So viel ist gewiß, diese Pflicht der Menschlichkeit hätte sie in große Verlegenheit gesetzt.
Von wieviel Unschuldigen hat sich's nicht nachher ergeben, daß sie Strafe erlitten, und zwar ohne alle Schuld der Richter? Und mit wie vielen mag das nicht der Fall sein, von denen wir solches nicht erfahren haben? Folgendes geschah zu meiner Zeit. Gewisse Menschen wurden wegen eines Mordes zum Tode verdammt. Das Urteil ward, wo nicht gesprochen, doch wenigstens beschlossen und angegeben. Gerade um diese Zeit erfuhren die Richter von einer anderen benachbarten niedern Gerichtsbarkeit, daß solche einige Verbrecher eingezogen habe, welche sich zu jenem Mord frei bekannten und über die ganze Sache ein unbezweifelbares Licht verbreiteten. Man ging darauf zu Rate, ob man gleichwohl die Vollziehung des Urteils über die ersten aufschieben dürfte? Man erwog die Neuheit des Beispiels und was es für Folgen haben könne, künftige Urteilssprüche zu verzögern; die Verurteilung sei doch nach aller Form Rechtens geschehen und die Richter hätten sich nichts vorzuwerfen. Kurz, jene armen Schlucker wurden den Formeln der Rechtspflege aufgeopfert. Philipp oder ein anderer beugte dergleichen Unfällen folgendermaßen vor. Er hatte durch einen gefällten Spruch einen Menschen verurteilt, einem anderen eine große Geldbuße zu bezahlen. Einige Zeit nachher entdeckte sich die Wahrheit, daß er ungerecht gerichtet hatte. Auf einer Seite stand die gute Sache, auf der anderen die gerichtliche Form. Er befriedigte allerdings beide, indem er den Spruch gültig bleiben ließ und aus seinem Beutel den Verurteilten schadlos hielt. Aber in diesem Falle war Ersatz möglich. Meine armen Teufel hingegen wurden unwiderruflich gehängt. Wie viele Urteile habe ich erlebt, die weit sträflicher waren als das Verbrechen! Alles dieses erinnert mich an jene Meinung der Alten: man sei gezwungen, alles einzeln abzutun, wenn man im Ganzen recht verfahren, und im Kleinen Unrecht zu begehen, wenn man das Recht im Großen handhaben wolle. Die menschliche Justizpflege sei nach dem Muster der Arzneikunde gebildet, vermöge dessen alles, was nützlich ist, auch gerecht und billig wird. So lehren die Stoiker: Die Natur verstoße sich in den meisten ihrer Werke gegen die Gerechtigkeit. So lehren die Cyrenaiker: Nichts sei an und für sich gerecht, nur Gewohnheit und Gesetze erschüfen das Recht. Die Theodorier meinen: Diebstahl, Kirchenraub und alle Arten von Sünden des Fleisches seien für den Weisen kein Unrecht, wenn er überzeugt wäre, daß sie ihm zum Nutzen gereichten. Ich kann mir nicht helfen. Ich denke hierin wie Alcibiades, daß ich mich niemals, solange ich es vermeiden kann, dem Mann in die Hände liefern werde, welcher über mein Leben absprechen kann, vor welchem meine Ehre und meine Güter mehr von der Kunst und Tätigkeit meines Sachwalters als von meiner Unschuld abhängen. Ich würde einem Gerichtshof mehr trauen, welcher ebensowohl über Guttun als über Mißtun erkennt; wo ich ebenso viel zu hoffen als zu fürchten hätte. Straflosigkeit ist keine hinlängliche Zahlung für einen Menschen, der besser tut als nicht sündigen. Unsere Gerechtigkeitspflege reicht uns nur eine von ihren Händen dar, und obendrein die linke. Man sei, wer man wolle, ohne Verlust kommt man von ihr nicht ab.
In China, einem Reich, dessen Einrichtungen und Künste, ohne daß es Umgang mit uns hätte und ohne daß es die unsrigen kennte, uns gleichwohl in manchen Stücken bei weitem übertreffen und dessen Geschichte mich belehrt, wieviel die Welt größer und mannigfaltiger ist, als weder die Alten noch wir begriffen haben, schickt der Kaiser Reichsbediente in die Provinzen, um den Zustand derselben zu untersuchen. Diese Beamten, wie sie diejenigen strafen, welche sich in ihren Stellen schlecht betragen, belohnen sie auch freigebig diejenigen, welche sich gut betragen und mehr geleistet haben, als sie nach ihren Zwangspflichten schuldig sind. Vor diese Deputierten stellt man sich, nicht bloß um sich zu verteidigen, sondern um zu gewinnen, nicht bloß um bezahlt, sondern auch von ihnen beschenkt zu werden.
Noch hat, Gott sei Dank, kein Richter mit mir als Richter gesprochen, in keiner gerichtlichen Angelegenheit, weder meiner eigenen noch eines Fremden, weder in einer Kriminal- noch Zivilsache. Noch bin ich in keinem Gefängnis gewesen, nicht einmal um es zu besehen. Meine Einbildung macht mir den bloßen Anblick desselben schon von außen unangenehm. Mir ist meine Freiheit so notwendig, daß, wenn mir jemand verböte, ich sollte mich irgendeinem kleinen Winkel in Ostindien nicht nahen, ich dadurch gewissermaßen ein trauriges Leben führen würde; und solange ich noch ein Plätzchen Erde oder freie Luft anderwärts finde, werde ich an keinem Ort schmachten, wo ich mich verbergen müßte. Mein Gott, wie unerträglich würde mir der Zustand sein, worin ich so viele Leute sehe, welche in einen Teil dieses Königreichs gebannt sind, denen der Eingang in die Hauptstädte und Hofstellen und das Befahren öffentlicher Heerstraßen verboten worden, weil sie unseren Gesetzen nicht gehorsam waren. Wenn diejenigen Gesetze, unter denen ich lebe, mir nur mit der Spitze des kleinen Fingers drohten, den Augenblick ginge ich hin, um unter anderen zu stehen, es möchte auch sein, wo es wollte. Alle meine wenige Klugheit bei diesen bürgerlichen Kriegen, worin wir uns befinden, wende ich dahin an, daß sie mir die Freiheit, zu gehen und zu kommen, wie ich will, nicht unterbrechen mögen.
Nun erhalten sich aber die Gesetze in Ansehen, nicht weil sie gerecht sind, sondern weil sie Gesetze sind. Das ist der mystische Grund ihres Ansehens. Einen anderen haben sie nicht, worauf sie ruhten. Sehr oft rühren sie her von Dummköpfen; öfters von Leuten, die, weil sie die Gleichheit hassen, auch keine Billigkeit kennen; aber immer von Menschen, welche eitel und unzuverlässig sind. Schwerlich wird man etwas so Gröbliches und schwer Fehlerhaftes sehen, als die Gesetze gewöhnlich sind. Wer ihnen nur darum gehorchen wollte, weil sie gerecht wären, würde ihnen nicht wegen seiner Pflicht gehorchen. Unsere französischen Gesetze bieten gewissermaßen der Unordnung und der Bestechung, welche bei der Anwendung und Ausübung stattfinden, die Hand. Ihre Gebote sind so dunkel und unsicher, daß sie einigermaßen den Ungehorsam und die fehlerhafte Auslegung, Anwendung und Ausübung entschuldigen. Worin also der Nutzen bestehen mag, den wir aus der Erfahrung ziehen können, so wird uns derjenige, den wir aus fremden Beispielen herleiten, wenig zustatten kommen, da wir uns durch uns selbst sogar nicht frommen, wie es uns doch geläufig sein und hinreichen sollte, uns von allem zu unterrichten, dessen wir bedürfen. Ich studiere mich selbst mehr als jeden anderen Gegenstand. Ich bin meine Metaphysik und Physik:
Qua Deus hanc mundi temperet arte domum;
Qua venit exoriens, qua deficit, unde coactis
Cornibus in plenum menstrua luna redit;
Unde salo superant venti, quid flamine captet
Eurus, et in nubes unde perennis aqua;
Sit ventura dies, mundi quae subruat arces264.
Quaerite, quos agitat mundi labor265.
Auf dieser Universität lasse ich mich als ein unwissender und unwiderstrebender Mensch für das allgemeine Gesetz der Welt zuziehen. Ich erkenne solches hinlänglich, wenn ich es fühle. Mein Wissen kann seinen Weg nicht verändern. Es wird sich aus Liebe zu mir nicht vervielfachen. Torheit wäre es, das zu hoffen, und noch größere Torheit, sich darüber zu kümmern. Denn es muß notwendigerweise gleich, öffentlich und allgemein sein. Die Güte und Kraft des Regenten muß uns rein und völlig der Sorge für die Regierung entschlagen. Das Dichten und Trachten der Philosophie kann zu weiter nichts dienen als zur Nahrung für unsere Wißbegierde. Die Philosophen haben groß recht, uns auf die Vorschriften der Natur zurückzuführen. Aber sie selbst verstehen sich schlecht auf diese erhabene Kunde. Sie verfälschen solche und zeigen uns ihr bemaltes Gesicht geschmückt und verstellt, woraus denn so viele verschiedene Schildereien des nämlichen Gegenstandes entstehen. So wie uns die Natur Füße zum Gehen gegeben hat, muß sie auch Klugheit besitzen, um uns durch das Leben zu leiten. Aber freilich keine so feine, vierschrötige, aufgeblasene Klugheit, als die Philosophen erfinden, sondern verhältnismäßig, leicht, ruhig und heilsam. So entspricht sie demjenigen, was man von ihr rühmt, wenn jemand das Glück hat, solche ohne Spitzfindigkeit und ordentlich anzuwenden, das heißt natürlich, sich der Natur auf die einfältigste Weise überlassen, heißt, sich ihr auf die weiseste Art überlassen. O welch ein weiches, sanftes, gesundes Kissen ist die Unwissenheit und Unneugierigkeit, um einen wohlgeordneten Kopf darauf zu ruhen! Lieber möchte ich mich selbst recht verstehen als den Cicero. Die Erfahrung, welche ich an mir selbst habe, genügt mir, um weise zu werden, wenn ich nur ein guter Schüler wäre. Wer die Ausschweifung seines vergangenen Zorns seinem Gedächtnis anvertraut, und das Übermaß, wozu ihn dieses Fieber trieb, sieht hierin die Häßlichkeit dieser Leidenschaft besser als im Aristoteles und faßt einen viel gerechteren Widerwillen dagegen. Wer sich der Übel erinnert, die er sich zugezogen hat, die ihn bedrohten, der leichten Anlässe, welche ihn aus einer Lage in die andere versetzten, bereitet sich dadurch auf künftige Glückswechsel und auf die richtige Beurteilung seiner Lage. Das Leben Cäsars gewährt uns nicht mehr Beispiel als unser eigenes. Das Leben eines Herrschers ist wie das Leben eines Untertans, ein Leben, welches allem menschlichen Glückswechsel ausgesetzt ist. Laßt uns nur darauf merken. Wir sagen uns alles, wessen wir hauptsächlich bedürfen. Wer sich erinnert, wie oft er sich in seinem eigenen Urteil verrechnet hat, ist der nicht ein Tor, wenn er nicht beständig gegen dasselbe mißtrauisch bleibt? Wenn mich das Urteil anderer überzeugt, daß ich in einer falschen Meinung schwebte, so lerne ich nicht sowohl das Neue, was man mir sagt und die Erkenntnis einer besondern Unwissenheit (denn selbst die Erkenntnis einer besondern Unwissenheit wäre noch kein großer Erwerb) als vielmehr überhaupt meine Schwachheit und die Trüglichkeit meines Verstandes, und daraus folgere ich die Verbesserung des Ganzen. Bei allen meinen übrigen Irrtümern tue ich dasselbe und ziehe aus dieser Regel einen großen Vorteil für mein Leben. Den einzelnen Fall und Menschen betrachte ich nicht als einen Stein, über den ich gestolpert bin, sondern lerne daraus, meinen Gang überhaupt vorsichtiger einrichten und aufmerksamer gehen. Einsehen, daß man eine Narrheit getan oder gesagt habe, will wenig sagen. Man muß lernen, daß man ein Dummkopf ist; eine weit triftigere und wichtigere Lehre. Die falschen Schritte, welche mich mein Gedächtnis oft hat tun lassen, selbst dann, wenn es sich am meisten traute, sind nicht unnützerweise verloren. Es mag mir jetzt seine Zuversichtlichkeit noch so sehr beteuern, so schüttle ich dennoch die Ohren. Das erste, das beste, was man seinem Zeugnis entgegensetzt, macht mich zweifelhaft, und ich wage nicht mehr, über irgendeine wichtige Sache oder über irgendeine fremde Handlung, ihm Glauben beizumessen. Und täten, was ich aus Mangel des Gedächtnisses tue, andere nicht noch öfter aus Mangel an Treue und Glauben, so würde ich über eine Tatsache jedem fremden Munde mehr Wahrheit zutrauen als meinem eigenen. Wenn jedermann auf die Wirkungen und Verhältnisse der Leidenschaften, welche ihn beherrschen, so genau achtgäbe, wie ich auf diejenigen, in welche ich verfiel, so würde er sie von ferne kommen sehen und ihre Heftigkeit und ihren Anlauf ein wenig mäßigen. Sie fallen uns nicht immer unversehens über den Hals. Sie haben ihre Anmeldungen und ihre Stufen:
Fluctus uti primo coepit cum albescere vento,
Paulatim sese tollit mare, et altius undas
Erigit, inde imo consurgit ad aethera fundo266.
Die Urteilskraft hat bei mir ihren obrigkeitlichen Stuhl, wenigstens strebt sie sorgfältig danach. Sie läßt meine Begierden ihren Gang gehen, meinen Haß und meine Freundschaft, sogar diejenigen, welche ich gegen mich selbst hege, ohne sich deswegen zu verändern und zu verschlimmern. Kann sie meine übrigen Bestandteile nicht nach sich verändern, so läßt sie sich wenigstens durch solche nicht entstellen. Sie spielt ihr eigenes Spiel. Die Weisung, daß jeder sich selbst kennenlernen soll, muß von großem Gewicht sein, weil der Gott aller Kenntnis und alles Lichtes solche über dem Eingange seines Tempels eingraben ließ, als ein Wort, welches alles in sich begreife, was er uns zu raten habe. Auch sagt Plato, daß die Klugheit nichts anderes sei als die Befolgung dieser Vorschrift; und Sokrates bekräftigt solches beim Xenophon durch einzelne Beispiele. Dunkelheiten und Schwierigkeiten jeder Wissenschaften werden dann erst bemerkbar, wenn man zu derselben Zutritt gewinnt. Denn es gehört doch immer ein gewisser Grad von Einsicht dazu, um wahrzunehmen, daß man nichts wisse; und man muß an eine Tür geklopft haben, um zu erkennen, daß selbige verschlossen sei. Daher entsteht die Platonische Spitzfindigkeit: derjenige, welcher wisse, dürfe nicht fragen, weil er wisse; derjenige aber, welcher nicht wisse, dürfe nicht fragen, weil er, um fragen zu können, zuvor wissen müsse, wonach er zu fragen habe. Ebenso geht es mit der Selbstkenntnis. Damit ist jedermann fertig und im reinen, darauf glaubt sich jedermann hinlänglich zu verstehen und beweist eben dadurch, wie Sokrates den Euthydemus belehrte, daß er nichts davon versteht. Ich, da ich keine andere Profession treibe, finde diese so unergründlich und mannigfaltig, daß alles mein Lernen mir keinen anderen Nutzen bringt, als daß es mir fühlbar macht, wieviel ich noch zu lernen habe. Meiner oft eingestandenen Schwachheit verdanke ich meinen Hang zur Bescheidenheit, zum Gehorsam gegen den Glauben, welcher mir vorgeschrieben ist, zu einer beständigen Kaltblütigkeit und Mäßigung der Meinung und den Haß der beschwerlichen zänkischen Hoffart, welche sich alles glaubt, auf sich allein vertraut und mit aller Zucht und Wahrheit in ewiger Feindschaft steht. Man höre nur, wie herrisch ihre Anhänger sich äußern. Ihre ärgsten Torheiten tragen sie in der Sprache der Religionen und Gesetze vor: Nihil est turpius, quam cognitioni et perceptioni assertionem approbationemque praecurrere267. Aristarch sagte, daß man vor alters kaum sieben Weise in der Welt habe auffinden können und daß man zu seiner Zeit kaum sieben Unwissende antreffen würde. Hätten wir in unseren Tagen nicht mehr Recht, dasselbe zu sagen, als er? Eigensinn und halsstarriges Behaupten sind ausdrückliche Zeichen der Dummheit. Da ist ein Mensch in einem Tage hundertmal auf die Nase gefallen und besteht ebenso steifsinnig und unverrückt auf seinen Sätzen als vorher. Man sollte sagen, man habe ihm seitdem eine neue Seele und Kraft des Verstandes eingetrichtert; oder es ergehe ihm wie ehemals dem Sohn der Erde, welcher durch jeden Hinsturz neue Kräfte und größere Stärke gewann:
Cui cum tetigere parentem,
Jam defecta vigent renovato robore membra268.
Scheint es nicht, als ob der Steifkopf meint, er nehme einen neuen Geist auf, wenn er einen neuen Wortkampf aufnimmt? Es geschieht aus eigener Erfahrung, daß ich die menschliche Unwissenheit anklage. Sie ist nach meiner Meinung das Zuverlässigste, was man in der Schule der Welt kennenlernt. Diejenigen, welche aus einem so unbedeutenden Beispiele als das meinige, oder das ihrige, nicht an sich kommen lassen wollen, mögen solche am Sokrates, dem Meister aller Meister, erkennen. Denn der Philosoph Antisthenes sagte zu seinen Schülern: Kommt mit mir, den Sokrates zu hören; bei dem bin ich so gut Schüler wie ihr. Und indem er den Lehrsatz der stoischen Sekte behauptete, daß die Tugend allein hinreiche, ein Leben durchaus glücklich zu machen, und nichts bedürfe, fügte er hinzu: als die Stärke des Sokrates. Diese anhaltende Aufmerksamkeit, womit ich mich selbst betrachte, hat mich auch so ziemlich fähig gemacht, nicht ganz übel von anderen zu urteilen; und es gibt wenige Dinge, von denen ich glücklicher und erträglicher zu reden weiß. Es begegnet mir oft, daß ich die Gemütsfassung meiner Freunde genauer einsehe und unterscheide als sie selbst. Ich habe einige durch meine richtige Schilderung derselben in Verwunderung gesetzt und aufmerksam auf sich selbst gemacht. Weil ich mich von Kindesbeinen gewöhnt habe, mein Leben in anderen zu spiegeln, habe ich darin eine gelehrte Fertigkeit erlangt. Und die Wahrheit zu gestehen, lasse ich nichts dergleichen, Gesichtszüge, Launen und Ausdrücke, unbemerkt bei mir vorüberschlüpfen. Ich studiere alles, was ich zu vermeiden und was ich nachzuahmen habe. Also auch entdecke ich meinen Freunden durch ihr Tun und Lassen ihre innigsten Neigungen, bringe die unendliche Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit der Handlungen unter gewisse Kapitel, und mache Abteilungen und Unterabteilungen, nach bekannten Ordnungen und Gattungen:
Sed neque quam multae species, et nomina quae sint,
Est numerus269.
Die Gelehrten sprechen und bezeichnen ihre Phantasien genauer und im einzelnen. Ich aber, der ich nicht weiter sehe, als was mir der Gebrauch an die Hand gibt, ich lege die meinigen im ganzen dar und wie sie mir aufstoßen. So verfahre ich auch in diesem Buche. Ich fälle mein Urteil in getrennten Sätzen. Ich weiß nicht alles auf einmal in Bausch und Bogen zu sagen. Zusammenhang und Gleichförmigkeit finden sich nicht bei so gemeinen Alltagsseelen wie die unsrigen. Die Weisheit ist ein festes, ganzes Gebäude, in welchem jedes Stück seinen gehörigen Platz und seine eigene Nummer hat: sola sapientia in se tota conversa est270. Ich überlasse es den Künstlern und weiß nicht, ob sie mit einer so mannigfaltigen kleinlich-verschiedenen und zufälligen Sache zustande kommen werden, die unendliche Verschiedenheit an Gesichtern aufzuschichten, unserer Unbeständigkeit Einhalt zu tun und sie in feste Ordnung zu bringen. Ich finde es nicht nur schwer, unsere Handlungen aneinanderzureihen; sondern ich finde es auch schwer, eine jede für sich selbst durch eine Haupteigenschaft zu bezeichnen. So zweideutig und vielfarbig erscheinen sie in verschiedenem Lichte. Was man an dem Könige Perseus von Mazedonien als etwas Seltenes bemerkt, daß sich sein Geist nie an etwas Gewisses binden ließ, sondern eine jede Lebensart durchirrte, und so abweichende, unbeständige Sitten zeigte, daß weder andere noch er selbst wußten, was für ein Mensch er wäre, das dünkt mich ungefähr auf die ganze Welt zu passen. Besonders kenne ich einen seines Zuschnittes, von welchem sich das, wie ich glaube, noch viel eigentlicher sagen ließe; der keine Mittelstraße kannte, immer von einem Extrem zum anderen überging, durch Veranlassungen, die sich nicht erraten ließen; keinen Weg einschlug, ohne wunderlich davon abzuschweifen und ihm entgegenzulaufen; keine Eigenschaft besaß, von der sich nicht das Widerspiel bei ihm gefunden hätte, so daß das Wahrscheinlichste, was man eines Tags von ihm wird denken können, darin besteht: er affektierte und studierte, sich bekannt zu machen, um nie kennbar zu werden. Man muß ein gutes Gehör haben, um sich freimütig beurteilen zu hören. Und weil das wenige leiden können, ohne empfindlich zu werden, so beweisen diejenigen, welche solches Wagestück gegen uns unternehmen, einen sonderbaren Freundschaftstrieb. Denn es heißt wirklich Liebe zeigen, wenn man unternimmt, jemanden zu beleidigen und zu verwunden, um ihn zu bessern! Ich finde es hart, jemanden zu beurteilen, bei welchem die schlimmen Eigenschaften die guten übertreffen. Plato schreibt demjenigen, welcher die Seele eines anderen untersuchen will, dreierlei Eigenschaften vor: Verstand, Wohlwollen und Dreistigkeit.
Zuweilen fragte man mich: wozu ich wohl dächte tauglich gewesen zu sein, wiefern jemand bedacht gewesen, sich meiner zu bedienen, während ich noch dazu in Jahren war?
Dum melior vires sanguis dabat, aemula necdum
Temporibus geminis canebat sparsa senectus271.
Zu nichts, erwiderte ich; und bedeute mich gern, daß ich zu nichts tauge, was mich einem anderen zum Sklaven macht. Aber ich hätte meinem Herrn seine Wahrheiten gesagt und seine Sitten beleuchtet, wenn er es gewollt hätte. Nicht im allgemeinen, durch Schulgeschwätz, worauf ich mich nicht verstehe und wodurch ich diejenigen, welche solches verstehen, keine wahre Besserung hervorbringen sehe; sondern indem ich solche bei jeder Gelegenheit Schritt für Schritt beobachtet und Stück für Stück einfach und natürlich beurteilt hätte. Ich würde ihm gezeigt haben, wie er in der allgemeinen Meinung stände, und hätte mich seinen Schmeichlern widersetzt. Ich wüßte niemanden unter uns, der nicht weniger wert sein würde als die Könige, wenn er ebenso unaufhörlich von verworfenen Leuten verderbt würde wie sie. Konnte doch nicht einmal Alexander, dieser große König und Philosoph, sich davor beschützen. Ich hätte dazu Treue, Urteilskraft und Freimütigkeit genug besessen. Es wäre ein Amt ohne Titel; sonst verlöre es seine Wirkung und Wohlanständigkeit. Auch ist es eine Rolle, die nicht jedem ohne Unterschied aufgetragen werden kann. Denn die Wahrheit selbst hat kein Vorrecht, zu jeder Stunde und bei allen Gelegenheiten gesagt zu werden. Ihre Anwendung, so edel sie ist, hat ihre Einschränkung und Grenzen. Wie die Welt beschaffen ist, ergibt sich's oft, daß man solche vors Ohr der Fürsten bringt, nicht nur ohne Nutzen, sondern auch mit Schaden, und zwar von Rechts wegen. Und wird man mich nie überreden, daß keine heilsame Vorstellung zur unrechten Zeit gemacht werden könne und daß der Vorteil der Sache nicht zuweilen dem Vorteile der Form nachstehen müsse.
Zu einem solchen Amte würde ich einen Menschen wählen, der mit seinen Glücksumständen zufrieden - Quod sit, esse velit; nihilque malit272 -, und in mittelmäßigem Range geboren wäre. Sonach würde er einerseits nicht fürchten, wenn es das Herz seines Herrn stark und kräftig angriffe, dadurch den Lauf seiner Beförderung zu unterbrechen, und andererseits durch diesen mittelmäßigen Rang desto besser imstande sein, mit allen Arten von Leuten Verkehr zu haben. Ich wollte ferner zu diesem Amt nur einen Mann. Denn, wenn man das Vorrecht einer so offenherzigen Vertraulichkeit auf viele erstreckte, so würde solches eine schädliche Unehrerbietigkeit erzeugen. Ja, auch diesem Mann würde ich die heiligste Treu des Stillschweigens auflegen.
Einem König ist nicht zu glauben, wenn er sich mit der Standhaftigkeit rühmt, womit er, seiner Ehre wegen, den Angriff des Feindes abwarten wolle, und doch, zu seinem Nutzen und seiner Besserung die freimütigen Reden eines Freundes nicht ertragen kann, die weiter nichts tun als seine Ohren berühren, da das übrige ihrer Wirkung in seinen eigenen Händen steht. Es ist aber kein Stand des Menschen, der der wahren und freien Vorstellung so dürftig wäre als der Stand der Fürsten. Sie führen ein öffentliches Leben und sollen die gute Meinung so vieler Zuschauer gewinnen. Weil man aber gewöhnt ist, ihnen alles zu verschweigen, und sie von ihrem Wege abführt, so finden sie sich, ohne es zu wissen, mit dem Hasse und Abscheu des Volkes beladen, und zwar oft durch Veranlassungen, die sie hätten vermeiden können, ohne selbst dabei einmal ihren Vergnügungen Eintrag zu tun, wenn man sie nur zu rechter Zeit gewarnt und aufgerichtet hätte. Gewöhnlich sind ihre Günstlinge mehr auf sich selbst bedacht als auf ihren Herrn. Und dabei befinden sie sich wohl; weil doch, die Wahrheit zu sagen, die meisten Pflichten der wahren Freundschaft gegen einen Fürsten schwer und gefährlich auszuüben sind, so daß dazu notwendigerweise nicht nur viel Abhänglichkeit und Freimütigkeit, sondern auch Mut erfordert wird.
Diese ganze Pastete meines Gekritzels ist endlich weiter nichts als ein Register der Versuche meines Lebens, welches der innern Gesundheit Beispiele genug an die Hand gibt, wenn man die Lehre daraus zieht, das Gegenteil zu tun. Was aber die körperliche Gesundheit betrifft, so kann niemand nützlichere Erfahrungen aufstellen als ich; da ich solche rein zeige, weder durch Kunst oder Meinung verderbt noch geschwächt. Die Erfahrung ist in Ansehung der Arzneikunde eigentlich der Hahn auf seinem eigenen Miste, wo ihr die Vernunft die Herrschaft einräumt. Tiberius sagte: jedermann, der dreißig Jahr gelebt habe, müsse selbst wissen, was ihm heilsam oder schädlich sei, und sich ohne Beistand des Arztes helfen können. Das konnte er vom Sokrates gelernt haben, welcher seinen Schülern riet, das Studium ihrer Gesundheit mit Sorgfalt und als ein Hauptstudium zu treiben, und hinzufügte, es sei unglaublich, daß ein Mensch von Verstand, der auf seine körperliche Bewegung, auf sein Essen und Trinken achtgäbe, nicht besser wissen sollte als jeder Arzt, was ihm gut oder schlecht bekomme. Daher behauptet auch die Heilkunde, sie habe von jeher die Erfahrung zum Prüfstein ihres Verfahrens gemacht. Also hatte Plato recht zu sagen, ein wahrer Arzt müßte notwendig erst alle Krankheiten, die er heilen wolle, selbst gehabt haben, und alle Zufälle und Umstände durchgegangen sein, welche seiner Beurteilung unterworfen werden. Es ist billig, daß er sich krätzig mache, wenn er die Krätze heilen will. Wirklich, nur einem solchen würde ich mich anvertrauen. Denn die anderen führen uns wie jener, welcher Meere, Klippen und Häfen auf den Tisch hinmalt, an welchem er sitzt, und das Modell eines Schiffchens in aller Sicherheit herumspazieren läßt. Bringt ihn zur wirklichen Tat, so weiß er nicht, mit welcher Hand er angreifen soll. Sie machen eine Beschreibung von unseren Krankheiten wie der öffentliche Ausrufer einer Stadt. Er bezeichnet ein verlornes Pferd oder einen Hund von solch und solcher Farbe, solch und solcher Größe, die Ohren so und so gestaltet; aber stellt ihm das Tier vor, so kennt er es doch nicht. Bei Gott, laß mir die Heilkunde eines Tages eine merkliche sichtbare Hilfe leisten, und man soll sehen, wie treu und ehrlich ich ausrufen werde: